Читать книгу Lilie und Drache - Karin Kehrer - Страница 7
Kapitel 4
ОглавлениеDas Surren der Nähmaschine erfüllte das kleine Wohnzimmer. Sheila arbeitete an der Fertigstellung der roten Chiffonrobe.
Carys nahm das Geräusch nur gedämpft wahr. Sie hatte Kopfhörer aufgesetzt und hörte The Kingsmen. Nachdem Sheila sich über ihren Musikgeschmack entsetzt hatte – „WAAS? Folk Music? Das gibt’s doch nicht! Das ist doch was für alte Leute!“ – wollte sie ihre Freundin nicht damit belästigen. Aber sie liebte nun einmal die traditionellen Lieder und sang auch gelegentlich in einem Chor mit. Wenn sie in Stimmung war, komponierte sie auch selbst einfache Songs.
Sie blätterte im Skript für das neue Stück. Zwar sollten die Aufführungen im Globe erst im März nach der Winterpause starten, aber sie musste sich schon früh genug Gedanken über die Charaktere machen. Es sollte eine Art Persiflage auf Romeo und Julia sein, die in den 1990-igern spielte. Die Hauptrolle würde Peggy Smithers übernehmen, eine zart gebaute, groß gewachsene Blondine, die bestimmt keine schüchterne, unerfahrene Julia sein würde.
Romeo als Yuppie, kein Gifttrank, sondern Kokain.
Die Herstellung der Kostüme würde kein großes Problem sein, Alltagskleidung, Anzug, Jeans und T-Shirt. Bauchfrei womöglich, das war zu dieser Zeit der letzte Schrei gewesen.
Mit einem Seufzer legte Carys das Manuskript zur Seite. Sie bevorzugte die klassischen Aufführungen mit den elisabethanischen Kostümen, wo sie sich so richtig austoben und in Samt und Spitzen schwelgen konnte.
Sie warf einen Seitenblick auf Sheila, die keine Notiz von ihr nahm und sich konzentriert über die Nähmaschine beugte. Vielleicht war jetzt der richtige Zeitpunkt, um ihr unverhofftes Schnäppchen vom Vormittag genauer unter die Lupe zu nehmen. Sie holte die Tasche, in die sie es gesteckt hatte, aus der Garderobe und zog sich in ihr Schlafzimmer zurück.
Behutsam wickelte sie das Kästchen aus der seidenen Umhüllung. Mit dem Tuch wischte sie den Staub ab, der sich in den Einkerbungen der Schnitzerei angesammelt hatte. Der Körper des Drachens war mit angedeuteten Schuppen bedeckt, seine Flügel lagen eng an den Körper gefaltet. Das Tier wirkte beinahe lebendig und wand sich in einem Bogen um die stilisierte Lilienblüte, die allerdings keine Ähnlichkeit mit den üblichen Darstellungen der Fleur-de-Lys, der französischen Lilie, hatte. Sie war viel naturgetreuer dargestellt.
Warum kam ihr das Motiv nur so bekannt vor?
Das Holz strömte jetzt, befreit aus der Umhüllung, wieder diesen intensiven Duft aus, den sie nicht einzuordnen vermochte. Nun musste sie nur noch herausfinden, wie man das Ding öffnete. Es wies nichts auf ein Schloss hin. Die Wände und der Boden waren völlig glatt und aus einem Stück. Es sah aus, als wäre der Deckel einfach aufgesetzt worden. Vielleicht eine geheime Feder im Wappen? Carys drückte auf alle möglichen Stellen, aber nichts rührte sich. Schließlich versuchte sie, mit dem Fingernagel den winzigen Spalt aufzuzwängen, aber das war ein sinnloses Unterfangen. Sollte sie es mit einem Messer probieren? Sie ging in die Küche, um eines zu holen und stieß auf Sheila, die gerade im Stehen ein Erdnussbutter-Sandwich verdrückte. „Du auch?“, meinte sie zwischen zwei Bissen.
Carys schüttelte den Kopf. „Ich bräuchte nur das große Messer.“
Sheila zog die Brauen hoch und reichte es ihr, nachdem sie es abgewaschen hatte. Carys wollte sich nicht mit einer Erklärung aufhalten und verschwand damit wieder im Schlafzimmer, ahnend, dass ihre Freundin ziemlich verwundert über ihr Verhalten sein würde.
Sie setzte die Spitze des Messers vorsichtig an, aber der Spalt war nicht breit und tief genug, sie fand keinen Halt. Es widerstrebte ihr, das Kästchen mit Gewalt zu öffnen, also ließ sie es sein. Ein wenig ratlos drehte sie es in den Händen. Wozu sollte es nutzen, wenn nicht, um etwas darin aufzubewahren?
„Sorry, ich wollte dich nicht stören, aber könnte ich das Messer wiederhaben?“
Carys zuckte zusammen. Sie musste Sheilas Klopfen überhört haben. Natürlich fiel ihr Blick sofort auf das Kästchen in Carys‘ Händen. „Hey, was ist denn das? Sieht ja cool aus.“
„Ich habe es heute zufällig in einem Antiquitätengeschäft entdeckt.“
„Lass doch mal sehen.“
Carys legte das Kästchen in Sheilas Hände. Die begutachtete es von allen Seiten. „Scheint ziemlich alt zu sein. Merkwürdiges Holz, so eines habe ich noch nie gesehen.“
„Ja, das ist mir auch schon aufgefallen. Es lässt sich allerdings nicht öffnen. Zumindest habe ich noch nicht entdeckt, wie es funktioniert.“
„Hm. Ein Geheimverschluss? Ist ja aufregend. Das Wappen ist hübsch. Und es riecht … mmmh!“ Sie verdrehte die Augen und schnalzte mit der Zunge. „Einen Mann, der so riecht, würde ich auf der Stelle vernaschen!“
Carys musste lachen. „Vielleicht gehörte es ja einem Casanova, der damit Frauen anlockte?“
„Und jetzt ist er seit Ewigkeiten tot und wir sitzen ohne ihn da und können nur an diesem Ding schnuppern. Schön blöd!“ Sheila kicherte. „Hast du schon nachgesehen, was das für ein Wappen ist?“
„Nein. Daran habe ich noch gar nicht gedacht.“
„Siehst du? Ein klarer Fall von amouröser Vernebelung!“ Sheila sprang auf, als Carys spielerisch nach ihr schlug.
Gleich darauf kam sie mit ihrem Notebook zurück. „Jetzt werden wir mal nachforschen, ob wir nicht das Geheimnis dieses hübschen Dings knacken können.“
Eine ganze Weile später mussten sie allerdings aufgeben, nachdem sie Unmengen von Bildern mit Wappen, Tattoos und Schmuckstücken durchgesehen hatten. Sie fanden kein Motiv, das dem auf dem Kästchen auch nur ähnlich war. Trotzdem hatte Carys noch immer das Gefühl, es schon irgendwo gesehen zu haben.
„Ich hatte ja zuerst gedacht, es könnte der walisische Drache sein“, überlegte Sheila. „Würde passen, weil du ja von dort kommst.“ Sie grinste.
„Nein, der hat überhaupt keine Ähnlichkeit mit dem da. Hast du ja gerade gesehen. Außerdem hat der walisische Drache keine Lilie dabei.“
Mit einem Mal hielt sie inne. Lilie und Drache. Vielleicht …
Sie holte einen Stuhl und schob ihn zu ihrem Kleiderschrank. „Ich habe doch meine alten Zeichenmappen mitgenommen“, erklärte sie der erstaunten Sheila.
Die Schachtel lag noch auf dem Schrank, wo sie sie nach ihrem Einzug deponiert hatte. „Die habe ich als Kind gemacht.“
Sie hob vorsichtig den Deckel ab, um nicht zu viel Staub aufzuwirbeln. Schlagartig kam die Erinnerung an ihre Kindheit zurück. An die Zeit nach dem Tod ihres Vaters, in der sie sich in eine Fantasiewelt flüchtete, um die Traurigkeit und die Leere auszuhalten. Sie hatte wie besessen zu zeichnen begonnen.
„Du hast damals schon für das elisabethanische Zeitalter geschwärmt“, meinte Sheila, als sie die sorgfältig ausgearbeiteten, detailreichen Kostümentwürfe sah.
„Kann sein. Mir war das damals aber gar nicht bewusst.“ Carys blätterte die Blöcke durch. Neben Kostümen hatte sie auch Landkarten von fiktiven Königreichen und Gebäude gezeichnet und Burganlagen entworfen. Ritter und Damen in wunderschönen Kleidern bevölkerten sie, dazu gab es Einhörner, geflügelte Pferde und …
„Hier, das ist es!“ Ihre Hände begannen zu zittern, als sie das Blatt betrachtete. Drache und Lilie! Haargenau wie auf dem Kästchen!
Sheila starrte mit großen Augen auf die Zeichnung und dann in ihr Gesicht. „Das – das ist jetzt aber echt gruselig! Du meinst, du hast dieses Kästchen heute zufällig in diesem Geschäft entdeckt? Und die Zeichnungen – die hast du als Kind gemacht?“
Carys nickte wortlos. Sheila hatte recht. Das war gruselig.
Lähmende Stille breitete sich zwischen ihnen aus.
„Könnte es sein, dass du die Zeichnung mal jemandem gezeigt hast und der hat dieses Ding geschnitzt?“
„Nein, das glaube ich nicht. Mum hat das eher als Zeitverschwendung gesehen, ich habe sie immer heimlich gemacht. Und meine Schwester interessierte sich nie dafür. Das war meine Welt, die habe ich mit niemandem geteilt.“
„Naja, vielleicht hast du es nur vergessen? Du konntest dich ja zuerst auch nicht erinnern, dass du das Motiv selbst entworfen hast.“ Sheila lächelte unsicher. „Die einfachste Erklärung wäre allerdings, dass du das Wappen irgendwo gesehen und nachgezeichnet hast.“
Carys runzelte die Stirn. „Vielleicht hast du recht. Ich kann mich aber nicht daran erinnern. Auf jeden Fall ist das Ganze ziemlich merkwürdig. Und ich weiß immer noch nicht, wie man das Ding öffnet. Ich wüsste zu gern, ob etwas drinnen ist.“
Sheila nahm das Kästchen in die Hand, hielt es an ihr Ohr und schüttelte es. „Ich hör nichts.“
„Na gut. Dann stell ich es eben einstweilen auf die Kommode“, meinte Carys leichthin, während sie die Blöcke wieder in die Schachtel zurücklegte. In Wahrheit war sie tief beunruhigt. Noch einmal studierte sie die Zeichnung. Sie stimmte bis auf das kleinste Detail mit dem Motiv auf dem Deckel der Schatulle überein. Sie hatte sie datiert, wie alle anderen auch.
13. September. Der Todestag ihres Vaters.
Ein Schauder lief über ihren Rücken. Sie warf das Blatt in die Schachtel, stülpte den Deckel darüber und schob sie mit einer heftigen Bewegung unter das Bett.