Читать книгу Lilie und Drache - Karin Kehrer - Страница 11
Kapitel 8
ОглавлениеDas gleichmäßige Rattern des Zuges schläferte Carys ein. Müde lehnte sie den Kopf zurück, betrachtete die vorbeiziehende Landschaft. Der Zug war pünktlich um zwanzig vor neun vom Bahnhof Euston abgefahren und würde etwa zwei Stunden bis Chester brauchen. Dort musste sie umsteigen. Ihr Vorsatz, während der Reise an den Kostümentwürfen für das nächste Stück zu arbeiten, wurde bald durch ihre Erschöpfung zunichtegemacht.
Sie sah aus dem Fenster. Das Londoner Grau war mittlerweile grünen und braunen Feldern gewichen, die im Oktoberlicht badeten.
Die letzte Woche war angefüllt gewesen mit Arbeit. Zehn-Stunden-Tage, die sie zwischen Werkstatt und Fundus verbracht hatte. Erstaunlich, wie viel es immer am Ende einer Saison zu tun gab. Die Kostüme mussten ausgebessert, nach Produktion geordnet und mit Anhängern versehen werden, um sie zu verstauen.
Um ihren Fleiß zu belohnen, wie Derek meinte, hatte er ihr zusätzliche fünf Tage Urlaub gewährt. Anne hatte erfreut geklungen, als Carys ihr die Mitteilung machte, dass sie nun länger bleiben könne. Vielleicht hätte sie es ihr nicht sagen sollen. So wie sie ihre Schwester kannte, würde sie nun ihren Urlaub minutiös planen. Wanderungen, Treffen zu Tee und Kuchen bei allen möglichen Leuten, die sie von früher kannte, wobei das Bedürfnis, sie zu sehen, von Carys‘ Seite wahrscheinlich nicht groß sein würde. Neugierige Fragen, was sie denn mache, wie es ihr gehe, ob sie einen Partner habe, wie das Leben in London so sei und dergleichen mehr. Dazu womöglich noch irgendwelche Dorffeste mit skurrilen Spielen und Zusammenkünften.
Annes Familie, allgegenwärtig, ihr Mann Curt, der sie immer mit einer gewissen Zurückhaltung behandelte, die Zwillinge Simon und Andrew – wie alt waren sie gleich noch mal? Neun, genau. Sie hatte Anne gefragt, was sie den Jungen mitbringen sollte, hatte so gar keine Ahnung von den Interessen ihrer Neffen. Auf den Rat ihrer Schwester hatte sie für Andrew ein Harry-Potter-T-Shirt mit dazu passenden Socken und für Simon einen Fußball gekauft.
Sie wusste noch nicht recht, ob sie sich wirklich auf diesen Besuch freuen sollte. Nun gut, falls ihr alles zu viel wurde, konnte sie noch immer eine Ausrede erfinden, um abreisen zu können.
Sie hasste sich selbst für diesen Gedanken. Anne war ihre einzige Schwester, die letzte Verbindung zu ihrer Heimat, nachdem zuerst ihr Vater und auch noch ihre Mutter gestorben waren.
Bis zum plötzlichen Tod ihres Vaters waren sie eine ganz normale, glückliche Familie gewesen. Jonathan Ryder unterrichtete Geschichte und Archäologie an der Bangor University und Carys hatte seinen Hang zum Tagträumen geerbt. Ihm hatte sie auch ihren typisch walisischen Vornamen zu verdanken und die Tatsache, dass sie und ihre Schwester zweisprachig aufwuchsen. Er legte Wert auf Tradition und Geschichte und lehrte sie walisisch. Ihre Mutter Elizabeth verkörperte stets die praktischere Seite der Familie. Sie arbeitete als Schneidermeisterin.
Jonathan Ryder wurde auf dem Nachhauseweg von der Universität von einem betrunkenen Autofahrer überfahren und starb noch an der Unfallstelle. Carys war sieben, als ihre Welt zusammenbrach. Sie hatte ihren Vater vergöttert und nach seinem Tod das Gefühl, als stünde sie völlig allein da. Die Beziehung zu ihrer Mutter und der drei Jahre älteren Anne war nie von großer Herzlichkeit geprägt gewesen und so zog sich das verträumte Kind völlig in eine Fantasiewelt zurück. Und als sich die Gelegenheit bot, flüchtete sie nach London, wo sie in der Welt des Theaters das fand, was sie suchte. Glaubte sie zumindest.
Carys seufzte, als sie an das Fiasko dachte, mit dem ihre Beziehung zu Mark Hanson, dem gefeierten Bühnenstar, geendet hatte. Sie war zum Großteil auch selbst schuld daran. Sie hätte es wissen müssen. Alle wussten es. Mark Hanson genoss sein Leben, seine zahlreichen Affären waren schon Gesprächsthema, ehe er an das Globe verpflichtet wurde. Warum sollte ausgerechnet sie, die verträumte Carys mit dem walisischen Akzent, seine große Liebe sein? Gott, war sie dumm gewesen!
Bitterkeit wallte in ihr auf, wieder einmal, und sie musste sich beherrschen, um nicht in Tränen auszubrechen. Was grundsätzlich egal gewesen wäre, sie saß allein im Abteil.
Stattdessen nahm sie den Zeichenblock zur Hand und begann zu skizzieren. Ein Monster mit den Zügen Mark Hansons. Die Augenbrauen spöttisch hochgezogen, Hörner auf dem Kopf und sein attraktives Gesicht zu einer grässlichen Fratze verunstaltet.
Ihre Wut verrauchte. Kopfschüttelnd betrachtete sie das Porträt und verstaute den Block in ihrer Tasche.
Dabei stießen ihre Finger auf das Holzkästchen. Sie hatte es im letzten Moment noch eingepackt, in der Hoffnung, Curt könne ihr etwas dazu sagen. Er war Tischler und spezialisiert auf das Restaurieren von Antiquitäten.
Es hatte sich nichts Merkwürdiges mehr ereignet und Carys war mittlerweile geneigt, die Vorkommnisse nach ihrem Albtraum ihren überreizten Nerven zuzuschreiben. Alles andere wäre zu unwahrscheinlich gewesen. Ein Pergament, das leuchtete und Geschichten erzählte! Was für ein Unsinn!
Sie holte ihr Handy heraus, stöpselte die Kopfhörer an und versuchte sich zu den Klängen von Scarborough Fair und anderen Folksongs zu entspannen.
Ein heftiger Ruck riss sie aus ihrer Versunkenheit. Sie war tatsächlich eingedöst. Der Zug hatte gerade in Chester gehalten. Hastig nahm sie die Kopfhörer ab und verstaute das Handy in ihrem Rucksack. Sie nahm den Koffer auf und sprang gerade noch rechtzeitig aus dem Zug. Den Anschluss nach Bangor erreichte sie ohne Probleme eine Viertelstunde später, die sie auf dem Bahnsteig zubrachte, noch immer ein wenig benommen.
Das Wetter war zum Glück schön und jetzt zur Mittagszeit wärmte die Sonne für Oktober noch angenehm. Mittlerweile hatte sie auch Hunger bekommen und sie aß das mitgebrachte Sandwich im Stehen, während sie wartete.
Die Fahrt nach Bangor würde etwa eine Stunde dauern. Sie setzte sich in ein Abteil, einem Mädchen gegenüber, das nur Augen für sein Smartphone hatte und bei ihrem Eintreten nicht einmal aufblickte.
Carys sah aus dem Fenster. Das vertraute Grün der Hügel zog an ihrem Blick vorbei und nun begann sie sich doch zu freuen. Als zu ihrer Rechten das Blau des Meeres sichtbar wurde, befiel sie eine seltsame Unruhe. Der Zug passierte Conwy und nun war es nicht mehr weit. Zwanzig Minuten noch.
Zum letzten Mal war sie beim Begräbnis ihrer Mutter in Wales gewesen, das war jetzt eineinhalb Jahre her.
Sie stieg aus, als der Zug in Bangor hielt und verließ das Bahnhofsgebäude. Curt würde auf dem Parkplatz auf sie warten. Sie entdeckte ihn neben seinem Jeep und winkte ihm zu.
„Helo Carys! Gute Fahrt gehabt?“ Er küsste sie flüchtig auf die Wange und musterte sie forschend.
Sie lächelte. „Danke. Ich habe die Gelegenheit genützt, mich ein wenig zu entspannen.“
„Du siehst müde aus.“
Sie seufzte. „Ich hatte eine ziemlich anstrengende Woche. Aber ich habe es geschafft.“
Curt nickte nur. Er war kein Mann der vielen Worte.
Sie stieg in den Wagen. Der Geruch von frisch geschnittenem Holz und Möbelpolitur drang in ihre Nase.
„Ich hatte gerade eine Lieferung, da passte es gut“, meinte Curt und setzte sich auf den Fahrersitz, nachdem er ihr Gepäck im Laderaum des Wagens verstaut hatte.
„Dann bin ich froh, dass ich dir keine Umstände mache.“
Herrgott, wie gestelzt das klang! Sie hatte vergessen, dass es immer etwas dauerte, bis sie in Curts Gegenwart ihre Befangenheit ablegte. Sie kannten sich eigentlich seit der Schulzeit – er war Annes Klassenkamerad gewesen. Früher war sie selbst ein wenig ihn in verschossen gewesen, der ruhige, zurückhaltende Junge hatte ihr imponiert. Aber er hatte sich für Anne entschieden und ihre eigene Verliebtheit war längst Geschichte.
Curt fuhr den Jeep aus der Parklücke und bog auf die A 5 ein – der schnellste Weg, um nach Tregarth zu kommen. Die Farm seiner Eltern, die er mit Anne und den Zwillingen bewohnte, lag eine Viertelmeile südlich des kleinen Ortes.
Carys betrachtete im Vorbeifahren die Gebäude der Universität und lehnte sich mit einem Seufzer zurück. „Hier hat sich anscheinend nicht viel geändert.“
Curt warf ihr einen Seitenblick zu und lächelte. „Nein. Noch immer die langweilige kleine Stadt. London ist bestimmt aufregender.“
Da war sie wieder, die heimliche Spitze, der unterschwellige Vorwurf, weil sie ihre Familie im Stich gelassen hatte. Oder war sie nur überempfindlich? Sie sah ihren Schwager von der Seite an. Curt Jones war ein bodenständiger, unauffälliger Typ. Oder schien ihr das nur so, weil sie mittlerweile an die schillernde Theaterwelt mit ihren mehr oder weniger skurrilen Gestalten gewöhnt war? Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass seine Haare sich über der Stirn ein wenig lichteten. Er ähnelte seinem Vater, mit dem energischen Kinn und den braunen Augen. Seinen Händen sah man den Handwerker an. Er trug ausgebleichte Jeans und eine abgewetzte Jacke.
„Wie geht’s dir mit deiner Arbeit?“, fragte sie, um dem Thema London auszuweichen. Curt hatte sich vor zwei Jahren selbständig gemacht und betrieb nun eine Tischlerwerkstatt zusammen mit einem Gesellen. Anne führte seine Buchhaltung und die Farm. Curts Eltern arbeiteten noch tatkräftig mit, bewohnten aber ein eigenes Cottage neben dem Anwesen.
„Läuft gut.“
„Schön“, sagte sie ein wenig lahm. „Du hast also genug Aufträge?“
„Ja, es lässt sich bestens an. Hab den Auftrag für die Schule in Tregarth bekommen.“
Ihr Gespräch versandete. Curt und sie lebten in verschiedenen Welten.
Er bog von der A5 in die Llwyn Bleddyn Road ein und wenig später erreichten sie die Zufahrt zur Jones Farm. Als das zweistöckige rote Backsteingebäude auftauchte, atmete Carys heimlich auf.
Curt parkte den Jeep vor der Werkstatt, einem mit Wellblech gedeckten Nebengebäude der Farm, das früher als Schafstall gedient hatte. Die Viehwirtschaft hatten die Jones‘ aufgegeben. Anne betreute dafür einen weitläufigen Garten, der sich zwischen Wohnhaus und Werkstatt erstreckte und verkaufte ihre Erzeugnisse – Marmelade, Säfte, eingelegtes Obst und Gemüse – auf dem wöchentlichen Markt. Jetzt lag der Garten allerdings zum Großteil brach und die Beete für die Wintersaat waren abgedeckt.
Carys nahm ihren Rucksack und den Koffer aus dem Wagen und ging auf das Haus zu. Liebevoll gepflegte Blumentröge zu beiden Seiten des Zugangs und jede Menge Zierrat schufen eine heimelige Atmosphäre. Anne war eine perfekte Hausfrau, Mutter und Managerin. Als sie ihr jetzt an der Tür entgegenkam, eine Schürze über Jeans und T-Shirt, mit hochgestecktem Haar, kam sich Carys wieder einmal unzulänglich und sehr jung vor.
„Helo, sut wyt ti? Wie geht’s dir?“ Anne nahm sie in die Arme und küsste sie herzlich auf beide Wangen. Sie roch nach Kuchen und Zimt.
„Yn dda iawn diolch. Danke, sehr gut“, sagte Carys automatisch und verfiel sofort in das vertraute Walisisch. „Ein wenig müde, aber sonst alles ok.“
Anne schob sie sachte von sich, betrachtete sie forschend. „Du siehst ziemlich erschöpft aus, du Arme. War die Saison so anstrengend? Oder liegt es wieder an deinen Albträumen?“
Carys zuckte zusammen. Anne hatte die Gabe, sofort auf den Punkt zu kommen.
„Wahrscheinlich alles gemeinsam. “ Sie atmete tief durch. „Aber das ist gerade nicht wichtig. Ich freue mich, dass ich hier sein darf.“ Sie inhalierte die frische, nach Herbst riechende Luft und fühlte zum ersten Mal seit langer Zeit so etwas wie Frieden und Ruhe.
„Na komm erst mal herein. Ich bin noch nicht ganz fertig. In einer Stunde gibt’s Lunch. Die Jungs kommen um eins von der Schule.“
Carys betrat hinter ihr den schmalen Flur, in dem sich die Garderobe befand.
„Ich dachte, du könntest oben in Curts ehemaligem Zimmer schlafen. Du weißt ja, wo es langgeht. Ich muss nur schnell nach meinem Kuchen sehen. Komm dann einfach runter.“ Und damit ließ sie Carys stehen und eilte in die Küche, aus der bereits ein betörender Duft drang.
Am Ende des Flurs befand sich die schmale Treppe, die in das Obergeschoß führte. Das Farmhaus wurde schon etwa seit dem achtzehnten Jahrhundert von der Familie Jones bewohnt und war immer wieder renoviert und erweitert worden. Der erste Stock war eigentlich ein ausgebauter Dachboden und wirkte mit den dunklen Holzbalken sehr heimelig. Curts ehemaliges Zimmer befand sich am Ende des schmalen Ganges, gegenüber den beiden Kinderzimmern, wie Carys von ihren früheren Besuchen wusste.
Sie öffnete die Tür zu dem kleinen, aber gemütlichen Raum. Von den beiden Fenstern aus sah man das Wäldchen, das hinter dem Anwesen lag. Ein leichter Geruch von Lavendel stieg in ihre Nase. Das Zimmer dominierte ein massives Holzbett, Curts Arbeit für die Meisterprüfung. Ein Schrank, ein Nachtkästchen und an dem einen Fenster ein Tisch mit einem Stuhl vervollständigten die Einrichtung. Auf dem Holzboden lag ein Flickenteppich.
Carys legte den Rucksack auf das Bett und beschloss, gleich wieder zu Anne in die Küche zu gehen.
Die Treppe knarrte leise, als sie hinunterstieg. „Kann ich dir irgendwie helfen?“
Anne zog gerade das Kuchenblech aus dem Backrohr. Ihre Wangen waren gerötet und eine Strähne ihres dunkelblonden Haares hatte sich aus dem Knoten, zu dem sie es aufgesteckt hatte, gelöst.
„Momentan nicht, aber später mit dem Lunch vielleicht. Setz dich.“ Anne lächelte sie an. Ihre grauen Augen leuchteten. Sie war einen halben Kopf kleiner als Carys und strahlte eine unheimliche Tüchtigkeit aus. „Ich freue mich, dass du hier bist. Wir können endlich wieder mal etwas zusammen unternehmen.“
„Oh. Ja klar.“ Ein leicht mulmiges Gefühl beschlich Carys.
„Keine Angst!“ Anne grinste. „Ich habe nicht vor, dich die ganze Zeit mit Beschlag zu belegen. Keine Teepartys mit nervigen Nachbarn und keine skurrilen Kuchenbackwettbewerbe. Obwohl am Samstag im Gemeindezentrum die Herbsttanzparty stattfindet.“
Carys stöhnte. „Nein, bitte nicht!“
Anne stellte ein Glas Wasser für sie auf den Tisch. „War nur Spaß. Ich würde dich natürlich nicht dorthin schleppen. Ich habe die Geschichte mit dem jungen Twm nicht vergessen.“
Twm Elias, ein schüchterner, blonder Junge, ihr Partner beim Tanzkurs, den sie in der High School absolvieren mussten. Er stolperte ständig über ihre Füße, hatte keinen Funken Taktgefühl und schwitzige Hände. Zum Abschlussball kam er einfach nicht und sie musste den ganzen Abend lang neben ihrer Mutter sitzen. Nur ein einziger anderer Junge holte sie zum Tanz.
„Er ist jetzt Ranger im Snowdonia Park“, sagte Anne in ihre Gedanken. „Neulich habe ich ihn getroffen. Er ist noch immer so schüchtern und ich glaube, er ist noch Single.“
„Na wunderbar.“ Carys stöhnte. „Was sollen diese Andeutungen? Du willst mich doch nicht etwa verkuppeln?“
„Keine Spur. Ich weiß doch, dass der arme Twm nicht dein Typ ist. Du stehst ja eher auf Märchenprinzen.“
Zu ihrem Ärger wurde Carys rot. „Absolut nicht. Es muss nur einfach – ach, ich weiß auch nicht.“
„Dieser Schönling vom Theater war es eher nicht.“ Anne warf ihr einen forschenden Blick zu. Natürlich hatte sie mitbekommen, dass ihre Beziehung zu Mark gescheitert war. Zwei Tage nachdem Mark mit ihr Schluss gemacht hatte, war ihre Mutter gestorben. Ein halbes Jahr nachdem sie die Diagnose Lymphdrüsenkrebs erhalten hatte. Carys war damals nicht in der Lage gewesen, Trauer über ihren Tod zu empfinden, flüchtete am gleichen Tag, als das Begräbnis vorbei war, wieder nach London, um sich vor der Welt zu verkriechen.
„Es tut mir leid“, murmelte sie. „Ich habe noch immer ein schlechtes Gewissen.“
Anne setzte sich zu ihr an den Tisch und sah sie mit eindringlichem Blick an. „Das musst du nicht haben. Ich habe Mum gerne gepflegt. Natürlich war das Ganze traurig, sie hätte nicht so früh sterben müssen. Aber am Ende war es nur eine Erlösung und sie ist friedlich eingeschlafen.“
Tränen traten in Carys‘ Augen. „Aber ich hätte auch für sie da sein sollen, dir helfen …“
„Unsinn! Ich hatte genug Unterstützung. Sie hat im Gegensatz zu dir immer gewusst, dass du gehen musstest.“ Sie hielt kurz inne. „Aber sie hätte sich natürlich über deinen Besuch gefreut.“
Carys schluckte. „Ja, ich … ich hatte immer das Gefühl, sie liebte dich mehr als mich.“ Jetzt war es gesagt.
Anne nickte zu ihrer Überraschung. „Vielleicht hast du recht, obwohl sie sich trotzdem bemühte, es dir nicht zu zeigen. Ich glaube, du hast sie viel zu sehr an Dad erinnert. Du bist genau wie er, das sagte sie manchmal. Sie hat ihn wirklich sehr geliebt und seinen Tod hat sie nie verarbeitet. Das erzählte sie mir, bevor sie starb. Sie wollte dich um Verzeihung bitten. Ich wollte dir das damals schon sagen, aber du warst so durch den Wind - und irgendwie hat sich danach die Gelegenheit nie so richtig ergeben.“
„Ich weiß. Ich habe mich in die Arbeit gestürzt und versucht, alles zu vergessen. Aber das ist wahrscheinlich nicht der richtige Weg.“
„Nein, irgendwann wird man davon eingeholt. Ich glaube, es ist ganz gut, dass wir jetzt darüber gesprochen haben.“ Anne nahm ihre Hand. „Du bist hier immer willkommen, das sollst du wissen.“
„Danke.“ Carys schluckte.
„Aber jetzt genug der Rührseligkeiten.“ Anne sprang auf, nachdem sie einen Blick auf die Uhr geworfen hatte. „Ich habe eine hungrige Familie zu verköstigen. Zur Feier des Tages gibt’s Welsh Rarebits!“
„Mmmh, lecker! Die hatte ich ewig nicht. Kann ich dir helfen?“
„Klar. Hier ist eine Schürze und dann legen wir los.“
Carys lachte. Sie fühlte sich plötzlich leicht und frei, losgelöst von allen Sorgen. Hier in dieser gemütlichen Küche mit den Holzmöbeln, den bunten Vorhängen und in Gesellschaft ihrer Schwester.
Gleich darauf breitete sich der Duft von geschmolzenem Käse aus und ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Ihr Magen begann zu knurren. Sie hatte tatsächlich Hunger!
Anne toastete Brot, schichtete Tomaten, Lauch und Schinken zwischen die Brotstücke. Mit flinker Hand zauberte sie auch noch einen grünen Salat und bestreute ihn mit gehackten Walnüssen.
„Hey, gleich zwei Köchinnen!“ Curt betrat die Küche und küsste Anne auf die Wange. Er brachte den Geruch von Sägespänen und frischer Luft mit. „Ab ins Bad, Hände waschen“, kommandierte Anne lachend.
„Tu ich ja sowieso immer“, brummte Curt und zwinkerte ihnen zu.
Gleich nachdem er gegangen war, stürmten die Zwillinge zur Tür herein. Der Schulbus hatte sie gerade abgesetzt.
„Helo, Rasselbande! Erst mal guten Tag sagen.“ Anne stemmte die Hände in die Hüften und Carys musste sich ein Lachen verbeißen. Jetzt sah sie aus wie eine viktorianische Matrone in Hochform.
„Helo, Tante Carys“, sagten die beiden Jungen wie aus einem Mund. Sie glichen sich wie ein Ei dem anderen und Carys hatte immer Schwierigkeiten, sie auseinanderzuhalten. Zwei schmale, blonde Knaben mit Sommersprossen und grauen Augen.
„Helo, Simon und Andrew. Ihr seid ja schon wieder gewachsen!“ Carys schmunzelte.
„Seit letztem Jahr drei Zentimeter“, sagte Simon – oder Andrew? Es war zum Verzweifeln.
„Nun kommt schon. Hände waschen und setzen.“ Anne sah sie streng an. Sie flitzten aus der Küche und kamen wenig später mit Curt zurück.
Das Essen verlief in entspannter Atmosphäre. Die Zwillinge erzählten, was sie in der Schule erlebt hatten – ein gewisser Sam war beim Schummeln ertappt worden, jedermann wusste, dass er für den Geschichtetest nichts gelernt hatte, sie selbst hatten ein gutes Gefühl, dass die Arbeit positiv sein würde und dergleichen mehr.
Carys genoss die Gespräche, fühlte sich aufgenommen, heimisch. Und da hatte sie gedacht, sie könne es nicht genießen, sie wolle lieber gar nicht erst kommen? War sie drauf und dran, eine schrullige Jungfer zu werden – mit fünfundzwanzig?
Nach dem Kaffee herrschte bei der Übergabe der Geschenke kurz Verwirrung, als Carys dem falschen Zwilling den Fußball überreichte. Aber die beiden hatten sie ausgetrickst und die Tatsache, dass so gut wie niemand sie auseinanderhalten konnte, ausgenützt.
Später half sie Anne beim Aufräumen der Küche und danach saßen sie gemütlich im Wohnzimmer. Das Herbstlicht malte bunte Schatten auf die Möbel. Auch diese hatte Curt getischlert.
„Weißt du, dass ich dich manchmal beneide?“ Carys nippte an einem Gläschen Erdbeerlikör.
Anne stieß einen tiefen Seufzer aus und legte die Beine auf einen Hocker. „Ehrlich? Naja, manchmal möchte ich lieber mit dir tauschen. Spannender Beruf, ein Leben in der Großstadt, jede Menge interessanter Leute …“
„Lärm, Abgase, Stress, zickige Künstlerseelen, die gestreichelt werden wollen.“ Carys lachte. „Alles hat zwei Seiten.“
„Aber das ist nicht das Problem, oder? Du hast wieder Albträume.“
Carys zuckte zusammen.
„Ich sehe dir doch an, dass es dir nicht gut geht. Und erzähle mir nicht, dass das nur von der vielen Arbeit kommt. Bist du noch immer nicht über diesen Mark hinweg?“
„Ich dachte, ich wäre es“, sagte sie leise. „Aber ich fürchte, es wird schwierig. Er ist für die nächste Saison wieder an das Globe verpflichtet worden.“
„Scheiße! Das tut mir echt leid für dich.“
Das Mitgefühl in Annes Blick ließ sie schlucken. Sie zuckte mit den Schultern. „Ich werde es schon überleben. Und diese Träume … Es liegt wahrscheinlich auch an meiner übergroßen Fantasie.“
„Blödsinn! Ich weiß, dass Mum das immer sagte. Hast du schon mal daran gedacht, dir psychologische Hilfe zu suchen?“
„Ja, hab ich. Gesprächstherapie, eine Familienaufstellung. Aber es hat nichts gebracht. Es kommt und geht. Ich hatte jahrelang keine Probleme.“ Carys hielt inne. „Es scheint mir, als würden diese Albträume immer auftauchen, wenn schlimme Ereignisse auf mich zukommen oder ich eine Entscheidung treffen sollte.“
So wie nach dem Tod ihres Vaters. Oder als sie nach London flüchtete, um der Enge ihres Daseins zu entkommen oder als ihre Beziehung mit Mark endete … Aber welche Entscheidung stand jetzt an? Ihr Arbeitsvertrag war verlängert worden, mit Sheila verband sie eine aufrichtige Freundschaft, ihr Liebesleben war praktisch nicht vorhanden. Nichts wies darauf hin, dass sich etwas ändern sollte.
„Denkst du, dein Unterbewusstsein will dir damit eine Warnung schicken? Ich kenne mich damit zwar absolut nicht aus, aber …“ Anne brach ab, sah sie verwirrt an.
„Nein. Das heißt, ich weiß es nicht.“ Carys dachte an den letzten Traum vor knapp einer Woche und an das Pergament mit der Botschaft. Mittlerweile hegte sie die feste Überzeugung, dass sie auch das geträumt hatte. Oder doch nicht?