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»Das Drama unseres Landes«

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Eine erste Ernüchterung folgte in den frühen 1930er-Jahren. Schon lange predigte Hitler einen Geist der Unversöhnlichkeit, wohl wissend, wie verlässlich sich mit dem Vertrag von 1919 die gewünschten Energien entfesseln ließen. Dieser Vertrag, so der Schriftsteller Elias Canetti, war eine Wunde. »In diese Wunde stieß das Wort ›Versailles‹ jedesmal, wenn es gebraucht wurde; es erhielt sie frisch, sie blutete weiter, sie schloss sich nie.«13 Als Hitler 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde, hielten sich politische Beobachter des Nachbarlandes mit ihrem Urteil zunächst zurück. »Deutschland scheint zu Beginn des Jahres 1933 wieder den ersten Platz unter den europäischen Militärmächten einnehmen zu wollen«, hieß es zu Beginn des Jahres in einer vertraulichen Mitteilung des Deuxième Bureau, der militärischen Abteilung des französischen Geheimdienstes. »Die deutsche Regierung steht womöglich davor, ihre Politik wieder auf die Armee gründen zu wollen.«14 Die Bedenken wuchsen, als Deutschland im Oktober desselben Jahres aus dem Völkerbund austrat. Zudem mehrten sich die Anzeichen, dass Deutschland aufrüstete. Im Herbst 1934 zählte das Reichsheer bereits eine viertel Million Soldaten; durch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im März 1935 wuchs es bald darauf auf knapp 600.000 Mann an – die Vorgaben des Versailler Vertrags zur deutschen Truppenstärke hatte Hitler damit gebrochen.

Für Frankreich war das eine alarmierende Nachricht, die weit über das unmittelbar Militärische hinausging. Die ungeheuren Opferzahlen des Ersten Weltkriegs schlugen demografisch nun voll durch. Den knapp 80 Millionen Deutschen standen gut halb so viele Franzosen gegenüber, nämlich 42 Millionen – ohne Aussicht, dass sich der Unterschied absehbar aufholen ließe. In den späten 1930er-Jahren fiel die Geburtenrate auf 630.000 Kinder jährlich – die geringste weltweit. Hatten die Franzosen zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch 15 Prozent der europäischen Bevölkerung gestellt, war die Zahl 1939 auf knapp neun Prozent gefallen. Ginge es so weiter, so die Sorge, wäre Frankreich Ende des Jahrhunderts ein Land vom demografischen Rang Belgiens.15 Der demografische Schwund setzte eine Unruhe frei, die in Teilen der Bevölkerung in düsteren Pessimismus mündete. »Es gibt ein neues Europa und ein altes Frankreich«, hieß es 1933 in der von dem germanophilen Journalisten Jean Luchaire herausgegebenen Zeitschrift Notre Temps. »Diese Ungleichheit macht das Drama unseres Landes aus. Damit Frankreich härter wird, muss es ein neues, ein junges Frankreich sein.«16 Was immer die Jugend an Neuem in die Welt setzen mochte: Fest stand, dass es so wie bislang nicht weitergehen konnte. »Haben wir den Mut, es einzuräumen«, forderte Marc Bloch seine Landsleute nach der Niederlage 1940 auf.


Treffen von Adolf Hitler und Philippe Pétain in Montoir-sur-le-Loire im Oktober 1940. Im Hintergrund zu sehen ist Joachim von Ribbentrop.

»Was in uns besiegt worden ist, das ist gerade unser kleines, geliebtes Städtchen. Seine allzu träge dahinfließenden Tage, das langsame Tempo seiner Busse, seine verschlafene Verwaltung, seine Zeitvergeudung, zu der ein sanftes Gehenlassen unentwegt beiträgt, der träge Rhythmus der Garnisonscafés, seine kurzatmigen politischen Streitereien, sein mühsames Kleingewerbe, seine Bibliotheken voll verwaister Regale, seine Präferenz für das schon Gesehene und schon Dagewesene, sein Misstrauen gegen alles, was überraschen, seine eingespielten Gewohnheiten stören könnte. Eben dies unterlag der Höllenmaschine, die die Dynamik eines überall brummenden Deutschland gegen uns führte.«17

Zusätzlichen Schub erhielt der Eindruck, Frankreich hinke der Zeit fast uneinholbar hinterher, durch seine politische Zerrissenheit. Das Land war zutiefst gespalten, Rechte und Linke fanden immer weniger zueinander. Dies führte zu nicht endenden Regierungskrisen. Allein zwischen 1930 und 1940 erlebten die Franzosen ein Dutzend unterschiedlicher Premierminister. Brüchige Allianzen, zweifelhafte Hinterzimmergespräche, politischem Kalkül geopferte Parteiprogramme: All dies trug dazu bei, das Ansehen der Republik massiv zu schmälern. »Die Republik erzeugt bei den jungen Menschen keinen Enthusiasmus mehr«, bemerkte 1932 der Schriftsteller Henri Petiot alias Daniel-Rops.

»Mit den politischen Idealen verhält es sich wie mit den intellektuellen Werten: diejenigen, für die die Jugend sich nicht zu opfern wünscht, sind krank. Aber die Republik fordert keine Opfer mehr, weil sie nicht mehr angegriffen wird und nicht mehr angegriffen werden will. Es gibt keine größeren, ernsthaft politischen Kämpfe mehr, in denen es um die Grundlagen des Regimes ginge. Die Erhabenheit der Republik hatte sich lange bedroht gefühlt: Jetzt ist nicht einmal mehr das der Fall.«18

Innerlich zerrissen, unfähig, innen- wie außenpolitisch eine einheitliche, konsequent beschrittene Linie zu beschreiten, konnten sich die politischen Lager auch außenpolitisch auf keine Richtung einigen. Die Linke wollte die französische und europäische Sicherheit dem Völkerbund anvertrauen, die politische Rechte ließ Sympathien für den Faschismus erkennen. Hinzu kamen offen antisemitische Motive. »Plutôt Hitler que Blum«, »Lieber Hitler als Blum«, lautet eine der Formeln der extremen Rechten während der zweiten Amtszeit von Premier Léon Blum.19 Enorme Spannungen durchzogen das Land, an nationalen Schulterschluss war angesichts des deutschen Kesselrasselns kaum zu denken. Während Deutschland entschlossen rüstete, pflegten die Franzosen nationale Grabenkämpfe. »Wir werden den Feind nicht daran hindern, unsere Städte zu bombardieren«, erklärte der Schriftsteller René Chambre 1934 in der angesehenen Revue des deux mondes.

»Wenn der Feind vorwärts drängt, tut er das. Er wird auf unsere Städte seine Tonnen entzündlicher Projektile mit toxischen Gasen oder Bakterienkulturen regnen lassen. Nichts wird ihn aufhalten. Er braucht momentan nicht mehr als hundert Flugzeuge, von denen jedes ein Geschoss mit Giftstoffen trägt, um Paris mit einer Gaswolke von 20 Metern Höhe zu überziehen. Eine solche Operation lässt sich innerhalb einer Stunde ausführen.«20

Die militärische Verunsicherung verwandelte sich in eine psychologische, die dazu beitrug, die Entschlossenheit zu untergraben. »Wenn wir den Kampf einmal hinter uns haben«, schrieb zum Jahresende 1939 der Publizist Jean Schlumberger im Figaro, »wird die härteste Arbeit noch vor uns liegen. Nach dem ersten Sieg … brauchen wir einen zweiten, um uns vor uns selbst zu retten.«21

Und doch, nicht wenige lebten lieber im Schatten der Bedrohung als in Vorbereitung auf einen weiteren Waffengang. Die Logik hatten die Pazifisten auf ihrer Seite, jedenfalls wenn man davon ausgehen konnte, dass auch Hitler letztlich realpolitischen Prinzipien folgte. Täte er das, würde ihn die zurückhaltende französische Rüstungspolitik am Ende dazu animieren, seinerseits auf Mäßigung zu setzen. Hinzu kam die begründete Vermutung, dass nicht alle Bürger im Nachbarland mit dem aggressiven Kurs ihrer Regierung einverstanden waren. Im Gegenteil: Im Grunde waren sie ebenso sehr Getriebene der nationalsozialistischen Drohgesten wie die europäischen Nachbarn selbst. »Einen Krieg gegen Hitler zu führen heißt, ihn gegen die deutsche Bevölkerung zu führen«, erklärte darum 1935 der sozialistische Schriftsteller Jean Guéhenno.22 »Besser einen unbewaffneten Frieden, selbst Hitler gegenüber«, befand bereits 1933 der Sozialist Félicien Challaye. »Schrankenloser Friede mag schmerzhaft sein, aber die Besatzung wäre ein geringeres Übel als der Krieg.« Und der Schriftsteller Victor Margueritte war überzeugt: »Nationale Verteidigung heißt nationale Zerstörung.« Einen anderen Akzent setzten die Kommunisten. Sie sahen Frankreich als kaum minder großen Aggressor. Ihr Land, waren sie überzeugt, stand im sich anbahnenden Wettrüsten nicht für die Freiheit der Menschen, sondern für die des Kapitals. »Wir lassen nicht zu, dass man die Arbeiterklasse in einen so genannten Krieg der Demokratie gegen den Faschismus zieht«, hatte Maurice Thorez, der Generalsekretär der Parti communiste français (Kommunistische französische Partei) im März 1935 erklärt. »Wir werden mit allen Mitteln gegen den Beginn dieses imperialistischen Krieges kämpfen.«23 Ähnlich sahen es auch die französischen Sozialisten. »Nicht einen Mann, nicht einen Sou für die Armee der Bourgeoisie«24, lautete ihr Slogan zu Beginn der 1930er-Jahre, dem sie auch in den folgenden Jahren weiter anhingen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder Ausweitung des ohnehin schon massiv entgrenzten Marktes? Die Diskussion um die angemessene Reaktion auf das rüstende Deutschland war auch und vielleicht vor allem eine über die Entwicklung der französischen Gesellschaft: kapitalistisch oder sozialistisch, »imperialistisch« oder »internationalistisch«, auf Waffen oder auf Verständigung setzend: Der Streit um die politische Verfassung des Landes drängte politischen Pragmatismus rüde an die Seite, die innenpolitischen Spannungen färbten ab auf die außenpolitischen – und lähmten auf diese Art die dringend notwendige Entscheidungsfindung.

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