Читать книгу Das Siegel des letzten Templers - Kai Kistenbrügger - Страница 6

(4) 1. April, Münchener Innenstadt

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Bergmann lehnte sich mit der Stirn gegen die klebrige Innenwand der Telefonkabine. Die Kabine war schmutzig und zeigte überall Spuren von jahrelanger Gewalt und sinnloser Zerstörungswut. Graffiti, ein zerfetztes Telefonbuch, einer heruntergerissene Ablage. Er achtete allerdings kaum darauf. Der unangenehme Geruch nach Urin und die schmierige Oberfläche der Kabinenwände drangen kaum an seine Sinne. Seine Gedanken kreisten um das Telefongespräch. Es war vielversprechend gelaufen, aber er hatte ein großes Risiko in Kauf genommen, als er Roth angerufen hatte. Einen Mann, den er nicht persönlich kannte.

Zu allem Überfluss hatte er sein Mobiltelefon benutzen müssen, um Roth das Fax zu schicken. Er kannte sich mit diesem neumodischen Schnickschnack kaum aus, aber mit Sicherheit konnte so ein Smartphone leicht geortet werden. Deswegen hatte er auch über eine anonyme Telefonzelle Kontakt aufgenommen, anstatt dieses verteufelte, unsichere Mobiltelefon zu verwenden. Das Risiko mit dem Fax hatte er allerdings eingehen müssen, sonst wäre es ihm kaum gelungen, Roth zu einem Treffen zu überreden.

Aber hatte er eine Wahl? Alleine kam er nicht weiter. Roth galt als Experte auf dem Gebiet mittelalterlicher Orden und hatte sich insbesondere mit seinem Wissen über den Orden der Tempelritter einen Namen gemacht. Wenn jemand ihm den nächsten Schritt aufzeigen konnte, dann war es Roth. Seine letzte Hoffnung.

Mit zittrigen Händen fischte er ein gebrauchtes Taschentuch aus seiner Brusttasche. Seine faltigen Hände waren von Altersflecken übersäht, dabei war er gerade erst 63 Jahre alt. Sein Leben war entbehrungsreich gewesen, und er hatte auch nicht sonderlich gut auf sich achtgegeben. Gerade die letzten Jahre waren für ihn ein nie enden wollender Kampf gewesen, mit sich selbst, mit den Behörden, mit Kollegen, neuerdings sogar mit unbekannten Fremden. Dabei wusste er noch nicht einmal, was ihn zur Zielscheibe gemacht hatte. Er hatte immer ein einfaches Leben gelebt und war niemandem zu Nahe getreten. Ihn interessierten die Lebenden auch nicht. Sein Leben hatte er allein den Tempelrittern gewidmet. Der glorreichen Vergangenheit, einfacheren Zeiten.

Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. An der Stelle, an der seine Haut die Kabinenwände der engen Telefonzelle berührt hatte, blieben kleine Fasern des Papiertaschentuchs hängen.

Er stand so kurz davor, das größte Rätsel um diesen geheimnisumwitterten Ordens zu lösen, aber es blieb ihm so wenig Zeit. Und er hatte Angst.

Viele Mythen und Sagen umwehten die heldenhaften Gestalten dieser edlen Ritter, deren Orden im frühen 12. Jahrhundert gegründet worden war, um die Pilger im Heiligen Land vor den anrückenden Horden der Heiden zu schützen. Es war allerdings schwer, Fakten und Mythen voneinander zu trennen. Viele der Geheimnisse, die sich um den Ritterorden rankten, waren sicherlich damals gezielt von den Templern selbst unter die leichtgläubige Bevölkerung gestreut worden, solange es ihren eigenen Zwecken dienlich war. Die Gerüchte waren bei den einfachen Menschen auf fruchtbaren Boden gefallen, und so waren über die Jahrhunderte Gerüchte zu Legenden und Legenden zu Mythen geworden.

Es gab im Grunde nur ein paar wenige Informationen, die historisch verbürgt waren.

Die Tempelritter verdankten ihren Namen dem Hauptsitz ihres Ordens. Die ersten neun Ritter des Ordens hatten in Jerusalem auf dem Tempelberg Stellung bezogen und waren die ersten Jahre ihrer Existenz kaum in Erscheinung getreten. Das war geschichtlich gesehen nicht verwunderlich. Faktisch war es für lediglich neun bewaffnete Ritter unmöglich, so tapfer und stark sie auch gewesen sein mochten, Tausende von unbewaffneten Pilgern zu beschützen. Die Wissenschaftler waren sich deswegen einig, dass die Tempelritter am Anfang andere Ziele unter dem Deckmantel des Pilgerschutzes verfolgten. Den alten Geschichten zufolge gruben sie unterhalb des Tempelberges nach heiligen christlichen Reliquien. Der Heilige Gral. Die Bundeslade. Sagenumwobene Reliquien, die ihnen eine nie zuvor gesehene Machtfülle eröffnen sollten. Niemand konnte sagen, was sie damals, vor fast 900 Jahren, tatsächlich fanden. Fakt war nur, dass dieser unscheinbare Orden von neun tapferen Männern in den folgenden 200 Jahren zu einer der mächtigsten und reichsten Organisationen der bekannten Welt herangewachsen war, die im Heiligen Land und in Europa ihren Machtbereich mit schwer bewaffneten Festungen sicherte und erhielt. Um plötzlich nach 200 Jahren, im Jahre 1307, über Nacht vom Erdboden zu verschwinden. Mitsamt ihres sagenumwobenen Reichtums.

Bergmann bekam feuchte Hände, als er darüber nachdachte. Die Welt stritt sich darum, ob die Tempelritter tatsächlich den Heiligen Gral besessen hatten. Und vergaßen dabei, was für ein Vermögen der Orden im Laufe der Jahrhunderte angehäuft hatte. Nicht nur in der Form von Festungen, Gutshöfen, Gerbereien, Weingütern, sondern auch in harter Währung. In Gold. Gold, das in den Nebeln der Geschichte verschwunden war, wie die Erinnerung an eine durchzechte Nacht. Mehr Geld, als ein einzelner Mensch in seinem Leben jemals würde ausgeben können.

Und während seine Kollegen sich dem hehren Ziel gewidmet hatten, dem Geheimnis um den Heiligen Gral auf die Spur zu kommen, einen Beweis für die Existenz Gottes in den Händen zu halten, hatte er sich der Suche nach schnödem Mammon verschrieben. Und jetzt stand er kurz vor seinem langersehnten Durchbruch. Nein, er musste sich korrigieren. Vielleicht wusste er doch, was ihn zur Zielscheibe machte. Seit Jahrhunderten gab es viele Abenteurer, die durch die Verheißung des Goldes angelockt wurden. Viele davon waren sicherlich bereit, sehr weit zu gehen, um ihr Ziel zu erreichen. Und er, Wolfgang Bergmann, stand ihnen dabei im Weg.

Bevor er sich wieder der grausamen Welt stellte, atmete er tief ein. Er war ein Einzelgänger, große Menschenmassen machten ihm Angst. Er konnte sich allerdings nicht ewig in der Telefonzelle verstecken. Er setzte seinen Hut auf und zog ihn tief ins Gesicht, bevor er die bedrückende Enge der Telefonkabine verließ und schnellen Schrittes den Bürgersteig hinablief.

Es war Abendzeit und viele Menschen waren auf dem Weg nach Hause, oder nutzen die letzten verbliebenen Sonnenstunden des Tages für einen kleinen Stadtbummel. Zu viele. Es waren einfach zu viele. Ihre Nähe ängstigte ihn. Jedes Mal, wenn ihn versehentlich jemand streifte oder berührte, zuckte Bergmann alarmiert zusammen. Er musste aus der Menge heraus; sie schnürte ihm die Luft ab. Panikartig hechtete er durch den endlos wirkenden Strom aus namenlosen Gesichtern, die ihn irritiert oder mitleidig anstarrten, wenn er sich leise murmelnd an ihnen vorbeidrängelte. Verwünschungen folgten seinem Weg, wenn wieder jemand seinen hektischen Schritt gekreuzt hatte. Er blieb nicht stehen, um sich zu entschuldigen. Er hetzte weiter, so schnell ihn seine schmerzenden Beine trugen. Es war die nackte Angst, die ihn antrieb. So viele Menschen. Das überwältigende Gefühl der Bedrohung wurde immer stärker und trieb ihm den Angstschweiß auf die Stirn. Er warf des Öfteren einen hektischen Blick über die Schulter, aber in der Menschenmasse war potenziell jeder ein Verfolger, der es auf ihn abgesehen haben konnte. Sie alle wirkten verdächtig wie unverdächtig.

Dabei waren alle Menschen lediglich harmlose Passanten, die von dem verwirrten alten Mann kaum Notiz nahmen. Alle, bis auf einen, der Bergmann unauffällig im Abstand von mehreren Metern folgte.

Das Siegel des letzten Templers

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