Читать книгу Das Siegel des letzten Templers - Kai Kistenbrügger - Страница 11

(9) 23. August 1795, Neuschottland

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Mit einem lauten Knirschen lief der hölzerne Kiel des kleinen Ruderbootes auf Grund. Lachend sprang Daniel mit nackten Füßen in das Wasser und zog die kleine Nussschale ein Stück den Strand hinauf. Die nassen Füße störten ihn nicht. Für ihn gehörten Dreck, nasse Kleidung und eine abschließende, wohltuende Erschöpfung zum Abenteuer Leben dazu. Außerdem war er es gewohnt, bei Wind und Wetter draußen zu sein, selbst im Winter, der hier oben im Norden geradezu extreme Formen annehmen konnte. Erst im letzten Jahr hatte sie der lange und entbehrungsreiche Dezembermonat mit einer Schneedecke bestraft, die stellenweise bis an die Giebel der einfachen Holzhäuser herangereicht hatte. Doch auch in dieser Situation hatte Daniel die Schneeberge zu seinem persönlichen Vergnügen zu nutzen gewusst. Er lachte leise in sich hinein. Der alte McGilbert wunderte sich wahrscheinlich immer noch, woher der Schneeball gekommen war, der ihm unerwartet die schwere Fellmütze vom Kopf geschlagen hatte.

Daniel ließ das Boot los. Mit einer gemächlichen Bewegung kippte es leicht auf die Seite und blieb liegen. Mit einem selbstzufriedenen Kopfnicken befand er, dass sein Ruderboot weit genug entfernt vom Wasser lag, um nicht von der nächsten größeren Welle zurück ins Meer gespült zu werden.

Mit der stolz geschwellten Brust eines Eroberers, der neues Land in Besitz genommen hatte, richtete er sich auf. Die kleine Insel wirkte unbewohnt. Große Eichen wiegten sich im sanften Wind, der beständig vom Meer herüber blies. Der feine Kies kitzelte unter seinen Füßen. Erneut lachte er überdreht.

Die gesamte Bucht war von Inseln übersäht. Daniel wusste es nicht genau, aber es waren wahrscheinlich weit über dreihundert Inseln, die noch auf seine Entdeckungstouren warteten. Diesen Sommer war er 17 Jahre alt geworden und seine Neugier erschien unbändig, fordernd und beinahe besitzergreifend. Nahezu jede freie Minute strolchte er durch die Gegend, immer auf der Suche nach einem neuen Abenteuer. Heute hatte er sich sogar unerlaubt von der Arbeit entfernt. Sein Entdeckungsdrang hatte ihn dazu getrieben, sich diese Insel vorzunehmen, die geradezu einladend mit ihrem grünen Blätterdach um einen Besuch gebettelt hatte.

Übermütig lief Daniel den Strand hinauf und suchte sich eine Lücke zwischen den Bäumen. Die Bäume waren sehr alt, von gewaltiger Größe. Von Zeit zu Zeit blieb er atemlos stehen und bewunderte die alten Riesen. Er war Holzfäller, aber dennoch betrachtete er Bäume mit Ehrfurcht und Respekt vor ihrem Alter und ihrer Schönheit. Sie gaben den Menschen so viel, Schatten, Holz, Früchte, und fragten dabei nie nach einer Gegenleistung.

Daniel stolperte über einen Stein und fiel der Länge nach auf den Boden. Zum Glück war der gesamte Boden mit Gras und Laub bedeckt; sein Sturz wurde durch die Grassoden weich gepolstert. Dennoch fluchte er ungehalten in den übelsten Tönen, als er sich wieder aufrichtete. Während er sich den Dreck von seinem schäbigen Hemd klopfte, widmete er der Umgebung einen neugierigen Blick. Er war auf einem kleinen Hügel angekommen, auf dessen höchstem Punkt stolz eine uralte Eiche von gigantischen Ausmaßen thronte. Ihre Äste breiteten sich einladend über den Hügel aus. Er lief schnellen Schrittes die grüne Anhebung hinauf. Die langen Grashalme streiften flüchtig an seinen nackten Knöcheln entlang, als er am Fuße des riesigen Baumes ankam. Mit großen Augen starrte er im Schatten der Eiche ihren mächtigen Stamm hinauf. Vielleicht konnte er ein paar der unteren Äste erklimmen, von oben hatte er bestimmt eine atemberaubende Sicht über die gesamte Insel.

Gerade in dem Moment, als er nach einem der kleineren Äste in Armesreichweite greifen wollte, fiel ihm etwas ins Auge. Einer der Äste war abgesägt worden. So, wie die Schnittstelle aussah, bereits vor vielen Jahren. Offensichtlich war er nicht der erste Besucher auf der Insel. Merkwürdig war es nichtsdestotrotz. Was bewog Menschen dazu, einen einzelnen Ast abzuhacken, während sie den stolzen, kostbaren Baum ansonsten unbehelligt ließen?

Er kam dem Rätsel einen Schritt näher, als er einen weiteren Gegenstand bemerkte, der über den verbliebenen Rest des Astes geschwungen war. Er war aus Holz, mit einem dicken Seil umwunden. Ein Flaschenzug. Daniel hatte diese Art von Flaschenzügen auf den Schiffen gesehen, die im Hafen vor Anker lagen. Die Matrosen nutzen sie, um schwere Ladung in den Laderäumen zu verstauen. Dieser Flaschenzug war alt, sehr alt. Der alte Baum war mit der Zeit um den Flaschenzug und das Seil herum gewachsen, wie ein Geschwür, und hatte die zurückgelassenen Zeichen seiner ehemaligen Besucher in seinem stolzen Leib vereinnahmt.

Daniel leckte sich aufgeregt über die Lippen, als er unsicheren Schrittes näher trat. Als er jedoch die Hand nach dem Flaschenzug ausstreckte, zerfiel dieser zu feinem Staub. Überrascht blickte Daniel auf die Überbleibsel in seiner Hand. Massives Holz war gerade zerbröselt wie das alte Brot, das er manchmal mit zur Arbeit nahm. Der Flaschenzug musste tatsächlich unglaublich alt gewesen sein, noch viel älter, als Daniel sich in seinem jugendlichen Übereifer vorstellen konnte.

Aufgeregt untersuchte er die Umgebung, ob noch weitere Gegenstände auf ihre Entdeckung warteten, als sein Blick den Boden streifte. Direkt unterhalb des abgesägten Astes, wo der Flaschenzug gehangen hatte, formte der Boden eine Mulde. Es wäre ihm fast nicht aufgefallen. Gras war über die Kuhle gewachsen, so dass die Absenkung fast im hohen Bewuchs verschwand. Daniel war zwar nicht sonderlich gebildet, aber er war intelligent genug, um die Puzzlestücke dieses Rätsels zusammensetzen zu können. Irgendjemand hatte vor langer Zeit etwas an dieser Stelle vergraben. Etwas, das so groß und schwer war, dass es mit einem Flaschenzug in die eigens dafür ausgehobene Grube hinunter gelassen werden musste. Das Loch war zwar wieder mit Sand verschlossen worden, allerdings war die lockere Erde mit der Zeit abgesackt und hatte die feine Mulde hinterlassen, in der Daniel gerade stand.

Die Frage war nur, was lag unter seinen Füßen, und vor allem, wer hatte es dort versteckt?

Ihm fielen die vielen Geschichten ein, die sich die Menschen in seinem Dorf seit Jahrzehnten erzählten. Vor allem sein Großvater hatte die Erzählungen geliebt und ihm abends vor dem Feuer in seiner kratzigen, rauchigen Stimme von den alten Zeiten erzählt, als Piraten in diesen Meeren kreuzten und die Inseln als Versteck benutzten. Die Umgebung bat ausgezeichneten Schutz für zwielichtiges Gesindel; die Inseln waren klein, gut bewachsen und in ihrer Anzahl so viele, dass sich eventuelle Verfolger schnell abschütteln und verwirren ließen.

Ein Piratenschatz, etwas anderes konnte es nicht sein, das hier vergraben lag. Daniels Augen begannen zu leuchten, als er an Gold und Geschmeide dachte. An Schätze, die nur darauf warteten, von ihm gefunden zu werden. Er vollführte einen kleinen, übermütigen Tanz. Ein echter Piratenschatz! Und er hatte ihn gefunden. Genug von der Holzfällerei, er würde ein anderes Leben führen. In der großen Stadt, mit Bediensteten. Genug zu essen, Unmengen an Nahrung, und dabei würde es sich mit Sicherheit nicht um altes Brot handeln, sondern um Fleisch. O ja, viel Fleisch. Allein beim Gedanken daran lief ihm das Wasser im Mund zusammen.

Er brauchte Werkzeug. Schaufeln. Und Hilfe. Wer wusste schon, wie tief der Schatz verborgen lag? Und dem Flaschenzug nach zu urteilen, war er sicherlich auch zu schwer, um ihn allein zu heben.

So schnell ihn seine Beine trugen, lief er zurück zum Strand. Seine Freunde würden ihm helfen. John und Anthony. Mit ihnen würde er das ganze Gold teilen und gemeinsam im Reichtum schwelgen. Vor seinem geistigen Auge malte er sich bereits ihre Gesichter aus, wenn er ihnen von seiner Entdeckung berichten würde. Anthony würde wie immer sofort Feuer und Flamme sein, während John in der Rolle als ewiger Zweifler kritisch die Nase rümpfen würde. Allerdings würde auch er es sich nicht entgehen lassen, der Geschichte auf den Grund zu gehen.

Obwohl er vom Laufen völlig außer Atem war, entwich ein glucksendes Lachen seiner Kehle. Er spürte das Gold bereits in seinen Händen. Daniel wusste nicht, wie Gold sich anfühlte, aber das Gefühl musste geradezu himmlisch sein, verheißungsvoll. Das Versprechen auf ein besseres Leben.

„Ich bin reich“, dachte er, „reich!“ Er zog sein kleines Ruderboot zurück in die Wellen. Er würde bald zurück sein, mit dem richtigen Werkzeug und seinen Freunden.

Er wusste allerdings noch nicht, dass seine Entdeckung der Anfang eine langen, vergeblichen Suche war, die noch viele tapfere Männer ins Verderben reißen würde.

Das Siegel des letzten Templers

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