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Einladung zur Reise

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Gediegener als in den hitzigen Arenen ging es indessen an der Côte d’Azur zu. Wie immer ließen sich auch 1939 die Schönen der Welt dort blicken. Der Bal de petits Lits, 1918 zur Unterstützung an Tuberkulose erkrankter Kinder erschaffen, zog im Hotel Palm Beach von Cannes auch nach 20 Jahren noch ein mondänes Publikum an. Der Herzog und die Herzogin von Windsor waren zugegen, Sir Jagatjit Singh Bahadur, der Maharaja von Kapurthala, Miss Joseph Kennedy, die Gattin des amerikanischen Botschafters, Mme Raymond Patenôtre, die Ehefrau des französischen Wirtschaftsministers, auch Raffaele Guariglia, der italienische Botschafter, später Minister seines Landes, war gekommen. Fernand Joseph Désiré Contandin alias Fernandel trat an jenem Abend dort auf. Noch waren die Filme um Don Camillo und Peppone nicht gedreht, aber der verschmitzte Charme des Schauspielers tat auch 1939 schon seine Wirkung.

Andere hingegen waren gekommen, um sich zu entspannen. Norma Shearer etwa, die Göttin des US-amerikanischen Stummfilms; Constance Bennett, zwei Jahre zuvor vom amerikanischen Publikum zur bestgekleideten Frau der Welt gekürt und in jenen Monaten hochzufrieden mit dem Erfolg ihres jüngsten Films Merrily we live. Auch die bezaubernde Grace Moore war angereist. Kurz zuvor hatte sie zusammen mit dem französischen Regisseur Abel Gance die Dreharbeiten an Louise beendet, den von einer gleichnamigen Oper von Gustave Charpentier inspirierten Musikfilm über die unbotmäßige Liebe einer jungen Frau zu einem jungen Künstler. Mit Moore standen auch die Sänger Georges Thill und André Pernet vor der Kamera, die das Werk bislang auf der Opernbühne interpretiert hatten. Natürlich war auch Marlene Dietrich vor Ort. Sie liebte die Sommer an der französischen Riviera, wenngleich sie es in ihrer damals eigentlichen Residenz, dem Hotel Lancaster in Paris, auch nicht schlecht antraf. Dort fanden die Gäste einen verschwenderischen Luxus vor. »Blumen, Blumen, überall Blumen«, erinnerte sich Dietrichs Tochter Maria Riva an den Aufenthalt in der Nobelherberge.6

Andere hingegen suchten die Einfachheit. Simone de Beauvoir hielt sich zusammen mit Jean-Paul Sartre und ihrem gemeinsamen Freund, dem Schriftsteller Jacques-Laurent Bost, für ein paar Tage am Mittelmeer auf. »Wir gingen eine Bouillabaisse in Martigues essen; die Sonne ergoss sich über die bunten Boote und die Fischernetze. Wir saßen am Rand des Wassers, auf großen Steinfelsen mit spitzen Kanten: Das war wenig komfortabel, aber Sartre liebte den Mangel an Bequemlichkeit.«7 Auch mangelnde Bequemlichkeit war ein Weg, die Realität der Welt zu spüren und sich ihrer physisch zu vergewissern. Und es brauchte Vergewisserung in diesen Tagen, die Hingabe an den Sommer entsprang in diesem Jahr tieferen Motiven als den üblichen touristischen Träumen. Denn dieser Sommer, Beauvoir spürte es, könnte für längere Zeit der letzte friedliche sein. Hitlers kriegerisches Gebaren war zuletzt immer beunruhigender geworden. Im März 1938 war die Wehrmacht in Österreich einmarschiert und hatte so den »Anschluss«, die Eingliederung des Nachbarlandes in das Deutsche Reich, eingeleitet. Ein Jahr später, im März 1939, fiel die Wehrmacht in Tschechien ein, man musste davon ausgehen, dass sich Deutschland damit nicht begnügen würde. Liefe es schlecht, könnte Hitler den ganzen Kontinent mit Krieg überziehen. Und im Süden hatte kurz darauf Mussolini, der italienische duce, seine Truppen ausrücken lassen. Am 8. April – in jenem Jahr der Karfreitag – waren seine Truppen in Albanien einmarschiert, das Land wurde fortan aus Rom regiert. Im schlimmsten Falle könnte Frankreich gleich von zwei Seiten angegriffen werden. »Das wird mir nicht passieren«, hoffte Beauvoir, »nicht der Krieg, nicht mir«.8 Doch man musste mit dieser Möglichkeit rechnen, gestand sie sich ein. »Aber wie bereitet man sich auf den Horror vor?« Noch aber war Zeit. Vor allem war es Sommer. Mitte Juli brach sie allein in Richtung Marseille auf, nicht ohne auf dem Weg dorthin noch ein paar Wandertage einzulegen, entlang des Mont Ventoux, der Basses-Alpes, der Alpes-Maritimes. Bestes Wetter, eine betörende Landschaft. »Ich dachte an nichts als die Tiere, die Blumen, die Steine, den Horizont, an die Freude, Beine, einen Magen und Lungen zu haben und meinen eigenen Rekord zu schlagen.«9

Die Lust, sich in der Landschaft zu spüren, als Teil von ihr. Den Wind im Gesicht, den glühenden Geruch der Pinien, unterlegt von Thymian und Lavendel in der Nase. Ein Hauch von Ewigkeit durchschien diese Tage. Aber in diesem Sommer 1939 war es anders. Das Kommende hing in der Luft, ein Hauch sich nähernden Unglücks. »Das Blau des Himmels, das Blau des Meers belasteten mich in manchen Momenten; auch ich hatte den Eindruck, dass irgend etwas im Verborgenen lag: keine Spinne, sondern ein Gift. Diese Ruhe, diese Sonne waren nur vorgetäuscht: Mit einem Schlag würde alles zerreißen.«10 Es war schwer, die Idylle des Südens zu genießen, noch schwerer, ja unmöglich, an sie zu glauben. Dafür waren die Nachrichten aus Deutschland zu real und zu aufdringlich. Die Hingabe an den Sommer war eine auf Zeit, das schöne, sorglos dahinplätschernde Leben eine Illusion. Selbst die Bouillabaisse auf den Felsen von Martigues konnte sie nicht vertreiben. Die scharfkantigen Felsen, eigentlich doch eine Vergewisserung der Solidität des Bodens, wenn nicht sogar der Welt, verwandelten sich unter der Hand in eine Mahnung. Es würde, ahnten Beauvoir, Sartre und Bost, anders kommen. »Unter dem blauen Himmel träumten wir lässig mit lauter Stimme: wäre es besser, blind von der Front zurückzukehren oder mit einem entstellten Gesicht? Ohne Arme oder ohne Beine? Würde Paris bombardiert werden? Würde man Gas einsetzen?«11

Und doch machten auch andere Nachrichten die Runde, auch und gerade an der Côte d’Azur. Vor allem diese: In Cannes werde ein neues Filmfestival aus der Taufe gehoben. Ein erstes Plakat deutete an, womit man es zu tun haben würde: einem besinnlichen, ruhigen Festival, gewidmet Erinnerung und Kontemplation. So zumindest wollten es der Maler und Grafiker Jean-Gabriel Domergue, der das Plakat für das Festival entworfen hatte. Es zeigte ein Paar, das durchaus dem fin de siècle entstiegen sein könnte. Sie schlank und grazil, in elegantem beigem Abendkleid mit ausgeschnittenem Rücken, die Haare hochgesteckt. Rechts von ihr der Begleiter: schwarzer Anzug, vielleicht auch – man durfte es vermuten – ein Frack. Den Hals umschloss eng ein weißer Hemdkragen, das nicht mehr allzu dichte Haar korrespondierte mit der Farbe des Oberteils, vor dem linken Auge spannte sich ein Monokel. Das Paar, porträtiert von hinten und mit deutlichen Anklängen an den Stil eines Toulouse-Lautrec gehalten, war ganz einer Vorführung hingegeben und, die klatschenden Hände der Frau deuteten es an, durchaus angetan. Die beiden könnten auch in einer Theatervorführung oder einem Konzert sitzen – der Blick auf die Bühne oder die Leinwand war dem Betrachter entzogen. In anderen Worten: Das Kino setzte eine große kulturelle Tradition fort. »L’invitation au voyage« – »Einladung zur Reise« – hatte Domergue sein Plakat genannt, einem Gedicht Charles Baudelaires folgend. »Là, tout n’est qu’ordre, et beauté,/Luxe, calme et volupté«, verhießen zwei der Zeilen: »Dort ist alles allein Ordnung und Schönheit,/Luxus, Ruhe, und Sinnlichkeit«.12 Als Baudelaire jenen Band, der dieses Gedicht enthielt, Les Fleurs du Mal, 1857 veröffentlichte, verursachte die Sammlung einen Skandal: Als allzu gewagt, sinnlich und darum unsittlich empfand man den Band. Nun aber, gut 80 Jahre später, war er etabliertes, ja kanonisiertes Kulturgut – ein weiteres Signal, dass das Kino nahtlos an das große Erbe der Überlieferung anknüpfte und auf seine Weise fortführte in die Gegenwart.

Das neue Festival wird ein Erfolg, war die Zeitschrift Ciné-Miroir im Juli 1939 überzeugt.

»Denn niemand wird sich weigern, an die Côte d’Azur zu kommen. Welche Nation auch immer eingeladen sein, wie groß auch immer die Distanz sein mag, die sie von der französischen Riviera trennt, wie viel Geld auch immer man ausgeben muss, niemand wird zögern, das Schiff oder Flugzeug zu nehmen, um an die glücklichen Gestaden unseres Mittelmeers zu kommen«,

schrieb das Blatt – um dann einen geradezu Baudelaire’schen Dreiklang hinzuzufügen: »Dort sind die Freude, die Wärme und das Licht.« Vor allem aber könnte man ein Weiteres finden: »Dort ist die Schönheit, die gesamte Schönheit der Welt.«13

Paris unterm Hakenkreuz

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