Читать книгу Das Siegel des letzten Templers - Kai Kistenbrügger - Страница 4

(2) 13. Oktober 1307, irgendwo im Atlantik

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Fraubert de Montagnon stemmte sich gegen den starken Wind, der ihm unbarmherzig entgegenblies, als versuchte das Wetter persönlich, ihm Einhalt zu gebieten, ihn hier und jetzt in seine Schranken zu verweisen. Fraubert de Montagnon quittierte diesen Affront mit einem finsteren Blick, der aus dunklen Augen unter seinen buschigen, weißen Augenbrauen hervorfunkelte, herausfordernd, als würde zwischen ihm und der Natur ein unausgesprochener Dialog stattfinden. Ein Zwiegespräch zwischen einem einsamen, verzweifelten Mann und den Elementen. Es war ein Spiel mit dem Schicksal.

Nicht, dass er eine Wahl gehabt hätte.

Die Natur führte ihm vor Augen, was sie von seinem Unterfangen hielt. Angesichts der Unermesslichkeit der göttlichen Schöpfung war der Mensch schwach und machtlos. Die Naturgewalten bewiesen ihm die Nichtigkeit seiner eigenen Existenz, mit jeder Welle, mit jedem Aufheulen des Windes, der sich in der Takelage des stolzen Schiffes verbiss und erbarmungslos an ihrem einzigen Halt in der tosenden See zerrte. Fraubert schloss die Augen, als die Verzweiflung Überhand zu nehmen drohte. Es schmerzte tief in seiner Seele, wie ein Dorn, der ihm eine unglaubliche Pein bescherte, aber zu tief im verletzlichen Fleisch steckte, um ihn gefahrlos herausziehen zu können.

Er war nichts anderes als ein Wimpernschlag in der Ewigkeit der Zeit, ein Blatt im Wind, das sich weder sein Ziel, noch seinen Weg aussuchen konnte. Er war der Gnade einer höheren Macht ausgeliefert. Der Gnade seines allmächtigen Schöpfers. Fraubert de Montagnon war ein sehr gläubiger Mann. Er hatte sein Leben den Regeln Gottes gewidmet. Sein Glauben war stets sein Felsen in der Brandung gewesen, sein starker Anker bei jedem Sturm. In diesem Moment fühlte er sich allerdings verraten und verkauft. Der bittere Geschmack der Hilflosigkeit verursachte eine bleierne Übelkeit, die ausgehend von seinem Magen schleichend von seinem Körper Besitz ergriff. Er schluckte schwer. Leise murmelnd schickte er Stoßgebete gen Himmel, seine einzige verbliebene Möglichkeit, Gott gnädig zu stimmen, eine flehentliche, selbstquälerische Bitte, ihn nicht scheitern zu lassen.

Er wischte sich in einer wütenden, aber vergeblichen Geste die Gischt aus dem Gesicht. Der Regen peitschte fast waagerecht über das Vordeck und machte es schwierig, etwas zu erkennen. Lediglich das nasse Holz der Reling unter seinen von zahlreichen Kämpfen gezeichneten Händen hielt ihn aufrecht, war sein Halt, sein Draht zur Realität, zur schrecklichen, düsteren Wahrheit. Nicht nur am Himmel über ihm, sondern auch am ehemals strahlenden Horizont seines Ordens waren dunkle Unwetterwolken aufgezogen, und Fraubert konnte nicht sagen, ob sie diesen Sturm tatsächlich unbeschadet überstehen, oder als Schiffbrüchige an den Gestaden der Geschichte stranden würden.

Das Schiff ächzte und knarrte bedrohlich unter der Belastung der Wellen, wenn sie mit brachialer Gewalt gegen den hölzernen Kiel des Flaggschiffes schlugen. Die alte Galeone kämpfte tapfer gegen jede einzelne Welle, die Segel gerefft, nur um sich nach jedem Wellental einem weiteren Duell mit den Naturgewalten zu stellen. Fraubert machte sich allerdings keine Sorgen um das Schiff oder sein eigenes Leben, seine Gedanken galten allein ihrer kostbaren Fracht.

Traurig schüttelte Fraubert den Kopf. Wahrscheinlich kämpfte er einen vergeblichen Kampf für einen Orden, der längst im Sterben lag.

Dabei hatten sie fast 200 Jahre lang der Kirche treue Dienste geleistet, die Botschaft des Kreuzes in die Welt getragen und den Feinden der Kirche die Stirn geboten. Doch vergessen waren ihre Taten, der Ruhm der letzten Jahrhunderte. Sie waren verraten worden, von der Kirche selbst.

Die Warnung war noch rechtzeitig gekommen, allerdings war ihnen nicht viel Zeit verblieben, ihre Kostbarkeiten in Sicherheit zu bringen. 18 Schiffe waren es, die verzweifelt gegen die Unbill des aufgewühlten Meeres ankämpften, mit der heiligen Mission, die Grundlage ihres Wohlstandes und die Zukunft ihres Ordens vor dem gierigen Zugriff des französischen Königs zu schützen. Ihr Ziel war ungewiss, ebenso wie ihre Zukunft. Fraubert betete, dass ihr stolzer Orden die Anschuldigen und Demütigungen unbeschadet überstehen würde, aber tief in seinem Inneren, in einem Bereich seines Herzens, den er angstvoll ignorierte, dämmerte im Licht dieses Tages die unheilvolle Erkenntnis, dass sein Orden diesen Sturm nicht unbeschadet überstehen würde.

Dabei hatte sich dieser Tag angekündigt, Jahre im Voraus. Mit dem Fall ihrer letzten Bastion im Heiligen Land Anno 1291 waren viele Stimmen laut geworden, die ihre Existenzberechtigung anzweifelten und ihren Platz in der Welt in Frage stellten. Zu viele. Mit dem Krieg im Heiligen Land hatten sie ebenso ihre Existenzgrundlage verloren. Sie hatten versagt. Von ihren Feinden geschlagen, von den Herrschern ihrer Heimat angeklagt. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis auch die Kirche sich gegen ihren eigenen Orden stellen würde.

Doch auch das war nur ein Grund von vielen, der langsam zu ihrem Untergang geführt hatte. Der Orden war im Laufe seines Daseins zu einer mächtigen Institution herangewachsen, mit wirtschaftlichen Zentren in der ganzen bekannten Welt. Festungen, Klöster, Betriebe, die nicht nur für wirtschaftlichen Erfolg standen, sondern auch für Macht und Reichtum. Eine Machtfülle, die vielen weltlichen Herrschern ein Dorn im Auge war, und ein Vermögen, nach dem viele die Finger ausstreckten. Ihr stolzes Fundament drohte ihnen unter den Füßen wegzubrechen, angekratzt von Missgunst, Neid, Intrigen, sowie von dem bröckelnden Rückhalt durch die heilige Kirche.

Das Unwetter schien anzuziehen. Der Wind peitschte Regen und Wellen über das Deck und ertränkte die weißen Roben der stolzen Ritter und die braunen Umhänge der einfachen Seeleute in schwerem Seewasser. Fraubert konnte spüren, wie sich sein Gewand um seine Waden legte, nass und schwer, und ihn in seinem eisigen Griff gefangen hielt. Seine Männer kämpften verzweifelt darum, das Schiff sicher durch den Sturm zu manövrieren. Ihre Gesichter waren gezeichnet von den Strapazen der letzten Stunden. Verbissen erledigte jeder seine ihm zugeteilte Arbeit, ohne aufzublicken oder mehr Worte zu wechseln, als für ihre Aufgaben erforderlich war. Vielleicht war das Wetter auch ein Segen, es bewahrte sie davor, zu viele Gedanken an zurückliegende und längst verlorene Gefechte zu verschwenden.

In diesem Moment traf eine neue Welle das Schiff. Die Deckplanken unter Frauberts Füßen erbebten unter dem Einschlag, als sich die Galeone bedrohlich nach links neigte. Fraubert verlor seinen sicheren, erprobten Stand eines erfahrenen Seefahrers und stürzte schwer auf den hölzernen Boden des Vorderdecks. Schmerzhaft verzog er das Gesicht, als sich der Griff seines Schwertes in seine Seite bohrte. Für einen Moment raubte ihm der Sturz den Atem. Ein mühsam unterdrücktes Stöhnen entsprang seinen spröden Lippen.

Das Stöhnen erklang erneut, aber es wirkte fremd, wie von einer anderen Person. Er brauchte ein paar Sekunden, um zu erkennen, dass nicht er es war, dem dieses unterirdische, markerschütternde Geräusch entwich. Es war das Schiff selbst, das mit diesem Klang seinem unermesslichen Leiden Ausdruck verlieh.

Fraubert rappelte sich auf, als sich erschreckend langsam der Grund für dieses Klagen offenbarte. Mit einem erneuten, beinahe vorwurfsvollen Stöhnen, das aus dem Innersten des stolzen Schiffes zu dringen schien, begann sich der Mast des Hauptsegels unter der linksseitigen Belastung zu biegen. Fauchend rüttelte der Wind an der Takelage, als würde er seine Chance begreifen, ihre Notlage erkennen. Nach einer kurzen Schrecksekunde geschah das Unfassbare. Mit einem ohrenbetäubenden Knacken begann der Mast, kurz über dem Oberdeck einzureißen. Es begann mit einem schmalen Riss, der sich wie ein höhnisches Grinsen um den Mast ausbreitete, während die Holzfasern unter der Last der schweren Segel zersplitterten. Wie in Zeitlupe kippte der Mast nach links weg und riss die Segel mit sich. Er schlug schwer auf dem Deck auf. Planken barsten und Holzsplitter regneten auf die Matrosen nieder, als das Ende des langen Mastes im tosenden Meer verschwand. Schwer angeschlagen kippte das Schiff auf Schlagseite und verharrte in dieser Position in seinem Todeskampf, während die Wellen weiter am Rumpf zerrten und gierig versuchten, ihre Beute nach unten zu ziehen.

Um Fraubert herum begann das Chaos. Schreie schollen zu seiner Position herauf, kurze gebellte Befehle. Sie kämpften nicht mehr nur mit dem Sturm, jetzt kämpften sie um ihr aller Leben.

Verzweifelt schickte Fraubert ein weiteres Stoßgebet zum Himmel. Jetzt konnte ihnen nur noch ein Wunder helfen, ansonsten war alles verloren. Nicht nur ihr Schiff, nicht nur ihr Leben. Die Zukunft des Ordens lag in seinen Händen. In den gleichen Händen, die gerade zum hilflosen Opfer der Wellen geworden waren.

Das Siegel des letzten Templers

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