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Kapitel 9

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Die Dunkelheit ist wieder da. Dicht und furchteinflößend. Kälte hüllt sie ein, macht sie bewegungslos. Sie lauscht, weiß, was geschehen wird. So viele Male hat sie es erlebt, hat diesen Traum schon geträumt. Ja, es ist ein Traum, nur ein Traum. Er geht vorbei. Aber warum kommt er immer wieder?

Mit weit aufgerissenen Augen horcht sie in die Finsternis, wartet auf dieses Geräusch, das den Tod bringen wird.

Doch diesmal ist es anders. Da ist nichts. Nur die undurchdringliche Finsternis und die Kälte, die in ihren Körper kriecht. Sie muss hier weg! Bevor die Schatten wiederkommen und sie auffressen.

Oh Gott, bitte hilf! Licht! Ich brauche Licht!

Mit einem Mal kann sie die Arme heben, die Hände ausstrecken. Ja! Ich werde einfach gehen, weg von diesem schrecklichen Ort! Alles wird gut! Es ist ein Traum, nur ein Traum …

Zögernd schiebt sie ihre Zehenspitze vor, stößt auf eine kleine Erhebung. Der Boden unter ihren nackten Füßen ist leicht abschüssig, grob zusammengefügte Steine, rau und uneben. Vorsichtig, bloß nicht stolpern!

Quälend langsam tastet sie sich mit ausgestreckten Händen vorwärts. Nichts kann sie hören außer das Geräusch ihres angestrengten Atems, der sich in feuchten Tröpfchen auf ihr Gesicht legt.

Etwas streift ihre Wange. Etwas Weiches, Kaltes. Sie zuckt zusammen, wimmert. Jetzt ist er wieder da, dieser tödliche Schatten! Gleich wird er sie überfallen, ihr das Leben aussaugen!

Aber nichts geschieht. Das Ding bleibt reglos auf ihrem Gesicht liegen. Es ist feucht, riecht nach Moder und verfaulten Pflanzen. Sie hebt die Hände. Sind das Blätter? Eine Art Schlingpflanze? Sie streift das Ding ab, es gleitet zurück in die Finsternis. Ihre Hände stoßen auf noch mehr von diesen toten Strängen, die von einer unsichtbaren Decke baumeln. Sie teilt sie wie einen Vorhang und mit einem unheimlichen Wispern schließen sie sich wieder hinter ihr.

Der Weg durch diese Finsternis hört nicht auf. Endlos lange tappt sie weiter über den Steinboden, immer leicht bergab. Oder tritt sie auf der Stelle? Die Kälte erobert ihren Körper immer mehr, dringt in sie ein. Sie spürt ihre Füße nicht mehr, kraftlos sinken ihre Hände hinunter. Sie wird in dieser grausigen Finsternis erfrieren. Ihre Beine knicken ein, sie sinkt auf den Boden. Es gibt mehr als eine Art, zu sterben …

Carys blinzelte, öffnete die Augen und starrte verwirrt auf die Zimmerdecke über ihr. Dunkle Balken zwischen weißem Kalkverputz. Wo war sie nur? Sie setzte sich auf, sah sich um. Mondlicht fiel in schmalen Streifen durch geblümte Vorhänge auf den einfachen Tisch am Fenster und die Lehne des Stuhls. Natürlich. Sie war auf der Farm der Jones‘, in Curts ehemaligem Zimmer. Ihr war kalt, obwohl sie die Fenster vor dem Zubettgehen geschlossen hatte. Sie strich sich die feuchten, wirren Haare aus dem Gesicht. Ihr Pyjama war schweißdurchtränkt.

Fröstelnd schlüpfte sie unter der Decke hervor, stand auf und kramte in ihrem Koffer nach einem T-Shirt zum Wechseln. Erstaunt bemerkte sie das sanfte Licht, das darin schimmerte. Sie wühlte durch die Kleidung und stieß zuunterst auf das Holzkästchen, kicherte hysterisch. Das Kästchen leuchtete wieder! Sie holte es heraus. Es fühlte sich warm an und es war ihr, als hätte sie eine Art Déjà-vu.

Am Abend zuvor hatte Carys nicht mehr daran gedacht, es Curt zu zeigen. Auch, weil sich keine rechte Gelegenheit dazu bot. Sie waren dabei gewesen, eine Wanderung auf den Mount Snowdon zu planen, die sie in ihrer Kindheit öfters gemacht hatten.

Vorsichtig stellte sie das Kästchen auf das Bett, schlüpfte in ein trockenes T-Shirt und wickelte die Decke um ihren Körper. Dann legte sie die Hände auf das Holz. Die sanfte Wärme war eine Wohltat für ihre eiskalten Finger. Sie strich über das Wappen und das Kästchen öffnete sich. Sie zog das Pergament vorsichtig heraus. Es lag ruhig auf dem Bett, strahlte in diesem Licht, das sie schon kannte. Als sie es berührte, zog es sich leicht zusammen und breitete sich wieder aus. Carys zuckte erschrocken zurück. Das Pergament begann sich mit einem leisen, rhythmischen Rascheln zu bewegen, es war, als würde es atmen.

War das wieder dieser seltsame Traum? Hatte er mit dem Albtraum zu tun? Oder war es nur eine Weiterführung? Eine Halluzination, die sich immer mehr verstärkte?

Was bist du? Was willst du von mir? Hatte sie die Worte gesprochen oder nur gedacht? Es war nicht wichtig, denn das Pergament rührte sich wieder. Worte erschienen und diesmal erkannte sie die Buchstaben sofort.

Sei gegrüßt, Tochter des Drachens, Wächterin des Lichts.

Vier Provinzen bilden das Große Reich der Sardars.

Sardaryon – die Waldreiche, dort, wo der Sonne Lauf den Himmel meidet

Ladarnon – die Fruchtbare, dort, wo das Licht der Sonne ihre Kinder reich beschenkt

Mardonnon – die Felsenreiche, dort wo das Herz des Reiches liegt

Zordon – die Wasserreiche, dort, wo die Sonne ihren Lauf beginnt

Seit Urzeiten waren die vier Provinzen des Reichs zwischen den Familien der Sardars aufgeteilt nach Macht und Einfluss. Der Familie de Merchaw war die Provinz im Osten, die Zordon heißt, zugesprochen. Ein wahres Paradies mit vielen seltenen Pflanzen und Tieren nannte Zyn de Merchaw, Großfürst von Zordon, sein eigen. Und doch hatte Berkan den Samen der Unzufriedenheit und des Neids in sein Herz gesät. Denn nicht alle Sardars waren gefeit gegen das Böse. Zyns Provinz war die kleinste der vier und er fühlte sich benachteiligt. Seine Gemahlin war unter höchst merkwürdigen Umständen zu Tode gekommen, aber da niemand ihn anklagte, wurde er auch nicht zur Rechenschaft gezogen. Einzig seine Tochter Zorda war ihm geblieben, ein wunderschönes Mädchen, das von Heldon reich mit der Gabe des Lichts beschenkt worden war. Dieses Mädchen war Zyns ein und alles, er hätte ihr den Mond vom Himmel geholt, wenn es in seiner Macht gestanden hätte.

Solch überquellende Zuneigung und Liebe bringt aber nie etwas Gutes. Zorda wuchs zu einer herrschsüchtigen jungen Frau heran, die erwartete, dass stets alle ihre Wünsche erfüllt wurden.

Zyn hatte in seiner Gier, die ihm von Berkan eingeimpft worden war, sein Auge auf die schöne Provinz Sardaryon geworfen, die gesegnet war mit Wäldern, aus denen edle Hölzer gewonnen wurden. Hier hatten sich die edelsten der Sardars aus dem Geschlecht der de Gordaws niedergelassen, denn sie liebten die reine Luft und die karge Schönheit der Landschaft. Seit langer Zeit war die stolze Feste Colheldon Sitz des Arcsardars, des Obersten aller Wächter des Lichts.

Der älteste Sohn des damaligen Arcsardars, Lloris de Gordaw, war reich an Tugenden und von edlem Aussehen. Zyn de Merchaw fasste den Plan, seine Tochter mit Lloris zu vermählen.

Zorda war angetan von dieser Absicht, denn sie verliebte sich auf den ersten Blick in den schönen Jüngling und bald befiel sie unstillbare Leidenschaft nach ihm.

Doch Lloris war bereits einer sanften, ebenso tugendhaften Sardar aus der Provinz Mardonnon versprochen, die er innig liebte, und schlug die Hand Zordas aus.

Zyn de Merchaw geriet in schrecklichen Zorn und ließ die junge Braut noch vor der Vermählung entführen und zu Tode foltern.

Der junge Lloris war untröstlich über den Tod seiner Geliebten. Er trauerte und weinte so sehr um sie, dass seine Tränen sich in einem Tal sammelten und einen großen See bildeten. Dieser See ist auch heute noch der größte in Sardaryon und trägt seinen Namen. Sein Wasser schmeckt leicht salzig.

Zorda, die nun glaubte, leichtes Spiel zu haben, da die Rivalin beseitigt war, ließ Lloris entführen und nach Zordon bringen. Sie versprach ihm die größten Reichtümer, die Herrschaft über das ganze Reich der Sardars, ihre ewige Liebe. Doch der junge Mann widerstand ihren Verführungskünsten und stürzte sich in seiner Verzweiflung von den Zinnen der Burg.

Außer sich vor Zorn und Enttäuschung schwor Zorda dem Licht ab und verbündete sich mit der Dunkelheit. Ihr erstes Opfer war ihr eigener Vater, dem sie zürnte, weil er ihr nicht wie versprochen die Hand des Jünglings Lloris hatte schenken können. Von da an verbreitete sich das Unheil über das Reich der Sardars wie ein bösartiges Geschwür und niemand konnte es aufhalten.

Das Lärmen von trappelnden Füßen riss Carys aus dem Tiefschlaf, in den sie nach ihrem merkwürdigen nächtlichen Erlebnis gefallen war. Sie gähnte und sah auf ihr Handy. Halb acht. Das mussten die Zwillinge sein, die zur Schule aufbrachen. Eine Viertelstunde würde sie sich noch gönnen.

Als sie das nächste Mal aufwachte, war es halb neun und die Sonne schien durch das Fenster. Sie streckte sich genüsslich. Im Haus herrschte Stille. Ohne Eile stand sie auf, ging unter die Dusche und dann die Treppe hinunter. Sie hörte Annes Stimme aus dem kleinen Büro, das sie neben der Küche eingerichtet hatte und warf einen Blick hinein. Ihre Schwester telefonierte gerade und winkte ihr, zu bleiben. Sie wartete, bis Anne das Gespräch beendet hatte.

„Bore da. Du hast offensichtlich gut geschlafen.“ Anne lächelte sie an.

Carys erwiderte den Gruß. Dass ihr Albtraum offenbar eine andere Dimension angenommen hatte, als würde sich etwas in ihr verselbständigen und eine neue Geschichte beginnen wollen, erschien ihr jetzt, im strahlenden Licht dieses Morgens, widersinnig. Hatte sie wirklich dieses merkwürdige Märchen von einer enttäuschten Liebe gelesen? Was sollte es bedeuten? Sie konnte und wollte jetzt nicht darüber nachdenken.

„Wenn du willst, mache ich dir Frühstück.“ Anne stand auf, aber Carys winkte ab. „Lass dich nicht von der Arbeit abhalten, du hast sicher Wichtigeres zu tun.“

„Ach was. In Wahrheit könnte ich eine Pause und eine Tasse Kaffee gut vertragen. Die Zahlenspielerei ist ja ganz nett, aber auch anstrengend.“

Carys lachte. Anne liebte die Welt der Zahlen - im Gegensatz zu ihr.

„Und? Was hast du heute vor?“ Anne goss aus einer Kanne Kaffee in Tassen, schob zwei Schnitten Brot in den Toaster und stellte Marmelade und Butter auf den Tisch. „Möchtest du Eier oder Schinken?“

Carys schüttelte den Kopf. „Mach dir keine Umstände. Ich frühstücke normalerweise nicht.“

„Eine schlechte Angewohnheit. Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages. Nicht nur für Engländer, auch für Waliser“, dozierte Anne, lächelte aber dabei.

„Klar. Aber meistens ist mir mein Schönheitsschlaf lieber und dann reicht die Zeit nicht mehr. Aber jetzt bin ich in Urlaub. Deshalb werde ich meine Freizeit einfach nur genießen.“

„Das heißt, du erwartest kein Programm von mir“, stellte Anne fest. Carys sah sie überrascht an. Das war neu.

Anne grinste ein wenig schief. „Curt hat mir ordentlich die Leviten gelesen von wegen, ich soll dich nicht so bevormunden.“

„Ehrlich?“ Vielleicht ging ihm das stark ausgeprägte Organisationstalent seiner Frau auch manchmal auf den Geist?

„Ich weiß, was du denkst“, sagte Anne in gespielter Strenge. „Aber ich kann einfach nicht dagegen an. Ich liebe es, Dinge zu organisieren und dass alles seine Ordnung hat. – Gegen die Wanderung auf den Snowdon hast du hoffentlich nichts einzuwenden?“ Anne warf ihr einen fast ängstlichen Seitenblick zu.

„Nein! Ich finde, das ist eine gute Idee. Ich war lange nicht dort und ein bisschen Bewegung kann mir sicher nicht schaden.“

Anne lächelte sie erleichtert an. „Das freut mich. So ganz uneigennützig ist mein Vorschlag nämlich nicht. Ich würde auch wieder mal gerne ein wenig rauskommen.“

„Ok. Die Ryder Sisters auf dem Miner’s Track, so wie früher. Weißt du noch, als Dad ihn mit uns zum ersten Mal ging?“

„Ja. Er erzählte uns eine Unmenge von Geschichten. Von Riesen, König Artus und irgendwelchen Ungeheuern. Du konntest gar nicht genug davon bekommen.“ Anne lächelte versonnen.

„Mum wollte uns nie begleiten. Sie hatte nichts übrig für diese Spinnereien, wie sie das immer nannte.“

„Sie war eben eine durch und durch praktische Frau.“ Anne warf einen Blick auf die Küchenuhr. „Apropos praktisch. Ich fürchte, ich muss dich jetzt deinem Schicksal überlassen. Ich muss noch ein paar Rechnungen schreiben.“

„Kein Problem. Ich werde mir einfach ein wenig die Beine vertreten und es gemütlich angehen.“

Carys verließ das Haus und sah sich auf dem Hof um. Aus der Werkstatt drang das Geräusch einer Schleifmaschine und sie beschloss, Curt einen Besuch abzustatten.

Er arbeitete konzentriert an einem Werkstück, aber bei ihrem Eintreten hob er den Kopf und nahm den Mundschutz ab. „Helo Stadtpflanze! Ausgeschlafen?“ Er schmunzelte und wischte Staub von seiner Stirn.

„Klar. Und falls du mich weiter deswegen aufziehen willst, ich habe Urlaub!“ Sie lächelte ihn an. Dann fiel ihr Blick auf das Möbel, das er gerade bearbeitete. Es war eine Truhe aus Eichenholz mit reichen Schnitzereien. Auf dem Deckel erkannte sie den walisischen Drachen.

„Das Prunkstück gehört der Universität. Dürfte aus dem siebzehnten Jahrhundert stammen. Ich muss den alten Lack entfernen“, sagte Curt knapp.

Carys blieb ein wenig unschlüssig stehen. Sollte sie ihm von ihrem Kästchen erzählen?

Curt sah sie abwartend an und machte eine Handbewegung, die die ganze Werkstatt einschloss. „Du kannst dich gerne ein wenig umsehen.“ Er fuhr mit der Hand über den Rand des Deckels, um den Staub von der Truhe zu entfernen. Das Holz darunter wirkte hell und schutzlos.

„Ich will dich nicht von der Arbeit abhalten. War nur neugierig. Aber sag mal – du kennst dich doch mit Wappen aus?“

„Mit den gängigen schon, aber ich bin nicht wirklich ein Spezialist. Da müsstest du eher meinen Vater fragen. Er ist Hobbyheraldiker.“

„Ach ja, stimmt. Danke für den Tipp.“

Sie lächelte ihm zu und verließ die Werkstatt. Gleich darauf ertönte wieder das Surren der Schleifmaschine.

Sie blinzelte in die Sonne. Es war ungewöhnlich warm für Oktober und das Wetter sollte einstweilen so bleiben. Perfekt, um den Miner’s Track zu gehen. Sie freute sich wirklich auf die morgige Wanderung.

Sie beschloss, Henry Jones aufzusuchen, Curts Vater. Er war ein brummiges Original und hielt nichts von Stadtpflanzen, wie er ihr des Öfteren schon zu verstehen gegeben hatte. Aber gut. Vielleicht konnte sie ihn mit seinem Lieblingsthema begeistern. Das Kästchen brauchte sie nicht mitnehmen. Sie konnte das seltsame Wappen aus dem Gedächtnis skizzieren.

Sie schlug den Pfad durch das Wäldchen hinter dem Farmhaus ein, das sie zum Cottage der Jones‘ führen würde. Curts Eltern waren dorthin gezogen, nachdem ihr Sohn das Anwesen vor drei Jahren übernommen hatte. Anne war erst neunzehn gewesen, als sie zu den Zwillingen schwanger wurde. Ein Skandal, der lange in der Familie nachgewirkt hatte, denn der Vater der Kinder, ein Student, den Anne bei einer Party kennen gelernt hatte, machte sich aus dem Staub, sobald er von der Schwangerschaft erfuhr. Curt hatte sich ihrer angenommen, mit einer Selbstverständlichkeit, die alle bewundernswert fanden. Die drei Jahre jüngere Carys, die gerade die High School besuchte, hatte sich die Vorhaltungen von wegen Anständigkeit und Zurückhaltung gegenüber dem männlichen Geschlecht so lange angehört, bis sie es nicht mehr aushielt und nach London flüchtete.

Und dort bin ich auf die Verführungskünste dieses Schönlings hereingefallen, dachte sie zynisch.

Carys schüttelte die unerfreulichen Gedanken an die Vergangenheit ab und marschierte zielstrebig durch den Wald, einem Rest des ursprünglichen Bewuchses von Eichen und Buchen. Er lichtete sich bald, machte Wiesen Platz, eingesäumt von Steinmauern. Der Fußmarsch zum Cottage dauerte etwa zehn Minuten und bald tauchte es hinter den Stämmen zweier mächtiger Eichen auf, die mehrere hundert Jahre alt waren, wie Carys aus den Erzählungen Annes erfahren hatte. Auch das Häuschen war alt, die Jones‘ hatten es liebevoll restauriert. Als Kind hatte sie fast ein wenig Angst vor Henry Jones gehabt. Er war ein wortkarger, vierschrötiger Mann, der stets eine Pfeife im Mund trug. Seine buschigen Augenbrauen verliehen ihm einen grimmigen Ausdruck, der nur gemildert wurde, wenn er über seine eigenen Scherze lachte.

Sie entdeckte den alten Mann sofort, als sie auf das Cottage zuging. Er hatte den Kopf unter die Motorhaube seines Jeeps gesteckt und fluchte vor sich hin.

Sie räusperte sich. „Bore da, Henry.“

„Verflixt, was ist denn los?“ Er hob den Kopf und starrte sie für einen Moment entgeistert an. „Ach, das ist ja die kleine Ryder, die Stadtpflanze. Was verschlägt dich denn hier in die Einöde?“

„Hab frische Luft nötig, nach all dem Smog in London.“ Sie lächelte verhalten.

Er wischte seine Hände an der Hose ab und streckte ihr die Rechte hin. „Wirst am Ende nicht doch noch vernünftig werden? Die Stadt ist nicht gut. Zu viele Menschen mit Flausen im Kopf. Viel zu teuer alles.“ Er musterte sie durchdringend aus braunen Augen. „Tut dir nicht gut, wie mir scheint. Hast ja gar nichts auf den Rippen und bist weiß wie ein Blatt Papier.“

Sie wusste nicht recht, was sie dazu sagen sollte, also schwieg sie. Es schien ihm nichts auszumachen. „Komm doch auf einen Tee rein. Rosy wird sich freuen.“

„Gerne. Wenn es keine Umstände macht.“

Er winkte ab. „Überhaupt nicht. Brauch selbst einen. Das verdammte Wrack will wieder einmal nicht anspringen.“ Er warf einen finsteren Blick auf den Jeep. „Macht in letzter Zeit Mucken, das alte Ding. Sollte mir einen neuen kaufen, aber ich will nicht. Alles viel zu teuer.“

Damit drehte er sich um und stapfte auf das Haus zu. Carys folgte ihm.

Rosy Jones kam ihnen entgegen, sie musste ihren Besuch schon vom Küchenfenster gesehen haben. Annes Schwiegermutter, eine rundliche kleine Frau, war im Gegensatz zu ihrem Mann die Warmherzigkeit und Großzügigkeit in Person. Sie zog Carys in eine herzliche Umarmung. „Nein, so eine Freude! Anne hat mir schon erzählt, dass du kommst.“

„Helo, Rosy. Schön, dich zu sehen.“

„Leiste uns doch ein wenig Gesellschaft. Der Tee ist schon fertig. Ich habe gerade die Scones aus dem Ofen genommen.“

Wirklich nahm Carys einen verführerischen Duft wahr, als sie hinter Rosy das Cottage betrat. Sie musste den Kopf einziehen, um ihn sich nicht am Türrahmen zu stoßen. Henry folgte ihr in die Stube, die zugleich als Esszimmer diente.

Die kleinen Fenster sorgten für dämmeriges Licht. Carys nahm an dem massiven Holztisch Platz, den auch Curt getischlert hatte, ebenso wie die dazu passenden Stühle. Ein Buffet mit geschnitzten Eichenblättern am Oberschrank strahlte ursprünglichen Charme aus und passte wunderbar in diesen gemütlichen Raum.

Die Scones waren noch warm und die Butter schmolz darauf. Zusammen mit der selbstgemachten Erdbeermarmelade schmeckten sie köstlich.

Sie unterhielten sich über dies und jenes. Den Hauptteil des Gesprächs bestritt Rosy, die alles Mögliche von Carys wissen wollte. Ob ihr die Arbeit am Theater noch immer gefalle, wie viele berühmte Schauspieler sie schon kennengelernt habe, welche Stücke in der letzten Saison gespielt wurden und welche im nächsten Jahr auf dem Spielplan standen.

Carys ließ sich von ihr ausfragen. Sie hatte das Gefühl, dass Rosy gerne einmal nach London gefahren wäre, um sich eine Aufführung im Globe anzusehen. Was wahrscheinlich ein Wunschtraum blieb, denn Henry würde sich niemals zu einem Besuch in London hinreißen lassen. Aber sie konnte ja Anne und ihre Schwiegermutter einmal einladen …

„So, und jetzt erzähl, was dich wirklich herführt“, meinte Henry Jones. „Glaub nämlich nicht, dass du nur einen Höflichkeitsbesuch abstattest.“

„Henry!“ Rosy sah ihren Mann tadelnd an.

Carys lächelte und fühlte sich ertappt. „Naja, ein Anliegen hätte ich doch.“

„Nun sag schon“, brummte Henry. „Ihr Weiber müsst ja immer um alles so viele Worte machen.“

„Es geht um ein bestimmtes Wappen. Curt sagte, du kennst dich damit aus.“

„Wappen?“ Henrys Miene hellte sich auf und Rosy verdrehte die Augen. „Das ist dann wahrscheinlich das Thema für den Rest des Vormittags. Ich lasse euch lieber allein.“ Sie stand auf, um die Teller abzuservieren. „Tee ist noch in der Kanne und falls ihr was braucht, ruft mich einfach.“ Damit verschwand sie.

„Also?“ Henry wandte sich ihr erwartungsvoll zu.

Carys beschloss, auf die Vorgeschichte zu verzichten. „Ich würde es gerne zeichnen, das wäre am einfachsten.“

„Klar. Hier.“ Er reichte ihr ein Blatt Papier und einen Bleistift.

Sie begann zu zeichnen und es fiel ihr so leicht, als würde eine fremde Hand den Stift führen.

„Du bist wirklich begabt,“ meinte Henry beifällig, als sie ihm die Skizze reichte. „Hast du schon immer großartig gemacht, die Zeichnerei. Kann mich erinnern, dass du Curt mal – wie sagt man – porträtiert hast.“

„Ach das.“ Für einen Moment war sie peinlich berührt. Sie hatte tatsächlich einmal eine Skizze von Curt angefertigt und sich nachher dafür geschämt, weil sie dachte, nun müsste es offensichtlich sein, dass sie in ihn verliebt sei. Sie hatte ihn mit nacktem Oberkörper gezeichnet.

„Er hat sie aufgehoben. Hängt, glaube ich, im Schlafzimmer bei ihnen.“

Sie wurde rot und biss sich auf die Lippen.

Er grinste. „Brauchst dich nicht zu schämen dafür. Aber lass mich mal überlegen.“ Er betrachtete die Zeichnung und runzelte die Stirn. „Ein Wappen ist das eigentlich nicht, eher ein Symbol. Ein Wappen besteht normalerweise aus dem Schild, den Ergänzungen und gegebenenfalls den Schildteilungen. Kannst du dir vorstellen, was ich meine?“

Carys sah ihn fragend an.

Er stand auf und holte ein Buch von der Anrichte. „Siehst du, so wie hier. Das ist das Wappen von Wales. Es geht auf das Banner von Owain ab Gruffydd zurück. Der Schild ist geviert, abwechselnd roter und goldener Löwe. Eine der Ergänzungen ist die Krone und der Wahlspruch Pleidiol Wyf I’m Gwlad. Ich bin meinem Lande treu.“

Er betrachtete wieder die Zeichnung. „Ein Drache und eine Lilie. Ungewöhnlich. Kommt mir nicht bekannt vor. Walisisch ist das jedenfalls nicht. Wusstest du übrigens, dass die Form des roten Drachens nicht standardisiert ist und es daher verschiedene Versionen gibt?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Die Legende vom roten und weißen Drachen kennst du aber?“

„Ja, natürlich. Dad hat sie mir erzählt. Aber ich fürchte, ich habe vieles davon vergessen. Ich war ja noch ein Kind,“ setzte sie hastig hinzu, denn sie merkte, dass er gerne darüber gesprochen hätte.

Er räusperte sich. „Also gut. Im fünften Jahrhundert wurden die Waliser von den einfallenden Sachsen hart bedrängt. Deshalb beschloss König Vortigern, in der Nähe des heutigen Beddgelert ein Fort zu errichten. Er wählte einen Hügel, der ihm geeignet schien und ordnete die Bauarbeiten an. Aber sie wollten nicht gelingen. Es war nicht möglich, ein festes Fundament zu bauen. Jedes Mal versanken die Steine in der Erde, die zu zittern und zu kochen begann. Also fragte Vortigern den mächtigen Zauberer Merlin um Rat. Dieser sagte ihm, er solle den Hügel aufgraben, dort würde er die Lösung seines Problems finden. Vortigern folgte dem Rat des Zauberers und bald stießen seine Männer auf zwei Drachen, die unter der Erde schliefen, einen weißen und einen roten.“

„Ja, ich erinnere mich“, sagte Carys. „Sie wachten auf und begannen, gegeneinander zu kämpfen.“

Henry nickte. „Der weiße war größer und stärker und es schien, als würde er den Kampf gewinnen. Aber dann nahm der rote all seine Kräfte zusammen und es gelang ihm, den weißen zu besiegen.

Merlin deutete den Kampf so, dass der weiße Drache für die Sachsen stand und der rote für die Waliser. Und dass die Waliser nach langen, schweren Kämpfen die Sachsen aus Wales vertreiben würden. Deshalb wurde der rote Drache zum Symbol für Wales und ist auch auf der Flagge.“

Carys seufzte. „Das hilft uns aber hier nicht weiter. Es gibt leider auch keine Inschrift. Überhaupt keinen Hinweis sonst.“

„Der Stil und die Kombination sind merkwürdig. Wo hast du das entdeckt?“

Carys zuckte mit den Schultern. „Ist mir bei meinen Recherchen für neue Kostüme untergekommen. Ich war einfach neugierig.“

Dass sie es schon als Kind gezeichnet hatte, wollte sie ihm nicht sagen. Es hätte alles nur noch komplizierter gemacht.

„Verstehe.“ Er merkte, dass sie nicht mehr preisgeben wollte und wandte sich wieder der Zeichnung zu. „Nein, tut mir leid. Da kann ich dir nicht helfen“, sagte er nach einer Weile.

„Schon gut. Trotzdem danke.“

„War mir ein Vergnügen, Kleine.“

Sie musste heimlich lächeln. Obwohl sie die Größere der beiden Ryder-Schwestern war, nannten viele sie immer noch klein. Eine Bezeichnung, der sie als Jüngere wohl nie würde entfliehen können.

Sie verabschiedete sich von den Jones‘ und setzte ihren Spaziergang fort, nachdem sie Anne auf dem Handy angerufen und sich für den Lunch abgemeldet hatte. Nach den reichhaltigen Scones verspürte sie noch keinen Appetit.

Ihre Schwester klang eine Spur enttäuscht, wirkte aber ohnehin beschäftigt. Die Zwillinge kamen an einem Freitag erst nachmittags aus der Schule und es gab am Abend eine ausgiebige Mahlzeit.

Carys wanderte nach Tregarth, um sich ein wenig umzuschauen. Der kleine Ort bot nicht viel an Sehenswertem. Zwei Bahnlinien hatten ihn früher durchlaufen. Die London and North Western Railway war 1963 geschlossen worden und die Schmalspurbahn, die das Schiefergestein nach Port Penrhyn transportierte, ein Jahr früher.

Sie stattete der St. Mary’s Church einen Besuch ab, verlor sich für eine Weile in der Stille und im Dämmerlicht des Gebäudes aus Schiefersteinen. Später schlenderte sie auf den Friedhof. Sie besuchte das Grab ihrer Eltern, berührte den schlichten Stein mit den Namen und fühlte nur eine diffuse Leere. Ihre Eltern waren beide gegangen, nichts mehr von ihnen war geblieben außer ihre eigenen Erinnerungen. Was sollte sie hier?

Sie drehte sich um und entdeckte beim Eingang des Friedhofs einen großen, blonden Mann in Jeans und Parka. Ihr Herzschlag setzte kurz aus. Mark?

Wie festgefroren stand sie da. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Er kam näher, warf ihr einen forschenden Blick zu. Natürlich war es nicht Mark, sie kannte den Mann nicht. Mit einem verzerrten Lächeln wandte sie sich ab. Hörte das denn niemals auf?

Lilie und Drache

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