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Kapitel 5

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Arian betrat den großen, äußeren Hof, als die ersten zaghaften Sonnenstrahlen den Weg über die Mauern von Colheldon suchten. Sylhyan wartete bereits gesattelt auf ihn, schnaubte unruhig und stampfte mit den Hufen. Sein schneeweißes Fell leuchtete in der schwindenden Dämmerung zwischen den grauen Steinen. Als er seines Herrn ansichtig wurde, hob er den Kopf, wieherte ungeduldig und flatterte mit den mächtigen Flügeln. Kurz überfiel Arian das schlechte Gewissen. Er hatte seinen treuen Begleiter in den letzten Tagen schmählich vernachlässigt, sich wieder einmal in seinen Büchern vergraben und Antworten gesucht, wo es vielleicht gar keine gab, anstatt Ausflüge mit seinem Freund zu machen.

Er trat auf das Tier zu und legte die Hand auf seine Nüstern. Sylhyan blies seinen warmen Atem in seine Handfläche und erlaubte ihm, ihn zwischen den Ohren zu kraulen. Arian schmiegte seine Wange an den Kopf des Tieres und ein lang vermisstes Glücksgefühl durchströmte ihn. „Ich bedauere aufrichtig, dich so übergangen zu haben, mein Freund“, flüsterte er. Sylhyan schnaubte sanft und begann wieder zu tänzeln. Seine Flügel hoben sich, als wolle er ihm bedeuten, doch endlich aufzusteigen und das überflüssige Gespräch sein zu lassen.

„Du hast ja recht.“ Arian lachte. Er wandte sich an Eway. „Ich kann noch nicht sagen, wann ich zurückkehren werde.“

Der Diener neigte seinen grauhaarigen Kopf. „Ich werde zu jeder Zeit bereit sein, Euer Hochwohlgeboren. Heldon gewähre Euch eine gute Reise.“

Arian schwang sich in den Sattel und nahm die Zügel auf. Sofort trabte der Hengst mit kraftvollen Schritten an, sprang über die Mauer und legte im gleichen Moment die Flügel an, um sich in den Abgrund zu stürzen. Arian schrie auf, ein heißes Prickeln schoss durch seine Adern, als das Tier sich gerade rechtzeitig fing und über die Wipfel der Bäume hinwegfegte.

Das war wohl die Strafe dafür, dass ich dich in den letzten Tagen vernachlässigt habe.

Er ließ dem Aylfar, dem Windpferd, erst einmal freie Zügel. Er verstand, dass das Tier sich austoben musste. Auch er genoss den wilden Flug. Wieder einmal das Gefühl der Freiheit. Nicht nachdenken müssen, nur die kraftvollen Bewegungen des Hengstes zu genießen, die scharfe Luft zu spüren, die alles Schlechte aus seinem Kopf und seinem Körper trieb.

Mit kräftigen Flügelschlägen durchschnitt das Tier die Luft, seine Beine bewegten sich im gleichen Takt. Windpferde waren wundervolle Geschöpfe, geschaffen von Heldon, dem Gott des Lichts. Es gab nicht mehr viele von ihnen, sie lebten verstreut in den dichten Wäldern von Sardaryon. Arian war gerade zum Mann gereift, als er den jungen Hengst entdeckte, der allein durch die Wälder streifte. Es hatte ihn große Mühe und viel Geduld gekostet, das scheue Tier einzufangen und sich mit ihm anzufreunden. Aylfars banden sich für ihr ganzes Leben an nur einen einzigen Herrn, sie nahmen keinen anderen an.

Als Sylhyan sich ausgetobt hatte, lenkte Arian ihn in sanftem Bogen nach Süden. Unter ihnen lagen unverändert dichte Wälder von Rothanos, wo nicht schroffe Felswände das Wachstum der Bäume verhinderten und das graue Granitgestein die dunkelgrüne Eintönigkeit durchbrach. Ab und zu leuchteten smaragdgrüne oder tiefblaue Flecken auf. Unzählige kleine Seen mit kristallklarem Wasser sorgten für die nötige Feuchtigkeit, die die Baumriesen brauchten. Sardaryon mochte für denjenigen, der es nicht kannte, abweisend und unwegsam sein, aber Arian liebte seine Heimat. Der dichte Bewuchs des Landstrichs, der kaum eine landwirtschaftliche Nutzung zuließ, da die Rodung so mühsam war, den Duft der Rothanos, die klare Luft, taten seiner gequälten Seele gut.

Sylhyan flog nun ruhig mit stetigem Flügelschlag und Arian konnte seinen Gedanken freien Lauf lassen. Er würde gegen Abend auf Silkarnon eintreffen und er fragte sich, was ihn dort erwartete. Wie würde sein Empfang ausfallen? Würde sich Ifan über seine Ankunft freuen? Oder würde er ihn mit der gleichen Zurückhaltung und Verwirrtheit begrüßen, die seine Botschaft vermittelt hatte?

Ifan war nie nachtragend gewesen, aber das, was zwischen ihnen vorgefallen war, wog schwer. Er hatte das Vertrauen seines Bruders verloren und er fragte sich, ob er es je wiedergewinnen konnte. Aber vielleicht war das auch gar nicht wichtig, in Anbetracht dessen, was noch auf ihn wartete.

Das Land unter ihm begann sich zu verändern. Die mächtigen Nadelwälder liefen nun in mit Laubbäumen bedeckte, sanfte Hügel aus, die das Vorland zu Kelingow bildeten. Auch die Luft änderte sich, wurde weicher und wärmer. Arian beschloss, eine Pause einzulegen, bevor er die Hügelkette überqueren und in die Ebene von Lithgow eintauchen würde.

Die Sonne hatte mittlerweile ihren Höchststand erreicht und er hielt Ausschau nach einem schattigen Rastplatz. Als er das Glitzern eines Sees bemerkte, lenkte er Sylhyan mit leichtem Schenkeldruck auf den Boden zu. Er landete sanft und ließ das Tier auslaufen. Es trabte sofort zum Wasser und senkte den Kopf in das kühle Nass.

Arian nahm die Satteltaschen ab und holte den Proviant heraus, den Eway vorsorglich eingepackt hatte. Geistesabwesend kaute er ein Stück Brot, trank aus der Wasserflasche und füllte sie wieder auf.

Er lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm einer Birke und blickte auf die spiegelglatte Wasserfläche. Erst jetzt kam ihm zu Bewusstsein, dass er seit seinem Abflug nicht mehr an die Schwarze gedacht hatte. Er legte seine Hand auf die Brust. Sein Herz schlug ruhig und gleichmäßig. Die Kälte war noch immer da, aber sie schien sich tief in sein Inneres zurückgezogen zu haben.

Du hast es selbst in der Hand. Wenn du der Finsternis in dir nachgibst, wird sie dich beherrschen. Wenn du danach trachtest, Augenblicke des Glücks zu sammeln, wirst du derjenige sein, der bestimmt, wie du dein Leben verbringst.

Wie einfach das klang! Und wie leicht es war, jetzt, in diesem Moment, das Gefühl des Friedens zu empfinden. Hier in dieser sanften Gegend, im Einklang mit der Umgebung. Ein leichter Wind kräuselte die Oberfläche des Wassers, er badete in der angenehmen Wärme der Sonne, roch den Duft des Grases und der wilden Kräuter. Er schloss die Augen und ergab sich der friedlichen Stille.

Arian schrak hoch, als Sylhyan in sein Gesicht schnaubte. Ein Blick auf die Sonne sagte ihm, dass es höchste Zeit für die Weiterreise war. Er hatte ruhig und tief geschlafen wie schon lange nicht mehr.

Er schwang sich wieder in den Sattel und Sylhyan stieg erneut auf. Vor ihm erhoben sich die Abhänge der Hügel von Kelingow, mit dichtem Gras bewachsene Erhebungen, die einst von den Ladarnos abgeholzt worden waren, um ihre Behausungen zu errichten. In der Ebene von Lithgow, wo sie sich angesiedelt hatten, gab es kaum Bäume, Holz war dort Mangelware.

Wenig später breitete sich unter ihm die Ebene aus wie ein Flickenteppich. Weite Grasflächen in sattem Grün, das Silbergrau des noch unreifen Getreides, vereinzelte bunte Tupfen von Blumenfeldern, dazwischen die Ansiedlungen der Bauern, wie Spielzeug, das ein achtloses riesiges Kind verstreut hatte.

Je näher er Silkarnon kam, desto unruhiger wurde er. Eine Tatsache, die ihn einigermaßen verstörte. Er war doch kein unreifer Junge, der sich vor der Begegnung mit seinem einzigen noch verbliebenen Verwandten fürchten musste!

Die Sonne berührte gerade den Horizont, als er die riesige würfelförmige Anlage von Silkarnon vor sich auftauchen sah. Die Burg war aus dem Kalkgestein des östlich gelegenen Gebirges von Hestgow errichtet worden, damals, als noch Frieden zwischen den Ladarnos und den Bewohnern von Mardonnon herrschte. Arian hatte einen Teil seiner Jugendzeit in diesen weißen Mauern verbracht und dort ein paar der schlimmsten Erfahrungen seines Lebens gemacht. Vielleicht waren es diese Erinnerungen, die sein Herz dazu brachten, schneller zu klopfen?

Er verschloss seine Gedanken, um sich auf die Landung vorzubereiten. Unter ihm tauchte der von weißen Mauern umgebene Park auf. Er entdeckte den Teich, in dessen Mitte den kleinen, ebenfalls weißen Pavillon, zu dem ein Steg führte. Alles sah unverändert aus. Er lenkte das Aylfar auf die große Rasenfläche zu, die genug Platz bot, um mit einem Windpferd zu landen.

Sylhyan setzte sanft auf und Arian wappnete sich gegen den Aufruhr, den sein Besuch auslösen würde. Noch war alles ruhig, niemand hatte bis jetzt seine Ankunft bemerkt. Er nahm Sylhyans Zügel auf und führte ihn auf das Tor zu, das den Hintereingang zum Hauptgebäude bildete. Die Hufe des Aylfars klapperten auf dem gepflasterten Weg und Arian seufzte innerlich, als er den ersten erstaunten Schrei hörte.

Gleich darauf war er umringt von staunenden Dienstboten, die ehrfürchtig mit gesenktem Kopf in die Knie gingen. Er hob die Hand, hielt sie über die Köpfe. „Heldon segne euch“. Dann winkte er einem Stallburschen, um ihm Sylhyans Zügel zu übergeben. „Er braucht nur Wasser und ein wenig Hafer. Führe ihn in eine ruhige Ecke des Stalls“, sagte er knapp. Der Bursche betrachtete das Windpferd staunend und nickte stumm, befolgte aber den Befehl und brachte Sylhyan zu den Ställen.

Arian ging mit weit ausgreifenden Schritten auf die Treppe des Hauptgebäudes zu.

Am Tor wurde er vom Haushofmeister empfangen, einem wichtig aussehenden Mann, der die Tracht Silkarnons trug – ein dunkelblaues Wams mit goldenen Knöpfen, dazu schwarze Hosen und das weiße Barrett, auf dem das Wappen der Burg prangte. Ein weißer Schwan auf grünem Grund, darunter zwei gekreuzte, goldene Ähren.

„Wen darf ich …? Oh, Euer Hochwohlgeboren …“ Der Mann riss Augen und Mund auf und vergaß, letzteren wieder zuzuklappen.

Arian hob grüßend die Hand. „Ich nehme an, der Herr von Silkarnon wird zu sprechen sein.“ Er trat durch das Tor in die Große Halle. Ein flüchtiger Blick sagte ihm, dass sich auch hier nichts verändert hatte. Der hohe, lichtdurchflutete Raum wurde von drei riesigen Kronleuchtern beherrscht, dessen Kerzen allerdings nur bei größeren Festlichkeiten entzündet wurden. Die Abendlaternen, in regelmäßigen Abständen an den Wänden angebracht, waren noch nicht erleuchtet.

„Ja, ja natürlich, Euer Hochwohlgeboren.“ Der Haushofmeister beeilte sich, mit ihm Schritt zu halten. „Es ist mir eine Ehre, Euch anzumelden.“

Arian wedelte mit der Hand. „Das ist nicht nötig. Sagt mir nur, wo er sich aufhält.“

„Um diese Zeit wird er noch im Arbeitszimmer sein, Euer Hochwohlgeboren.“

„Gut. Ihr habt sicher wichtigere Aufgaben als mich zu begleiten. Ich kenne den Weg.“ Und damit ließ er den sichtlich verblüfften Mann einfach stehen.

Arian durchquerte die Halle, ohne weiter auf seine Umgebung zu achten und betrat den Gang, der um den Innenhof verlief. Er blieb kurz stehen. Das Licht der tief stehenden Sonne, das durch die hohen Spitzbogenfenster fiel, warf helle Streifen an die weißen Wände und blendete ihn. Er wandte sich nach rechts, eilte an etlichen Türen aus dunklem Holz vorbei, ehe er innehielt und anklopfte.

Erinnerungen aus seiner Jugendzeit überfluteten Arian, als er das Gemach betrat. Der vertraute Geruch nach Papier und Leder drang in seine Nase und kurz glaubte er, das herb-holzige Aroma des Pfeifentabaks zu riechen, das untrennbar mit der Person seines Halbonkels und Vormunds verbunden war.

Das Zimmer lag im Schatten, auch hier waren die Kerzen noch nicht entzündet worden.

Der Mann, der am Schreibtisch saß, hatte bei seinem Eintreten überrascht den Kopf gehoben.

„Arian?“

Er ging auf seinen Bruder zu. Ifan hatte sich verändert, er sah älter und reifer aus. Sein Haar trug er nicht mehr offen, sondern hatte es im Nacken mit einem Band zusammengefasst. Ifan war aufgestanden, machte aber keine Anstalten, sich ihm zu nähern und senkte den Kopf. „Verzeiht, Euer Hochwohlgeboren. Ich grüße Euch.“

„Was soll das bedeuten? Ich bin dein Bruder, also kannst du auf diese Floskeln verzichten!“

Ifan zuckte zusammen und wurde blass. Noch immer vermied er es, Arian ins Gesicht zu sehen. „Du hast mir damals sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass du nichts mehr von mir wissen willst“, sagte er schließlich mit gepresster Stimme.

Schlagartig war Arians Zorn verpufft. „So hast du das also aufgefasst. Das tut mir leid, ich meinte es nicht so. Ich war – nicht ich selbst.“ Und bin es noch immer nicht, fügte er in Gedanken hinzu. Aber das ist nicht deine Schuld, mein Bruder.

Er versuchte ein Lächeln, streckte die Hand aus.

Ifan zögerte kurz, dann hob er den Kopf, blickte ihn an und ergriff Arians Rechte. „Du siehst gut aus. Besser als – damals.“

„Danke für die barmherzige Lüge.“ Arian musterte ihn aufmerksam. Dass auch Ifan Sorgen hatte, war nicht zu übersehen.

„Setz dich doch.“ Sein jüngerer Bruder wies mit einer Handbewegung auf einen Stuhl. Er ging zum Schrank, öffnete ein Fach und holte eine Flasche mit zwei Gläsern heraus.

„Noch immer der Rotwein aus Selinnark?“

Ifan lächelte. „Ja. Manches ändert sich zum Glück nicht.“ Er schenkte die rubinrote Flüssigkeit ein und bot Arian ein Glas an. Der nahm es und setzte sich auf den Stuhl, seinem Bruder gegenüber. Er nippte, die herb-süße Flüssigkeit rann durch seine Kehle, sammelte sich in seinem Magen und begann eine beruhigende Wärme auszustrahlen. Er seufzte tief und strich sich mit der Hand durch das Haar.

„Du hast mir eine sehr verwirrende Botschaft gesandt, Bruderherz.“

Ifan sah ihn überrascht und ein wenig verlegen an. Er betrachtete den Wein in seinem Glas und trank bedächtig. „Ich muss zugeben, dass mir etwas – unwohl war, als ich den Falken mit der Botschaft lossandte.“

„Unwohl? Wie das?“

Der Jüngere seufzte. „Dumme Sorgen eines Burgherrn. Zu viel Wein, zu fettes Essen. Solche Dinge eben.“

Von denen du nichts weißt. Der Satz lag in der Luft, aber keiner der beiden Männer sprach ihn aus. Die tiefe Kluft zwischen ihnen war auch so fühlbar.

„Das sind Ausflüchte“, sagte Arian ruhig. „Was beschäftigt dich wirklich?“

Er nahm einen Gedankenfetzen seines Bruders wahr. Edrina … sie ist … Arian sah ihn aufmerksam an. „Wie geht es deiner Gemahlin?“

Ifan zuckte zusammen. Seine Miene verschloss sich. „Das ist das Letzte, worüber ich mit dir sprechen möchte.“

Arian lehnte sich zurück. „Verzeih.“ Er hatte anscheinend einen wunden Punkt getroffen. Das kam davon, wenn er versuchte, eine unverfängliche Unterhaltung zu führen! Er beschloss, das Thema zu wechseln. „Du befürchtest also, dass der Schutzwall beschädigt ist und die Orrmoks eingefallen sind?“ Etwas Kaltes flackerte kurz in seinem Inneren auf, aber Arian versuchte, es nicht zu beachten.

Ifan runzelte die Stirn. „Ich bin mir nicht sicher, weiß selbst nicht, was ich davon halten soll.“

„Aber es beunruhigt dich immerhin so sehr, dass du beschlossen hast, deine Zurückhaltung mir gegenüber aufzugeben?“

Ifan schien den leichten Spott nicht zu bemerken. „Hast du denn selbst gar nichts gemerkt? Du müsstest es doch wissen. Gibt es keinerlei Anzeichen von Regungen von … dort?“ Er vermied es bei diesen Worten, Arian anzusehen.

„Nein. Ich habe nichts bemerkt.“ Weil ich es nicht wollte, selbst wenn etwas geschehen wäre. Selbst wenn SIE … Er zog die Schultern hoch, als ihn ein kalter Schauder überlief. „Nein, da war nichts“, sagte er dann und hoffte, dass seine Stimme fest genug klang.

„Also gut. Vor mittlerweile fünf Sonnenaufgängen kam der Dorfvorsteher von Halin’Din zu mir und berichtete, dass eine Herde von hundertfünfundzwanzig Rindern und drei Hirten von der Weide verschwunden sind.“

„Verschwunden?“ Arian lächelte ungläubig. „Vielleicht wurden sie gestohlen?“

„Nein, das glaube ich nicht. Die Tiere werden im Frühjahr in das Gebirge getrieben, um die Almen abzuweiden. Jeder Bauer hat vor Urzeiten seinen Abschnitt zugewiesen bekommen. Die Kühe werden gut bewacht, sie sind das wertvollste Gut der Dorfbewohner. Am Abend, als sie in die Pferche getrieben wurden, waren alle noch da. Am nächsten Morgen – nichts. Der Pferch war leer, es gab nicht die geringsten Spuren. Als hätten sie sich in Luft aufgelöst und ihre Bewacher dazu.“

„Es war Neumond, oder?“ Ein mulmiges Gefühl breitete sich in Arian aus. War es denkbar, dass die saugenden Schatten tatsächlich einen Weg gefunden hatten, den Schutzwall zu durchbrechen?

Ifan nickte. „Das alles brachte die Bauern zu der Überzeugung, dass die Orrmoks wieder ihr Unwesen treiben.“

„Ich müsste an den Ort des Geschehens reisen, um mich selbst zu überzeugen“, murmelte Arian.

Ifan sah ihn überrascht an. „Ich dachte, du könntest dein Licht …“

„Nein.“ Arian schüttelte heftig den Kopf. „Meine Kraft reicht nicht so weit. Nicht mehr. Und ich möchte die Schwarze nicht herausfordern. Wer weiß …“ Er schwieg und legte die Hand auf seine Brust. Wie konnte er seinem Bruder die fatale Verbindung mit seiner Erzfeindin begreiflich machen? Seine Stärke war ihre ebenso wie seine Schwäche ihre war.

„Du hast Angst,“ sagte Ifan ruhig und starrte auf Arians Hand. „Du hast so große Angst vor ihr, dass du es nicht einmal gewagt hast, zu prüfen, ob der Schutzwall unbeschädigt ist. Was bei Heldon hast du die ganze Zeit über gemacht? Hast du deiner Gabe so völlig entsagt?“

Arian senkte den Kopf. „Ich habe - geforscht.“

„Geforscht?“ Ifan lächelte ungläubig.

„Ja. Ich habe die Aufzeichnungen unseres Vaters durchgelesen, immer wieder. So lange, bis ich dachte, dass alles Unfug sein muss, die Ergüsse eines wirren Geistes.“ Er lachte bitter. „Ich bin kein Sardar mehr, geschweige denn, dass ich den Titel Arcsardar verdiene. Ich bin nur ein erbärmliches Wrack.“

Ifan stieß den Atem aus. „So schlimm? Noch immer?“

Arian nickte. Das Mitgefühl, das er im Blick des Jüngeren las, machte das alles nicht besser. Er kam sich feige und schwach vor.

„Ich kann deine Gabe nicht teilen“, sagte Ifan in die entstandene Pause. „Nichts davon, was du erdulden musstest und noch leiden wirst müssen, kann ich erfassen. Ich weiß nur, dass unter allen Umständen verhindert werden muss, dass der Lichtwall durchbrochen wird. Wäre es wenigstens möglich, ihn an Ort und Stelle zu überprüfen?“

„Ja.“ Arian zögerte. Seine Gabe nur dazu einzusetzen, um einen möglichen Riss im Schutzwall zu beseitigen, mochte vielleicht nicht genug Aufmerksamkeit erregen, um die Schwarze zu stören. Auch wenn das bedeutete, eine längere Wanderung unternehmen zu müssen.

„Wir könnten gemeinsam reisen“, sagte Ifan in seine Gedanken. „Es kann ohnehin nicht schaden, den Dörfern wieder einmal einen Besuch abzustatten, um meine Pflichten als Großfürst wahrzunehmen.“

Arian zuckte mit den Schultern. „Wird dich deine junge Gemahlin nicht vermissen?“

Ein Schatten legte sich auf das Gesicht seines Bruders. „Nun, dies lass meine Sorge sein. Wenn du möchtest, kannst du dich vor dem Abendessen ein wenig erfrischen. Ich werde Anweisung geben, dass dir deine früheren Gemächer wieder zur Verfügung stehen.“

Arian verzog gequält sein Gesicht. „Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gerne davon Abstand nehmen. Zu viele schlechte Erinnerungen. Ein einfaches Gästezimmer reicht vollkommen.“

Ifan lächelte traurig. „Natürlich, wie du möchtest.“

Das Abendessen wenig später wurde zu einem kleinen Fiasko, das vor allem Ifans Gemahlin zu verdanken war. Zwar schien sie eine gute Hausfrau zu sein, die mit Umsicht die Dienstboten beaufsichtigte und das Essen war von allerbester Qualität. Edrina d’Ordana zählte vielleicht sechzehn Sonnenumläufe, ein Mädchen von erlesener Schönheit, groß und von zartem Wuchs wie eine junge Birke, mit den tiefblauen Augen und dem hellen, blonden Haar der Ladarnas. Arian konnte verstehen, dass Ifan von ihrem Anblick bezaubert sein musste. Dass sie vor Ehrfurcht vor dem hohen Gast wie erstarrt war und den Blickkontakt mit dem Arcsardar mied, verstand Arian noch, auch wenn er nicht mehr daran gewöhnt war. Aber sie benahm sich die ganze Zeit über wie ein gehetztes Reh, wich selbst den Blicken ihres Gemahls aus, verschüttete beinahe ihr Wasser und aß so gut wie gar nichts. Es war, als hätte sie vor irgendetwas oder irgendjemandem große Angst. Arian überkam Mitleid mit dem armen Geschöpf, obwohl er ihr Verhalten nicht verstand. Ifan war bestimmt kein harter Mann, der eine Frau züchtigte. Ihre Gedanken aufzufangen vermied er bewusst. Es hätte sie mit Sicherheit noch mehr verstört. Insgeheim atmete er auf, als Edrina sich nach der Mahlzeit zurückzog.

Ifan warf ihr einen traurigen Blick nach, gab aber keine Erklärung und Arian drang nicht in ihn.

Die beiden Männer machten es sich in Ifans Gemächern im Westtrakt bequem, traditionsgemäß die Räumlichkeiten des Burgherrn.

Das Licht zahlreicher Kerzen milderte die Schatten der Nacht. Der Abend war lau, die weit geöffneten Fenster mit Blick in den Garten ließen den Duft des Geißblatts ein, das in voller Blüte stand.

Ifan schenkte Arian und sich Rotwein ein und ließ sich mit einem tiefen Seufzer in einen Lehnsessel fallen.

„Ich werde alles veranlassen, damit wir in zwei Sonnenaufgängen abreisen können. Drei meiner vertrauenswürdigsten Männer werden uns begleiten. Es lässt mir keine Ruhe.“

Und du bist froh, deiner Gemahlin entfliehen zu können, dachte Arian. „Was ist nur zwischen euch geschehen?“

Ifan zuckte mit den Schultern. „Was meinst du?“

„Deine Gemahlin. Sie wirkte auf mich – seltsam.“ Er lächelte flüchtig. „Verzeih. Ich weiß nicht recht, wie ich es beschreiben soll. Sie hat wohl Schreckliches durchgemacht? Ich wollte nicht in ihre Gedanken dringen.“

Ein schmerzlicher Ausdruck erschien auf Ifans Gesicht. „Ich hätte dich beinahe darum gebeten. Sie spricht sehr wenig zu mir. Vielleicht war es ein Fehler, sie zur Frau zu nehmen. Sie ist noch so jung und …“

„Wer ist sie? Sie trägt ihren eigenen Namen, also ist sie die Erbin ihrer Familie?“

„Ja, sie ist das einzige Kind des Fürsten von Lithgow.“

„Lithgow?“ Arian runzelte die Stirn. „Das heißt, sie muss verwandt sein mit den de Wendaws.“ Hitze flutete durch ihn, er sprang auf. „Du hast dich mit dieser Familie eingelassen?“

Ifan schluckte und sah ihn an. „Ja, sie ist Ivenduras Nichte, aber sie hatte nichts mit ihr zu tun. Ich liebe Edrina von ganzem Herzen und ich wollte endlich einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen.“

„Ach?“ Arian schnaubte spöttisch. „Wie es scheint, ist dir das durchaus nicht gelungen. Sie scheint ja vor Angst beinahe zu sterben! Vor allem hätte ich nicht gedacht, dass du so blind und dumm sein könntest. Diese Familie hegt tiefen Hass gegen uns!“

„Den wir dir zu verdanken haben, nicht wahr?“ In Ifans Augen las er den Zorn und die Ohnmacht, die er selbst verspürte. Mit einem harten Ruck stellte Arian das Weinglas ab. „Wie kommst du darauf? Glaubst du noch immer den giftigen Einflüsterungen der Klatschweiber? Wenn das so ist, dann ziehe ich mich besser zurück!“ Schmerz überschwemmte ihn, so heftig, dass er beinahe keine Luft bekam.

„Warte!“ Ifan streckte die Hand aus. „Es tut mir leid. Ich …“

Arian starrte ihn an, noch immer außer sich. „Du weißt nichts von mir. Du hast nicht die geringste Ahnung, was mir angetan wurde. Und ich hätte nie gedacht, dass du die de Gordaws dermaßen verraten würdest!“

„Weil du nie darüber sprichst! Woher soll ich wissen, was dir zugestoßen ist? Ich weiß nur, dass es furchtbar gewesen sein muss, dass du beinahe gestorben wärst. Und du bist nur mehr ein Schatten deiner selbst. Warum erzählst du mir nicht endlich alles?“

„Ich kann nicht.“ Wütend schluckte Arian die Tränen hinunter, die in ihm aufsteigen wollten. „Wenn du willst, dass ich bleibe und dir helfe, erwähne nie mehr den Namen Ivenduras. Und sprich auf keinen Fall von der Schwarzen!“

Ifan streckte mit einer seltsam hilflosen Geste die Hand aus. „Bitte warte! Ich werde dir sagen, was es mit meinem angeblichen Verrat auf sich hat. Vielleicht änderst du dann deine Meinung.“

Arian focht einen stummen Kampf mit sich selbst aus. Er fing Ifans Gedanken auf. Sorge, aufrichtiges Mitgefühl und Liebe bildeten eine Mischung, der er sich nicht entziehen konnte. Er setzte sich mit einem tiefen Seufzer.

„Vor zehn Monden suchte ich den Fürsten von Lithgow in einer heiklen Mission auf. Immer wieder wurden Beschwerden an mich herangetragen, dass er seine Untergebenen behandelte wie Sklaven. Die Bauern müssen weit über das übliche Maß Abgaben leisten und Frondienste verrichten, denn er will seine Burg vergrößern. Er ist ein Mann, der Prunk über alles liebt, wie ich mich selbst überzeugen konnte.“

„Diese Familie hat sich immer schon durch ein Übermaß an Stolz und Überheblichkeit ausgezeichnet“, warf Arian mit gerunzelter Stirn ein.

„Ja, das ist leider nur allzu wahr. Ich war ebenso entsetzt über sein Gebaren seiner Familie gegenüber. Seine Gemahlin Gildry ist eine sanfte, zurückhaltende Frau, die bestimmt unter seiner Willkür zu leiden hat.“

„Edrina ist ihr einziges Kind?“

„Ja.“ Ein schmerzliches Lächeln zuckte über Ifans Gesicht. „Sie ist mit dem Makel des falschen Geschlechts geboren worden. Erco d’Ordana wollte einen männlichen Erben, der ihm leider versagt blieb, nachdem seine Gemahlin zahllose Fehlgeburten hatte.“

„Eine allzu tragische Geschichte“, murmelte Arian. „Leider gibt es immer noch Männer, die glauben, sich über ihre Frauen erheben zu müssen. Er züchtigt sie?“

„Ja, ganz bestimmt. Ich bin nicht ganz sicher, ob er nicht auch …“

Ihre Blicke begegneten sich. Trauer und verhaltener Zorn überschwemmte Arian und für einen Augenblick fühlte er sich eins mit Ifan – so wie früher. „Bei Heldon - also hat er auch vor seiner Tochter nicht Halt gemacht?“

Ifan lächelte grimmig. „Ich weiß es nicht. Aber ihr Verhalten deutet ganz darauf hin. Sie hat nicht nur vor mir Angst, sondern vor Männern im Allgemeinen. Da fasste ich den Beschluss, sie ihrem Vater zu entziehen. Ich wollte sie ursprünglich zu meinem Mündel machen, weil sie noch so jung ist – fünfzehn Sonnenumläufe“, sagte er auf Arians fragenden Blick. „Aber er meinte, ich müsse sie zur Gemahlin nehmen. Alles andere wäre – unschicklich.“

„Was? Dieser Mann ist die Unverschämtheit in Person!“ Arian schüttelte ungläubig den Kopf. Aber er verstand Ifan jetzt. Allerdings hatte sich sein Halbbruder durch seine Barmherzigkeit in eine sehr missliche Lage gebracht.

„Sie wird mir einen Erben schenken müssen, denn sonst fällt Silkarnon nach meinem Tod an Lithgow.“ Ifan sprach das aus, was Arian nicht hatte sagen wollen. „Das ist zurzeit undenkbar, solange das arme Kind so verstört und verängstigt ist.“

„Und das hat der schlaue Fürst bestimmt bedacht“, vollendete Arian. Er legte in einer spontanen Geste die Hand auf den Arm Ifans. „Ich werde versuchen, euch zu helfen. Obwohl es nicht leicht sein wird. Deine Gemahlin hat vor mir noch mehr Angst als vor dir.“

Lilie und Drache

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