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Sonntags am See

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Sex-Appeal lief nicht mehr. Hieß es zumindest. Die Regisseure, im Theater und mehr noch im Film, sahen es anders. Sie setzten weiterhin auf weibliche Schönheit. Ein Durcheinander der Geschlechter gab es noch nicht, die Frauen, die meisten jedenfalls, gefielen sich in Rollen, die ihre ästhetische Vollendung in der Kunst fanden. Paris war voll von Diven, manche mit großem, manche mit eher kleinem Namen – verehrt wurden sie alle. Madame la Folie hieß das aktuelle Saison-Stück der Folies Bergère, während der Alcazar mit Caprices de femmes aufmachte; das Casino de Paris lud derweil zu Amour de Paris und Bain de Venus.

Ernster und feierlich ging es in der Hochkultur zu. Im Vorjahr 1938 hatten die Briten dem Louvre eine Reihe bedeutender Kunstwerke für eine Sonderausstellung geliehen. Berühmtestes Kunstwerk war das Mädchen mit Garnelen von William Hogarth, entstanden 1740–45. Das Bild war eine Hommage an das Nordmeer, das beide Länder trennt und zugleich verbindet, geografisch ebenso wie kulturell. Vor allem aber waren die Leihgaben ein politisches Zeugnis, von London nach Paris entsandt, um die Verbundenheit der beiden Länder zu dokumentieren. Die Ausstellung wurde im März von Staatspräsident Albert Lebrun persönlich eröffnet, und während Eduard VIII., der Herzog von Windsor, und seine Ehefrau die Ausstellung noch inkognito besichtigten, würdigten sie König Georg VI. und Königin Elisabeth im Juli durch einen offiziellen Besuch.

International präsentierte sich auch die Pariser Oper. Dort war Lohengrin zu sehen, Wagners ausgreifendes Werk über die scheiternde Liebe des gleichnamigen Gralsritters zu Elsa von Brabant. Die Opera Comique hingegen präsentierte eine Art indisches Gegenstück: Lakmè, ersonnen freilich von einem Bestsellerautor des späten 19. Jahrhunderts, Pierre Loti. Das Mogador versetzte das Publikum in Rose-Marie in die Weiten Kanadas, in der sich die gefährdete Liebe der Titelheldin am Ende – es wird sehr, sehr knapp – doch noch erfüllt; das Châtelet hingegen setzte auf einen ungebrochenen Helden, nämlich Michel Strogoff, den Kurier des Zaren, auch er aus der Feder eines bewährten Erfolgsautors, Jules Verne.

Die Theater brachten Bewährtes auf die Bühne. Jules Romains’ Knock zum Beispiel, ein Stück über die angehende Kommerzialisierung der Medizin, ein Stück auch, das die Zuschauer zur Wachsamkeit erziehen wollte. »Ihr Vergehen war es, in einer trügerischen Sicherheit zu schlummern, aus der sie zu spät der Donnerblitz der Krankheit riss«, hieß es gegen Ende des Stücks. Besonders wachsame Zuschauer konnten das, die unheilvolle Entwicklung in Deutschland im Blick, auf die politische Situation beziehen; die anderen verstanden es als guten Rat zur Gesundheitsvorsorge: Lass dir von den Ärzten nichts einreden. Ebenfalls zur Aufführung kam Armand Salacrous’ La terre est ronde, ein Stück über die Hinfälligkeit der Wahrheit. Dass aber aus dem Zusammenbruch einer alten Beziehung etwas Neues entstehen konnte, nahmen alle jene zur Kenntnis, die am Bouffes-Parisiens das Stück Les Parents terribles von Jean Cocteau sahen, das von der Emanzipation aus den ideologischen Seilschaften der Familie handelte. Die Comédie Française legte ihren Zuschauern die Rätselwelt des Jean-Jacques Bernard vor, der auch mit seinem Jardinier dIspahan die »Kunst des Ungesagten« betrieb, ein Sprechen in Andeutungen, deren Sinn sich der Interpretation immer wieder entzog. Vieles war denkbar in jenem Jahr 1939.

Im Schlager hingegen war alles sonnenklar, vor allem auch wunderbar unbeschwert. Tino Rossi suchte das Glück und besang in La petite maison grise das kleine Glück in Form eines Hauses – klein, aber fein, mit einer wunderbaren Frau am Herd: Was will man mehr? »Für mich«, hieß es in dem Schlager, »ist das eine Ecke geradewegs vom Himmel«. Rina Ketty hingegen suchte in Sombreros et mantilles das Glück in der Ferne, die in diesem Fall noch nicht allzu fern war: Spanien. »Ich habe ganz Andalusien gesehen/die Wiege der Poesie und der Liebe«, hieß es in dem Stück. Und was, singt sie, kann man nach dieser Reise anderes im Herzen tragen als »eine charmante Erinnerung/glühend wie eine Blume Spaniens«? In der Wirklichkeit stand das Land am Ende eines furchtbaren Bürgerkrieg und an der Pforte zu dreieinhalb Jahrzehnten Diktatur. Aber was kümmerte das den Schlager? War sie allzu widerborstig, blieb die Wirklichkeit eben draußen. In Sommerlaune auch Charles Trenet. »Vive la vie/Vive l’amour«, forderte er in La vie qui va. Das Leben hatte Flügel, und ebenso die Liebe, und so ließ sich der Himmel im Handstreich auf die Erde holen. Allerdings, schob Trenet mahnend hinterher: »Ich weiß sehr wohl, dass sich morgen alles ändern kann«. All die ihr gewidmeten Opern und Chansons habe er vergessen, versicherte er in Vous êtes jolie der Angebeteten. Er habe sie vergessen just in jenem Augenblick, in dem er sie gesehen habe. »Ihr seid schön, mein kleiner Vogel/Neben euch sind die Blumen lange nicht so schön«. Die Verehrung war da, und von ihr ist es zum Verlangen nicht weit. Ein junges Paar traf sich an einem schönen Nachmittag am See, und von da an wurde der Bauch der jungen Frau merklich runder. »Ça s’est passé un dimanche/un dimanche au bord de l’leau« – »Das ist an einem Sonntag am Ufer des Sees passiert«. Wie es eben so ging im Land der Liebe, das auch die Franzosen selbst als ein solches betrachteten.

Und doch, die Zeit der Liebe konnte knapp bemessen sein. Lucienne Boyer stimmte in »Adieu mon ptit Kaki« eine melancholische, geradezu ahnungsvolle Note an. Sie lieh einer jungen Frau die Stimme, die sich am Bahnhof von ihrem Geliebten verabschiedete. »Als der Zug startete, hatte ich kein Blut mehr in den Adern«, hieß es in dem Lied. So würde es in wenigen Wochen unendlich vielen Französinnen gehen. Indirekt waren sie wie auch ihre Männer auf das Schlimmste bereits seit Längerem vorbereitet. Seit mittlerweile vier Jahren identifizierte die Regierung Orte, die bei einer deutschen Attacke besonders gefährdet waren. Dazu zählten insbesondere die großen Städte, aber auch wichtige Verkehrsknotenpunkte. Am Ende stand eine Liste mit 1200 potenziellen Zielen der Deutschen – kaum eine Region im Land, die nicht betroffen war. Kaum ein Bürger, der sich der potenziellen Gefahr nicht bewusst war. Systematisch wurden die besonders gefährdeten Orte in überschaubare Zonen eingeteilt. Die Stadt Rennes wurde in vier große Sektoren zergliedert, die sich wiederum aus 120 kleinen Zonen, sogenannten »Inseln«, zusammensetzten. Jeder dieser Inseln stand ein Sicherheitschef vor, der zusammen mit seinen Helfern die Bürger im Fall eines Angriffs in die ebenfalls bereits ausgesuchten Schutzräume leitete. Große Plakate wiesen in den Quartieren auf die kürzesten Wege zu den Schutzräumen hin. Auch in den öffentlichen Gebäuden – Theatern, Kinos – fanden sich solche Sicherheitshinweise. Die Bibliotheken durften aus Sicherheitsgründen nur noch eine bestimmte Zahl von Besuchern gleichzeitig beherbergen: Im Ernstfall galt es, Massenpaniken unbedingt zu verhindern. Von 1938 an durften bauliche Maßnahmen auch an privaten Häusern nur noch dann ausgeführt werden, wenn sie den Sicherheitsvorschriften entsprachen. Nachts sollte aus den Städten im Fall eines Angriffs kein Licht mehr dringen – Dunkelheit, hieß es, sei die beste Verteidigung. Die Autofahrer mussten darum Vorbereitungen treffen, die Scheinwerfer abzudunkeln. Etwa durch blaue Farbe, die bis auf ein winziges Loch in der Mitte komplett aufzutragen war. Die Stadt Paris stattete von 1938 an die Straßenlaternen mit Lampen aus, die sich automatisch löschen ließen. In Ausstellungen und Schulungen wurden die Bürger unterrichtet, wie sie sich bei einem Angriff zu verhalten hatten. Kinder wurden für den Fall, dass sie im Durcheinander eines Angriffs verloren gingen, mit eigenen Identitätsmarken ausgerüstet. »Sie müssen sagen können, wenn es morgen geschähe, wäre ich bereit«, forderte die Pariser Stadtverwaltung ihre Bürger mittels großer Plakate auf. »Man kann sich sehr gut gegen furchtbare Unfälle schützen. Es ist besser, vorzubeugen als nachträglich zu heilen. Machen Sie eine persönliche Anstrengung!«21

Paris unterm Hakenkreuz

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