Читать книгу Moderne Tauchmedizin - Kay Tetzlaff - Страница 15

Оглавление

5 Aktuelle Trends aus der Dekompressionsforschung

A. Salm

Weltweit bewegen sich Menschen unter Wasser: als Forscher, Soldaten, Arbeiter in Fischfarmen oder Tunnelbauten, Retter, Polizisten und Freizeitsportler. Den größten Anteil machen die Freizeitsportler aus. In diesem Segment tummeln sich auch die so genannten „TEC“-Taucher. Die TEC-Taucher tauchen mit erweitertem Aufwand länger und tiefer und überschreiten somit die etablierten und dokumentierten Grenzen. Mit Begeisterung werden neue Gasmischungen ausprobiert, tiefe Wracks oder Höhlen erkundet. Die Elektronik wird leistungsfähiger, medizinische Diagnosemöglichkeiten verfeinert und die Kommunikation per Internet immer schneller und einfacher. All dies hat auch Auswirkungen auf die moderne Dekompressionsforschung. Im Grenzbereich zwischen halbwegs gesicherten Erkenntnissen und neuen Fragestellungen werden weltweit in den Labors der United States Navy, kanadischen Militärtauchern oder auch französischen Berufstauchern neue Methoden entwickelt, unbekannte Wege beschritten und altes Wissen in Frage gestellt.

Dieses Kapitel versucht, hiervon einen ganz kleinen aktuellen Ausschnitt allgemein verständlich zu beschreiben. Natürlich bleiben präzise Formulierungen und ein komplexer mathematischer Formelapparat dabei auf der Strecke. Es soll hier aber die Neugier auf die gemeinsamen, globalen Anstrengungen der Techniker und Wissenschaftler geweckt und gleichzeitig neue Impulse für das eigene Tauchen gegeben werden. Für ein vertieftes Studium, zu kontroversen Diskussionen anregend, und über den Tellerrand der traditionellen Tauchausbildung hinausreichend, sind zahlreiche Referenzen gelistet.

5.1 Prinzipielle Schwächen von Perfusionsalgorithmen bei einem oder zwei Inertgasen

Perfusionsmodelle stützen sich für Luft/Nitrox sowie Heliox als Atemgase weltweit auf eine sehr große Datenbasis an protokollierten Tauchgängen im Freiwasser und in Druckkammern, sind mathematisch überschaubar und haben seit den Veröffentlichungen von Bühlmann et al. (2002) eine große Verbreitung in Tauchcomputern und den PC-Programmen (Desktop-Deco-Software) erfahren. Der Sicherheitsstandard für Luft/EAN- oder Heliox-Tauchgänge ist dementsprechend groß, die Parameter der zugehörigen Dekompressionsalgorithmen gut abgesichert. Der technische

Kompaktinformation

Atemgasbezeichnungen

■ Luft: Pressluft, normale Atemluft

■ Nitrox: oder auch: EAN (= enriched Air Nitrox): Gemisch mit 1 Inertgas (N2) mit Sauerstoff

■ Heliox: Gemisch mit 1 Inertgas (He) mit Sauerstoff

■ Trimix: Gemisch mit 2 Inertgasen (N2 und He) mit Sauerstoff

■ MOD: Maximum Operating Depth; dieJenige Tauchtiefe, bei der genau der maximal zulässige Sauerstoffteildruck (p02) herrscht

Taucher, im Besonderen derjenige, der Mischgase mit Helium benutzt, neigt jedoch dazu, da er eben etwas tiefer/länger taucht, jenseits der gesicherten Einhüllenden zu planen und vergisst gerne die Grenzen der Modelle. Diese sind bereits ausführlich dargestellt (z. B. in Brubakk et al. 2003, S. 449 und 463) und betreffen u. a. die folgenden Punkte, die hier nur im Überblick und keineswegs erschöpfend dargestellt sind:

■ „Inertgas-Buchhaltung“, jeweils monoexponentiell für ein Kompartiment.

■ „Ereignislose“ Dekompression: nur die gelöste Gasphase wird berücksichtigt, keine freie Gasphase (Gasblasen).

■ Die Berechnung der Gasaufnahme und -abgabe erfolgt symmetrisch, d. h. mit den identischen Koeffizienten in den Exponentialtermen der Sättigungs-/Entsättigungsgleichungen (s. Abb 4.5).

■ Fehlende Berücksichtigung von Druckänderungen, die kurz gegen die schnellsten Halbwertszeiten sind. Durch die erwähnten Exponentialgleichungen wird ein elektronisches RC-Glied (Widerstand und Kondensator) simuliert. Dieses verhält sich wie ein „low pass“: ein Frequenzfilter, der nur die langsamen Frequenzen passieren lässt. Schnelle Vorgänge, wie Jo-Jo-Profile oder auch ApnoeProfile werden wirksam ausgefiltert (Hahn 1995).

■ Die Kompartimente sind alle parallel geschaltet (s. Abb 4.4). Die Serienschaltungen wie Milz → Leber und Darm → Leber werden nicht berücksichtigt.

■ Ebenso wenig wird die Blutspeicherung in der Leber berücksichtigt. In diesem Speicher findet zunächst eine verzögerte Inertgas-Sättigung statt. Auch die spätere Leerung des Speichers, z. B bei Belastung, findet keinen Widerhall in den Gleichungen.

■ Die zeitliche Verzögerung („Latenz“, ca. 3–5 min) in der Inertgas-Druckanpassung von palveolar → parteriell bedingt durch Toträume, das variable Verhältnis von Ventilation zu Perfusion der Lunge (Durchlüftung/Durchblutung) und derr Grundumsatz.

■ Die uneinheitliche Berücksichtigung der metabolischen Gase O2, CO2 und H2O wird, quer durch alle Tauchtabellen, durch die Variationen im respiratorischen Quotient Rq deutlich dokumentiert: Schreiner: Rq = 0,8, Workman: Rq = 0,9, Bühlmann: Rq = 1,0.

■ Körperliche Verfassung oder Anpassung finden keinerlei Niederschlag im Algorithmus.

■ Ebenfalls nicht berücksichtigt sind die Faktoren, die technische Taucher besonders tangieren:

hohe körperliche Belastung, z. B. durch die schwere Ausrüstung und den damit verbundenen hohen Wasserwiderstand oder durch die erhöhte Atemarbeit, bedingt durch die erhöhte Gasdichte in größerer Tiefe,
Temperatur,
hohe Sauerstoffpartialdrücke,
große Absolutdrücke in großen Tauchtiefen. Das Verhältnis von Ventilation/ Perfusion sowie der Totraum und die Diffusionsstrecken ändern sich mit zunehmender Dichte des Atemgases, auch die Differenz von palveolar – parteriell.

Weiterhin wichtig für technische/Trimix-Taucher: das zweite Inertgas! Insbesondere das konstante Verhältnis von ca. 2,65 von den N2- zu den He-Halbwertszeiten scheint in der Praxis nicht zu passen. Die Algorithmen wenden diesen Faktor unterschiedslos auf jeweils alle Kompartimente an. Offenbar scheint es auch Unterschiede bei N2- zu den He-Blasen zu geben in Punkto Stabilität und Übertritt vom venösen in das arterielle System. Darüber hinaus scheint es auch Zweifel zu geben an der Gültigkeit des Henry’schen Gesetzes bei binären (ca. 1:1) Inertgasmischungen in komplexen biologischen Systemen. Binäre Mischungen sind solche, bei denen 2 Inertgase (bei Trimix also He – N2) im Verhältnis 50:50 gemischt sind. Es scheint Hinweise zu geben, dass z. B. bei Trimix (Tmx 20/40/40) die aufgenommene Inertgasmenge nicht mehr den berechneten Werten entspricht. Allerdings ist dies keine so neue Erkenntnis. Der Effekt findet schon Erwähnung im „The Underwater Handbook“ von Charles W. Shilling von 1976 (S. 470).

Kompaktinformation

Gaskinetik bei Dekompressionsmodellen

Kennzeichnung verschiedener Sättigungs- und Entsättigungsmethoden

1. EE: Sättigung und Entsättigung exponentiell und symmetrisch

2. EL: Sättigung exponentiell, Entsättigung linear, deshalb: asymmetrisch

3. Asymm: Sättigung exponentiell, Entsättigung ebenfalls exponentiell, aber mit verlängerter Halbwertszeit, deshalb: asymmetrisch

Diese Gaskinetikmethoden können für alle Dekompressionsmodelle benutzt werden, sowohl für die Perfusionsmodelle als auch für die Blasenmodelle. Der Unterschied in den Modellen äußert sich lediglich in dem „Kriterium für sichere Dekompression“. Dies ist einfach die geringste Tiefe, zu der „gefahrlos“ aufgetaucht werden kann. In manchen Tauchcomputer-Bedienungsanleitungen wird diese Tiefe auch als „ceiling“ (englisch für Decke) bezeichnet. Die traditionellen Modelle der USN (Workman) und ZH-L 16 (Bühlmann) sind beide vom Typ EE. Bei einigen Deco-Programmen lassen sich bereits Asymmetrien einstellen.

Hinweis. Der respiratorische Quotient, oft mit Rq abgekürzt, ist das einfache Verhältnis von produziertem Kohlendioxid zu verbrauchtem Sauerstoff. Als grobe Faustregel gilt:


Rq ist abhängig von der körperlichen Belastung sowie von der Ernährung.

5.2 Empirische Weiterentwicklungen

Die oben genannten Punkte haben sowohl in der Tauchergemeinde als auch in der Forschung durch experimentelle und empirische Anpassungen der Tauchprofile ihren Niederschlag gefunden. Da diese prinzipiellen Schwächen auch stellenweise für die neueren Blasenmodelle gelten, haben wir es hier mit einer Bewegung auf breiter Basis zu tun. Letzten Endes sind ja die so genannten „vier freien Parameter“ des VPM-Modells von 1986, die Oberflächenspannungen, die initiale Blasenverteilung mit einer Blasenregenerationszeit und einem sog. Summenparameter nicht aus ersten Prinzipien einer Theorie, sondern durch profane Parameteranpassungen an bewährte USN-, Royal Naval Physiological Laboratory (RNPL)- bzw. dem TEKTITE-Sättigungsexperiment auf 100 Fuß von 1971 abgeleitet.

Historische Notiz. Im Rahmen von sog. „Sättigungsexperimenten“ wurden Taucher über mehrere Tage einem erhöhten Umgebungsdruck ausgesetzt. Die Taucher lebten unter Wasser in einem Habitat, das üblicherweise mit einer Versorgungs- und Kommunikationsstation an der Wasseroberfläche gekoppelt war. Ziel war es, die physiologischen als auch die psychologischen Auswirkungen des erhöhten absoluten Drucks und des erhöhten Sauerstoffpartialdrucks zu studieren. Insbesondere mussten, neben den puren technischen Herausforderungen, auch neue Methoden zur Dekompression entwickelt werden. Dem breiten Sporttaucherpublikum wurden solche Experimente im Mittelmeer und im Roten Meer durch Jacques-Yves Cousteau bekannt gemacht. Die amerikanischen Vorläufer wurden durch George F. Bond unter dem Namen SEALAB bekannt. Bedingt durch den damals herrschenden „Kalten Krieg“ erhoffte man sich auf amerikanischer Seite durch diese Experimente Vorteile in der Unterwasser-Kriegsführung. Die vollständigen wissenschaftlichen Ergebnisse wurden deshalb erst mit Verzögerung publiziert. Eine der empirischen Weiterentwicklungen war die Reduktion der erlaubten Inertgasübersättigungen in Form der Gradientenfaktoren (GF; s. S. 75 ff. und S. 91).

Hinweis. Die Reduktion eines Grenzwerts um ca. 10 % von Bühlmann (s. Kompaktinformation unten) entspricht somit einem Gradientenfaktor GF = 0,9. Sollen nur die Stoppzeiten auf den letzten Stufen künstlich verlängert werden, wäre dies der GF Hi = 0,9.

Von den Gradientenfaktoren (GF) zum VGM (Variable Gradient Method). Diese GF gelten jedoch, wie auf S. 75 beschrieben, für die Gesamtheit aller Kompartimente gleichzeitig. Eine feiner abgestufte Variante ist die Benutzung verschiedener GF für unterschiedliche Kompartimente. Mit dem als VGM (Variable Gradient Method) bekanntgewordenen Verfahren kann man in Abhängigkeit der Halbwertszeit die GF getrennt festlegen. Schnellere Kompartimente könnte man über GF > 1 zu kürzeren Stoppzeiten zwingen, mittlere Kompartimente aussparen oder mit Standardwerten, z. B. 80 %, arbeiten und die langsamsten Kompartimente mit GF-Werten von 30 % zu noch längeren Stopps bewegen. Allerdings ist dieses Vorgehen nicht ganz unkritisch, da es tiefere Kenntnisse der Kompartimentphysiologie und etwas Fingerspitzengefühl bei der Einstellung auf dem Mischgas-Computer erfordert. Mit den GF > 1 kann auch eine Tauchgangsplanung komplett korrumpiert werden, da die Stoppzeiten dann zu kurz ausfallen.

Kompaktinformation

Historische Verwendung der Gradientenfaktoren (GF)

GF wurden schon seit Haldane und später auch von Workman oder Bühlmann und Weiteren benutzt, nur war der Terminus technicus jeweils ein anderer.

Im Ergebnis für den Taucher wurden die Austauchzeiten verlängert unter den folgenden Bedingungen:

■ bei Wiederholungstauchgängen wurde die Entsättigung während der Oberflächenpause vernachlässigt. Stattdessen wurde die Sättigung rechnerisch erhöht durch einfache Addition der Grundzeiten (Bühlmann et al. 2002, S. 147; Boycott et al. 1908, S. 369f.),

■ bei kalten und/oder anstrengenden Tauchbedingungen (NOAA Standard Procedure, Diving Manual, S. 4–30; Boycott et al. 1908, S. 425),

■ oder auch bei älteren (> 45 Jahre) und/oder übergewichtigen Tauchern (Boycott et al. 1908, S. 368, 375, 410) oder

■ bei Hautabkühlung und R/L-Shunt-Phänomenen (Bühlmann et al. 2002; S. 159)

■ und ab einem pO2 > 1 bar (Workman 1965, S. 21)

Das Mittel der Wahl war zunächst die lineare Reduktion der Grenzwerte: die traditionelle Quelle spricht von 2 –10 % (Boycott et al. 1908, S. 147). Haldane selbst lässt einfach die Stoppzeiten an sich um bis zu 30% anwachsen (Bühlmann et al. 2002, S. 368). Als weiteres Beispiel hatte Dr. Max Hahn 1985 die Koeffizienten des ZH-L 16-Systems für den Tauchcomputer „Deco-Brain” bei der Software-Aktualisierung P2-3 als Nachfolge der P2-2 ebenfalls konservativer gestaltet wie die veröffentlichten theoretischen Werte (Quelle: private Kommunikation).

Optimal Switching Time. Umfangreiche numerische Simulationen haben gezeigt, dass Gaswechsel bereits unterhalb der MOD wesentlich effizienter verlaufen, als wenn erst bei Erreichen der Stopptiefe auf das der MOD angepasste Gas gewechselt wird. Dieses Verfahren wird „optimal switching time“ genannt, da der Zeitpunkt des Gaswechsels beim Aufstieg vorweggenommen wird.

Hinweis. Für oberflächenversorgte Arbeitstauchgänge oder mittels einer Taucherglocke stellt dieses Verfahren weder technisch noch rechnerisch ein Problem dar, für einen autonomen TEC-Taucher schon eher – viele Desktop-Deco-Programme lassen dies nicht zu; bei einigen Programmen ist z. B. ein pO2, max = 1,5 bar in Stein gemeißelt.

Tauchcomputer und Tauchcomputerfehler. Tauchcomputer sind elektronische Geräte, die mittels Zeit-, Temperatur- und Druckmessungen Dekompressionsprognosen berechnen, wenn das Atemgas spezifiziert wird. Diese gemessenen Werte unterliegen damit dem üblichen zufälligen statistischen Fehler der Messung. Die Messwerte sind in Form einer Gauß’schen Glockenkurve um den „wahren“, den Mittelwert, zufällig verteilt. Zur Berechnung der Deko-Prognose werden alle Variablen herangezogen; somit unterliegt die Deko-Prognose dem unschönen Phänomen der Fehlerfortpflanzung. Die Fehlerfortpflanzung ist im schlechtesten Fall einfach die Summe aller Einzelfehler. Diese Fehler gilt es, nach Erfahrung mit den unterschiedlichen Produkten, in die Tauchgangsplanung mit einzubeziehen.

DIY-Software (Do-It-Yourself Deco-Software). Mit der zunehmenden Akzeptanz des Internets gibt es zahlreiche Dekompressionsprogramme, die auf PCs oder auch auf SmartPhones betrieben werden können. Egal, ob als kostenlose „Free-/Shareware“ oder als Kaufsoftware: Bei beiden herrscht i. d. R. eine unsichere Aktenlage. Handbücher oder sonstige Dokumentationen sind oft unvollständig, Rundungsvorschriften werden nicht erläutert, es tauchen schleierhafte Parameter auf und die benutzten Konstanten, z. B. Wasserdichte oder Rq, sind meist unklar. Vor allem bei modernen Implementierungen von Blasenmodellen sind die Algorithmen üblicherweise nicht dokumentiert; zur Berücksichtigung des Sauerstofffensters („oxygen window“) muss man den Werbeaussagen einfach glauben. Dies trifft auch auf die sog. „adaptiven“ Algorithmen bei neueren Tauchcomputern zu. Mit „adaptiv“ ist die Anpassung des Algorithmus an Temperatur, Gasverbrauch und Herzfrequenz gemeint. Diese Adaptionen sind üblicherweise kryptisch, also weder öffentlich dokumentiert noch mit nachvollziehbaren Messergebnissen belegt (s. auch Salm 2011).

Kompaktinformation

Das Sauerstofffenster segelt in der angloamerikanischen Fachliteratur auch unter folgenden Flaggen:

■ „pressure vacancy“ (C.B. Momsen, 1939),

■ „oxygen window“ (A. Behnke, 1967),

■ „inherent undersaturation“ (B.A. Hills, 1960–1968).

Es bedeutet zunächst ganz einfach eine Druckdifferenz zwischen dem (eingeatmeten) Gesamtdruck und dem im Gewebe herrschenden Druck. Diese Druckdifferenz erklärt sich durch den im Gewebe verbrauchten Sauerstoff. Das produzierte Kohlendioxid reicht nicht aus, diese Druckdifferenz wieder aufzufüllen.

Historische Bemerkung. Im ganzen „Deko-Zirkus“ wurde allerdings schon immer mit Netz und doppeltem Boden, sprich: undokumentierten Prozeduren, gearbeitet. Die alte USN-Lufttabelle wurde kosmetisch hier und da in den Stoppzeiten etwas erweitert, ebenso die OSHA-Tabelle für Caisson-Arbeiter; Bob Workman erhöhte künstlich den alveolaren Inertgaspartialdruck, um bei hohem pO2 die Vasokonstriktion zu berücksichtigen, und Bühlmann erhöhte die Halbwertszeiten ausgewählter Kompartimente, um die nächtliche Verringerung der Perfusion während den Ruhezeiten der Taucher bei der Dekompression nach Sättigungstauchgängen abzubilden.

5.3 Theoretische Weiterentwicklungen der Deko-Modelle

Parallel zu den empirischen Weiterentwicklungen wurden, z. B. in den Labors und Forschungszentren der United States Navy, theoretische Ansätze weiterentwickelt und stellenweise auch im menschlichen Experiment (s. nächster Abschnitt) geprüft und verbessert. Grundsätzlich haben sich zwei unterschiedliche Wege durchgesetzt: ein relativ streng mathematischer, sehr eng an den bereits vorhandenen Perfusionsalgorithmen angelehnt, und ein weiterer, nämlich der Weg der hybriden (Misch-)Modelle. Dieses Hybridmodelle sind z. T. Kombinationen aus Perfusions- und Blasenmodellen, z. T. auch Parameteroptimierungen mittels eines gemessenen „deco stress“. Dieser „deco stress“ wird durch Ultraschall-Dopplermessungen erfasst.

5.3.1 Spezielle (ältere) Ansätze

■ 1-Kompartiment-Modell,

■ kontinuierliche Halbwertszeiten,

■ LEM/VVAL 18 (Linear-Exponential-Multigas).

Sowohl beim 1-Kompartiment-Modell als auch beim Modell der kontinuierlichen Halbwertszeiten stand zunächst die Verringerung der freien und damit anpassbaren Parameter im Vordergrund, um die Berechnung zu vereinfachen. In einem traditionellen Bühlmann-ZH-L 16-Modell finden wir 16 Kompartimente mit jeweils einer Halbwertszeit und den beiden Parametern a und b. Es gibt somit 16 × 2 = 32 freie Parameter pro Inertgas, wenn die Halbwertszeiten der Kompartimente als naturgemäß gegeben akzeptiert werden. Bei einem 1-Kompartiment-Modell beträgt somit die Zahl der freien Parameter 2. Ziel war es dann, die Asymmetrie bei Gasaufnahme und -abgabe über eine zweite, größere Halbwertszeit an physiologische Gegebenheiten anzupassen. Die Asymmetrie wurde schon von Haldane vermutet; er nahm an, dass ein etwaiges Vorhandensein von Gasblasen die Entsättigung wirksam verzögern würde. Bei dem anderen Ansatz über ein kontinuierliches Spektrum an Kompartimentshalbwertszeiten, sprich eine unendliche Anzahl an Kompartimenten, wurde dem Streit über Anzahl und Halbwertszeiten der zu benutzenden Kompartimente elegant aus dem Wege gegangen. Auch hier wurden die freien Parameter über Anpassungen an existierende Tauchprofile gefunden.

Der Weg, den Edward Thalmann bei der USN zwischen 1979 und 1985 verfolgte, hatte ebenfalls zum Ziel, die Asymmetrien mathematisch zu formulieren, um dabei die Anzahl der beobachteten DCS-Fälle zu verringern. Das Resultat aus der Analyse von ca. 1300 dokumentierten Tauchprofilen mit Kreislaufgeräten mit EAN, ca. 1600 Tauchgängen mit Heliox, jeweils mit pO2, max = 0,7 bar, sowie ca. 2300 Lufttauchgängen aus den 1990er Jahren, war das „LEM-Model“ (LEM: Linear-Exponential-Multigas). Exponentiell wird die Aufsättigung, die Entsättigung aber als linear beschrieben. Mit Multigas sind zusätzlich zu den üblichen Inertgasen auch die metabolischen Gase berücksichtigt. Die Steigung der linearen Entsättigungsgleichung wurde so gewählt, dass beim Aufstieg und während der Oberflächenpause die Entsättigung langsamer erfolgt als die exponentielle Aufsättigung während den Kompressions- und Isopressionsphasen.

Historische Bemerkung. Dieses Modell wurde nach einer der vielen Variablen im FORTRAN-Quellcode des Algorithmus benannt. Das erfolgreichste Variablenfeld der erlaubten/tolerierten Übersättigungen für die Kompartimente hieß „VVAL18“. Dieser LEM-Algorithmus ist im einzigen Tauchcomputer, der bei der USN eingesetzt werden darf, ein Gerät von Cochran Undersea Technologies Inc. Texas (www.divecochran.com), einprogrammiert.

Die USN-Tabelle für oberflächenversorgte Lufttauchgänge, die seit 1957 mehr oder weniger unverändert eingesetzt wurde und auch die Ausbildungssysteme der meisten Sporttauchorganisationen der Welt dominierte, wurde mit diesem LEM/ VVAL18-Modell erst im Jahre 2008 mit der Revision 6 des Diving Manuals grundlegend modifiziert. Es wurden nicht nur die meisten Dekompressionsstopps verlängert, sondern insbesondere alle 10 Fuß (3 m) Stopps auf den 20-Fuß-Stopp (6 m) verlegt.

5.3.2 Hybridmodelle (aktuelle Entwicklungen seit der Jahrtausendwende)

■ CMD (Complex Mathematical Model)

■ GFM (Gas Formation Method)

■ 3CG (3 Compartment General Model)

■ Copernicus-Modell

Die hybriden Modelle versuchen ebenfalls, über Parameteroptimierungen anhand DCS-freier Tauchprofile die Inertgasblasenzahl zu reduzieren. Da diese Modelle relativ neu sind, gibt es Stand heute (2012) noch keine benutzbaren Implementierungen in Tauchtabellen oder Tauchcomputern.

Das CMD wartet mit 26 Kompartimenten und Halbwertszeiten von 0,1 (He) bis 480 min (N2) auf. Grundlage bildet eine Diffusionsgleichung für die Zylindergeometrie. Diese Zylindergeometrie ist das Idealmodell für ein Blutgefäß. Die resultierenden Tauchprofile sind in etwa analog zum VPM zu sehen.

Für das GFM wurde zur Kalibrierung der Parameter statt den üblichen USN-Profilen die Nullzeiten der PADI/DSAT-Tabelle benutzt. Eine Kalibrierung anhand von Dekompressionsprofilen hat anscheinend nicht stattgefunden. Grundlage ist hier ebenfalls ein Kapillarmodell mit Zylindersymmetrie: Die Gasblasen werden aber als dünne Schicht am Gefäßrand dargestellt. Durch die Benutzung von Bessel-Funktionen zur Berechnung der Inertgasdiffusion ist es mathematisch etwas schwerer zu durchschauen. Da die Herren Steven Crow und John Lewis aber ein Patent für diese Idee im Namen der Fa. Pelagic, dem weltweiten Marktführer von Tauchcomputern (Stand 2012), eingereicht hatten, warten die zugehörigen Patentschriften (auch auf Deutsch) im Anhang mit einem Pseudo-Excel-Code auf, der es auch Nicht-Mathematikern erlaubt, den vereinfachten Algorithmus für den PC nachzuprogrammieren.

Das 3CG wurde einer etwas breiteren Masse von Tauchern bekannt durch einen Artikel im DAN-Magazin „Alert Diver“ (04/2010, S. 52). Die übliche, parallele Kompartimentstruktur wird mit mehreren, in Serie geschalteten Kompartimenten erweitert. Die Serienschaltungen sollen schlechter durchblutete Gewebe simulieren, die erst in den Dekompressionsphasen als Inertgasquellen zur verzögerten Entsättigung und damit zur Erhöhung des Decostress beitragen. Natürlich sind auch hierbei, wie bei eben fast allen Algorithmen, die numerische Größe der wesentlichen Parameter nicht über grundlegende, erste Prinzipien ableitbar.

Die wesentlichen Parameter sind im 3CG die Kopplungen der neuen Serienschaltungen an die herkömmlichen, parallel geschalteten Kompartimente. Auch diese Kopplungsparameter müssen erst über Vergleiche mit bekannten, DCS-armen Profilen ermittelt werden. Das bekannteste und komplexeste dieser Modelle dürfte wohl der „Copernicus“ sein: Es hat bereits in das eine oder andere populäre Tauchermagazin Eingang gefunden. Statt den oben beschriebenen Parameteroptimierungen anhand vorhandener USN-Tauchprofile riskiert es etwas Neues, nämlich die Synthese mit Ultraschalldopplermessungen am lebenden Taucher, um die Parametersätze zu verbessern.

Kompaktinformation

Für den mathematisch-geneigten Leser alle Quellen aus den entsprechenden Wissenschaftsjournalen auf einen Blick:

■ 1-Kompartiment-Modell:

Baz A, Seireg A: Single-tissue modeling of decompression schedules. Undersea Biomed Res 1979; 6: 217–229

■ Kontinuierliche Halbwertszeiten:

Egi SM, Gürmen NM: Computation of decompression tables using continuous compartment half-lives. Undersea Hyper Med 2000; 27: 143–153

■ LEM/VVAL 18 (Linear-Exponential-Multigas):

Thalmann ED, Parker EC, Survanshi SS, Weathersby PK: Improved probabilistic decompression model risk predictions using linear-exponential kinetics. Undersea Hyper Med 1997; 24: 255–274 sowie Thalmann ED: CDR, MC, USN. Computer Algorithms used in computing the MK 15/16 constant 0.7 ATA oxygen partial pressure decompression tables. Navy Experimental Diving Unit Report No. 1–83

■ CMD (Complex Mathematical Model):

Voitsekhovich I: A mathematical decompression model based on biophysical and physiologic laws. Undersea Hyper Med 1994; 21: 209–213

■ GFM (Gas Formation Method): Patent:

DE 10 2006 028 085 A1 2007.12.20 Tauchcomputer und Verfahren zur Bestimmung von Gasbildung, Steven Crow; John Lewis sowie Patent No.: US 7,313,483 B2 Dec.25,2007; Dive Computer and Method for Determining Gas Formation; Steven Crow, John Lewis

■ 3CG (3 Compartment General Model):

A new class of biophysical models for predicting the probability of decompression sickness in scuba diving; Saul Goldman, Department of Chemistry and Guelph-Waterloo Physics Institute, University of Guelph, Guelph, Ontario, Canada. J Appl Physiol 2007; 103: 484–493

■ Copernicus-Modell:

UHMS ASM 2008 Session T134 sowie ASM 2010, Session F10: Copernicus Decompression Procedures, von: NTNU, Brubakk et al.

Die gemessene Anzahl von Inertgasblasen wird als Indiz für den so genannten „deco stress“ benutzt. Bei diesen Vorgehensweisen gilt: Je weniger gemessene Blasen, desto weniger „deco stress“, umso „sicherer“ das Tauchprofil. Das Copernicus-Modell berücksichtigt die komplette Biometrie der Taucher inklusive BMI und aerobe Kapazität und deren körperliche Arbeitslast. Es ist das Kind von Forschern aus Norwegen am NTNU, der Norwegian University of Science and Technology, Trondheim (www.ntnu.no).

5.4 Neuere methodische Untersuchungen über einige Faktoren, die die Dekompression beeinflussen

Die physikalischen und biochemischen Interaktionen von Sauerstoff und gelösten Inertgasen mit dem menschlichen Körper sowie Reaktionen auf mikro- oder auch makroskopische Gasblasen sind sehr vielfältig, äußerst komplex und noch weitestgehend unverstanden. Hier wird eine ganz kleine Auswahl an neueren Untersuchungen vorgestellt, die keinesfalls vollständig ist:

5.4.1 Wärme/Kälte

Die traditionelle Tauchausbildung, egal ob für Sport-, Militär- oder Berufstaucher, hing bis dato an dem Dogma: bei kalten Tauchgängen nächstgrößere Tiefe und nächstgrößere Zeit anstatt des tatsächlichen Tauchprofils zur Dekompressionsplanung benutzen. Dies kann nicht nur dem USN Diving Manual, sondern auch noch der NOAA-Prozedur in der oben beschriebenen Kompaktinformation zu den GF entnommen werden. Die Begründung hierfür waren im Wesentlichen die erhöhte Sättigung bei kleineren Temperaturen gemäß dem Henry’schen Gesetz sowie eine geänderte Perfusion an der Peripherie. Ausgehend von widersprüchlichen Ergebnissen bei Berufstauchern in der Nordsee unter Benutzung von Warmwasseranzügen sowie bei den Bergungstauchgängen zum Flugzeugwrack der TWA 800, die eine signifikant erhöhte Anzahl von DCS-Fällen aufwiesen, wurden als neue Basis 400 experimentelle Tauchgänge mit 21 Fällen von DCS untersucht. Es handelte sich um Arbeitstauchgänge unter Belastung von ca. 60 W und einem O2-Verbrauch von ca. 2,2 l pro Minute.

Ergebnis: Die Häufigkeit von DCS-Fällen konnte durch diese Vorgehensweise signifikant von ca. 22% DCS auf ca. 1% gesenkt werden: den Taucher während den Isopressions- oder Grundphasen relativ kühl (ca. 26 °C) halten, aber warm in der Dekompressionsphase (ca. 31 °C).

5.4.2 Tiefe, Zeit und Aufstiegsgeschwindigkeit

Tiefe Stopps („deep stops“) sind solche, die tiefer durchgeführt werden als diejenigen, die eine traditionelle Tabelle, eine Deko-Software oder auch ein Tauchcomputer vorschreiben. Die Zeitdauer dieser Stopps soll nur wenige Minuten betragen.

Die Frage ist: Wie tief ist „tief“ und wie lange sollen diese Stopps sein? Da es quer durch alle Ausbildungs- und Forschungsorganisationen divergierende Empfehlungen über Tiefe und Länge dieser Stopps gibt (s. Kompaktinformation), entsteht zum einen Raum für breite und hitzige Diskussionen in den entsprechenden Internet-Diskussionszirkeln, zum anderen berechtigter Handlungsbedarf, diese Fragen im Sinne der Tauchsicherheit zu klären.

Kompaktinformation

Seit es Tauchtabellen gibt, existieren auch verschiedene „deep stop“-Strategien, die allerdings anders bezeichnet wurden.

Der Vater aller Tauchtabellen, John Scott Haldane, benutzte zu Beginn des 20. Jahrhunderts seine „2:1“-Methode, um tiefe Stopps zu berechnen. „2:1“ führt im Ergebnis zu einer Druckhalbierung. Diese Strategie wurde in seiner zweiten Tauchtabelle hinterlegt, die für außergewöhnliche Belastungen berechnet war. Die Aufstiegszeiten betrugen hierbei immer mehr als 30 min. Diese zweite Tabelle geriet aufgrund des Erfolgs der ersten Tabelle aber schnell in Vergessenheit.

Brian Andrew Hills wählte 60 Jahre später aufgrund thermodynamischer Überlegungen den Weg der “zero supersaturation“. Durch Beobachtungen an Berufstauchern in der Torres Strait, deren Stopps sehr viel tiefer durchgeführt wurden als bei vergleichbaren Profilen aus der USN-Tabelle und dabei trotzdem kürzere Austauchzeiten vorwiesen und mit viel Rechnerei wurde die Strategie der„Null Übersättigung“ entwickelt.

Die nächste Methode, „von Hand“, erzeugt ähnlich tiefe Stopps und kann sehr einfach, auch während des Tauchens, angewendet werden: Die geometrische Distanz der größten Tiefe des Profils zum tiefsten berechneten Tabellenstopp (oder zu dem vom Tauchcomputer angezeigten Stopp) wird halbiert.

Mittels den bereits beschriebenen GF bei DIY-Deco-Software können ebenfalls ähnliche Profile produziert werden. Die erprobte Wahl des TEC-Tauchers: von GF Hi ab ca. 0,8 bis ca. 0,3 bei viel Helium im Atemgas für den GF-Lo-Wert.

Für strenges Nullzeittauchen bis 30 m Tiefe wurde von DAN/PADI zu Beginn des 3. Jahrtausends eine noch einfachere Empfehlung ausgesprochen: Halbierung der maximalen Tauchtiefe, dort ca. 2,5 min verbleiben. Optional dürfen auch noch die Sicherheitsstopps im Bereich zwischen 3 bis 6 m verlängert werden.

Ebenfalls um die Jahrtausendwende wurde mittels des proprietären RGBM-Modells für die Mischgas/TEC-Sparte von NAUI Folgendes propagiert: tiefster Stopp auf der halben Maximaltiefe, dort ca. 0,5–1 min verbleiben und dies dann alle 10 Fuß beim Aufstieg wiederholen, bis der erste große Stopp aus einem anderen Perfusionsmodell droht.

Von der Fa. Uwatec wurde ein dokumentiertes Verfahren, das so genannte „PDIS“ (Pressure Dependant Intermediate Stop) in Tauchcomputern implementiert. Wird diese Methode auf die etwas langsameren Kompartimente angewendet, so konvergiert PDIS, natürlich in Abhängigkeit der Grundzeit, sehr schön mit einigen der oben genannten Methoden.

Ein experimenteller Ansatz war der der USN aus dem Jahre 2007: Zum systematischen Test der Effizienz von „deep stops“ wurden mit 81 Tauchern 390 Lufttauchgänge absolviert. Es wurden genau 2 Profile für 170 Fuß (ca. 51,8 m) und 30 min Grundzeit getestet. Die Summe der Aufstiegs- und Stoppzeiten wurde für beide Profile auf 174 min festgelegt. Die alte USN-Tabelle schlägt hier nur 46 min vor; die neue USN-Tabelle von 2008 landet bei immerhin 93 min. Die konstante Austauchzeit über die beiden Profile rührt von einer Kalibrierung über die zugrunde gelegten Deko-Algorithmen. Für das Profil #1 wurde ein VVAL18/LEM-Modell (s. oben) benutzt, für das Profil #2 mit tiefen Stopps ein Blasenmodell, das BVM(3) (Bubble-Volume-Modell mit 3 Kompartimenten). Die konstante Austauchzeit ergibt sich aus den annähernd vergleichbaren DCS-Risiken. Die Wassertemperatur betrug 30°C, die Arbeitslast am Ergometer 115 W.

Ergebnis: Das Profil #1 mit dem traditionellen Aufstiegsmuster beginnend bei 40 Fuß (= 12 m) und mit einem ca. 90-minütigen 10 Fuß (= 3 m) langen Stopp wartete bei 192 Tauchgängen mit lediglich 3 Fällen von DCS auf. Das Profil #2 weist Stopps ab 70 Fuß auf. Der letzte Stopp bei 10 Fuß betrug ca. 75 min aufgrund der Randbedingung der konstanten Austauchzeit. Hier wurden bei 198 Tauchgängen bereits 11 Fälle von DCS berichtet. Die Schlussfolgerung ist: Für dieses Tauchprofil haben die tiefen Stopps nicht funktioniert!

5.4.3 Hoher pO2

In den traditionellen Deko-Modellen wird O2, da er metabolisiert wird, üblicherweise nicht berücksichtigt. Sauerstoff an sich wirkt unter Druck gefäßverengend (als „Vasokonstriktor“) und kann eine Verlangsamung des Herzschlags („Bradykardie“) verursachen. Neuere Modelle gehen deshalb davon aus, dass, zumindest bei hohen Partialdrücken einhergehend mit langer Expositionsdauer, ein nicht zu vernachlässigender DCS-Effekt auftritt.

Es gibt zum gegenwärtigen Zeitpunkt zwei unterschiedliche Verfahrensweisen, den Sauerstoffbeitrag zu berücksichtigen: zum einen in einer geänderten Gaskinetik, zum anderen als additiven Inertgas-Partialdruck.

Die geänderte Gaskinetik bedeutet einfach, dass in ausgesuchten Kompartimenten die Halbwertszeit für die vorhandenen Inertgase erhöht wird. Eine erhöhte Halbwertszeit bedeutet eine geringere Perfusion. Beim zweiten Ansatz wird ein Teil des Sauerstoffpartialdrucks additiv zu den anderen Inertgasen hinzugezählt und trägt somit zu einer erhöhten Aufsättigung bei.

Experimentell sind die Beiträge wohl so klein bzw. die Modelle so unempfindlich, dass zwischen beiden Wegen nicht mehr unterschieden werden kann. Nichtsdestotrotz liegen seit 1994 Zahlen vom DCIEM vor, die mittels 700 Heliox- und 2000 EAN Tauchgängen zeigen konnten, dass die Vasokonstriktion mit bis zu 50% zu Buche schlagen kann, wenn der arterielle pO2 > 0,46 bar beträgt. In Jahre 1998 wurden diese Parameter anhand der rückwärtsgerichteten Untersuchung von 3300 EAN-Tauchgängen bestätigt. Auch neuere Experimente aus dem Jahre 2000 an Ratten mit Mischgasen scheinen dies zu bestätigen.

Ergebnis: Diese Resultate veranlassten die U.S. Navy, sog. Sauerstoff-Korrektur-Faktoren einzuführen. Ab einem pO2 > ca. 1,3 bar und Expositionszeiten > ca. 10 min werden die Dekompressionsstopps wieder künstlich verlängert.

Kompaktinformation

Air-Breaks vs. O2-Korrekturen

Luftpausen („Air Breaks“) bedeutet die Atmung von Atemgasen mit geringerem, aber immer noch normoxischem Sauerstoffgehalt. Diese Pausen während Atmung unter hohem pO2 werden als sinnvoll erachtet, um die Gefahr der ZNS-O2-Intoxikation zu verringern. Wird während der Atmung von beispielsweise reinem O2 in einer Deko-Phase auf 3 oder 6 m nach ca. 10–15 min auf normale Atemluft gewechselt, so wird diese Zeit der Luftatmung nicht als Dekompressionszeit gewertet. Die Luftpausen sollen ca. 5 min betragen. O2-Korrekturen sind hingegen Verlängerungen der Dekompressionszeiten unter hohem pO2, um die gegenteiligen O2-Effekte zur Korrektur von Vasokonstriktion und Bradykardie zu berücksichtigen.

5.4.4 Körperliche Belastung

Unter körperlicher Belastung steigen der Sauerstoffverbrauch sowie die Herzfrequenz und das vom Herz geförderte Blutvolumen pro Minute (kurz: der kardiale Output). Durch die erhöhte Durchblutung muss sich auch folglich mathematisch die Perfusion der Kompartimente erhöhen. Die erhöhte Perfusion bedeutet im Umkehrschluss aber eine Verkürzung der Halbwertszeit sowie eine erhöhte Inertgas-Aufsättigung. Sinkt die Belastung und damit auch wieder die Perfusion, z. B. in der Deko- oder Oberflächenphase, stellen die bisher stärker durchbluteten Kompartimente eine Quelle für Inertgase dar und verzögern somit die Entsättigung. Die unten genannten Forscher der U.S. Navy haben zu diesem Zweck ein einfaches, lineares Modell zur Skalierung der Halbwertszeiten entwickelt. Die Parameter hierfür wurden aus 3322 Tauchgängen mit 190 Fällen von „echter“ DCS und 110 unklaren Fällen angepasst. Die hiermit berechnete Voraussage für die DCS-Häufigkeit nach dem Auftauchen war mit einem EL-Modell etwas besser wie mit einem traditionellen EE-Modell.

5.4.5 Heliumblasen und Arterialisierung

Im Rahmen von 21 Trimix-Ausbildungstauchgängen (ca. 65 m Tiefe, ca. 5 min Grundzeit, Tmx 16/47 mit einem Gaswechsel auf EAN50) wurde bei 9 Tauchgängen durch ultrasonographische bildgebende Verfahren ein relativ hoher Grad von Gasembolien (VGE im arteriellen System) gefunden. Die Dekompressionsprofile wurden mit einer handelsüblichen VPM-Software berechnet. Da die Tauchgänge ereignislos waren, keine DCS-Fälle auftraten und nur einer der Probanden ein PFO aufwies, werden solche Profile mit noch unerklärlichen resp. Langzeiteffekten in Verbindung gebracht.

5.4.6 Hydrierung, Lage im Wasser, Shunts und Anastomosen

Wird die Rheologie, die Fließfähigkeit des Blutes, geändert, ändert sich zwangsläufig die Mikroperfusion. Dies gilt ebenso im makroskopischen Bereich für das zirkulierende Blutvolumen. Die Hydrierung/Hydratation des Blutes beeinflusst sowohl die Fließfähigkeit als auch das Volumen. Größere Shunts und auch Anastomosen (Gefäßkurzschlüsse im Kapillarbett) bewirken Volumenumverteilungen beim Öffnen oder Schließen. Die Umverteilungen („blood pooling“) sind auch druckabhängig. Der Druckunterschied eines sich im Wasser aufrecht befindlichen Tauchers von den Füßen zur Körpermitte ist wesentlich größer als wenn der Taucher eine horizontale Lage einnimmt. Folglich sollten diese Effekte geringer ausfallen: Für die Dekompressionsstopps im Wasser wird deshalb die horizontale Lage mit leichten Bewegungen empfohlen. Weiterhin sind diese Umverteilungen durch Shunts nach ganz neuen Untersuchungen auch abhängig von der Submersion, Kälte, körperlicher Anstrengung sowie von einer Hypoxie als auch Hyperoxie. Sie spielen anscheinend eine etwas größere Rolle als bisher gemeinhin vermutet (2011, private Kommunikation von OA Dr. Frank Hartig, Universitätsklinik für Innere Medizin Innsbruck und Institut ISAG, tauchmedizinische Sprechstunde).

Kompaktinformation

Für den wissenschaftlich interessierten Leser die Quellen für die oben genannten Untersuchungen im Überblick:

■ Wärme/Kälte:

NEDU TR 06-07, The Influence of Thermal Exposure on Diver Susceptibility to Decompression Sickness

■ Tiefe, Zeit und Aufstiegsgeschwindigkeit:

Deep Stops and their efficacy in decompression: U.S. Navy Research; Wayne A. Gerth, David J. Doolette, Keith A. Gault

■ Hoher pO2: Lillo RS, Parker EC: Mixed-gas model for predicting decompression sickness in rats. J Appl Physiol 89: 2107–2116, 2000 sowie Tikuisis, P; Nishi, RY. Role of oxygen in a bubble model for predicting decompression illness. Defence R&D Canada, 1994; DCIEM-94-04

■ Körperliche Belastung:

Doolette DJ, Gerth WA, Gault KA: Probabilistic decompression models with work-induced changes in compartment gas kinetic time constants. Navy Experimental Diving Unit, Panama City, FL, USA; in: UHMS Annual Scientific Meeting, St. Pete Beach, Florida, June 3-5, 2010, Session A6

■ Helium-Blasen und Arterialisierung:

Ljubkovic M, Marinovic J, Obad A, Breskovic T, Gaustad SE, Dujic Z. High incidence of venous and arterial gas emboli at rest after trimix diving without protocol violations. J Appl Physiol 109: 1670 –1674, 2010

Tipps für (TEC-)Tauchlehrer und (TEC-)Taucher

■ Die Hydrierung mindestens 24 h vor dem Tauchgang anfangen, sonst ist das Wasser nicht da, wo es gebraucht wird, nämlich im Körper, sondern nur in der Blase.

■ Beim Hantieren mit hohem pO2 über längere Zeiten: Air-Breaks nicht vergessen; ca. alle 15 min auf Luft für 5 min wechseln. Sauerstoff-Korrekturen konservativ miteinbeziehen und die Stopps mit reinem Sauerstoff, je nach Belastung, wieder um 10–20 % verlängern.

■ Bei vielen Gaswechseln: an die Latenz denken; der Körper benötigt ca. 3–5 min, bis ein geänderter pO2 wirkt. Deko-Programme rechnen augenblicklich mit dem geänderten pO2, der Körper macht dies nicht, d.h. man kann zwar rechnerisch und am Schreibtisch die Deko-Phase optimieren, nicht aber den Körper im Wasser.

■ Für den zeitoptimierten Gaswechsel: Man kann z. B. kurz vor„Abflug“ von der 9-m-Stufe bereits auf das der 6-m-Stufe angepasste Dekompressionsgas wechseln.

■ So gut es eben geht, sollte man sich in der Deko-Phase warmhalten.

■ Angaben eines digitalen Displays, egal ob vom Tauchcomputer oder der Deco-PC-Software mit gesundem Misstrauen betrachten: mit mindestens 2 verschiedenen Mischgascomputern tauchen, mindestens 2 unterschiedlichen Implementierungen/Versionen des bevorzugten Deko-Modells planen.

■ Insbesondere auf ca. 10–20% Fehler in der Deko-Prognose vorbereitet sein, d. h. in puncto Atemgasvorrat und Kälteschutz diesen Prozentsatz als zusätzliche Zeiten einplanen.

■ Diesen Sicherheitspuffer um weitere 20% erhöhen, wenn größere körperliche Anstrengungen vor und während des Tauchganges durchgestanden werdem müssen.

■ Wurde ein Tauchgang auf 60 m sinnvoll geplant und erfolgreich durchgeführt, dessen Ergebnisse nicht einfach auf 100 m extrapolieren.

■ Die aktuelle Empfehlung der USN beherzigen: Tiefe Stopps machen, dann auf keinen Fall die Stopps im flachen Bereich kürzen!

■ Nicht alles glauben, was in den Internet-Foren heiß diskutiert wird …

Weiterführende Literatur ____________________________

1. Boycott AE, Damant GCC, Haldane JS: The prevention of compressed air illness. J Hygiene 1908; 8: 342–443

2. Brubakk A, Neuman TS: Benett and Elliott’s physiology and medicine of diving, 5th edn. Philadelphia: Saunders, 2003

3. Bühlmann AA, Völlm EB, Nussberger P: Tauchmedizin, 5. Aufl. Berlin, Heidelberg, New York: Springer, 2002

4. Hahn MH: Workman-Bühlmann algorithm for dive computers: A critical analysis. In: Hamilton RW (ed.): The effectiveness of dive computers in repetitive diving. UHMS workshop 81(DC)6-1-94. Kensington, MD: Undersea and Hyperbaric Medical Soc, 1995

5. NOAA Standard Procedure. Diving Manual, 4th edn, p. 4–30

6. Salm A: Dekompressionsberechnungen für Trimix-Tauchgänge mit PC-Software: Reparieren Gradientenfaktoren defekte Algorithmen oder defekte Software-Implementierungen? Caisson 2011; 26: 4–12

7. Workman RD: Calculation of decompression tables for nitrogen-oxygen and helium-oxygen dives. Research Report 6-65, U.S. Navy Experimental Diving Unit, Washington, D.C. (26 May 1965)

Moderne Tauchmedizin

Подняться наверх