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Mobilisierung

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Schmerzhafter stellte sich der Krieg den Soldaten dar. Am 3. September gingen die Mobilisierungsbescheide raus. 29 Altersklassen waren betroffen. Die jüngsten hatten noch nicht einmal ihre militärische Ausbildung beendet. Alle zusammen ergaben ein gewaltiges Heer: 4.564.000 Millionen Franzosen wurden im September zum Militärdienst gerufen – etwas mehr als die Hälfte direkt an die Front, die andere zur logistischen Unterstützung dahinter. Über Nacht unterstand ein Achtel der gesamten Bevölkerung nun dem Militär. Der Frieden, zumindest die Zeit, in der sich auf ein friedliches Arrangement mit Deutschland noch hoffen ließ, wich im fliegenden Wechsel den Vorbereitungen zum Kampf. Die Zeitung La Semaine à Paris berichtete in ihrer Ausgabe vom 5. September von ungewohnten Szenen rund um die Bahnhöfe. »Die Physiognomie der Hauptstadt spiegelt die sanfte Atmosphäre der Sonntagsruhe. Die Zugänge zu den Bahnhöfen sind belebt vom Kommen und Gehen der Freunde des Campings und gleichzeitig durch die vielen Reservisten, die sich mit männlicher Ruhe zu ihren Truppen bewegen.«33

Die Ruhe gründete auf der gereiften Einsicht ins Unvermeidliche. Über Jahre standen die Franzosen unter dem Eindruck des aggressiven Nachbarn jenseits des Rheins. Die Einberufung, so schien es seit Langem, war nur eine Frage der Zeit. Zudem waren immer mehr Franzosen überzeugt, dass ein Krieg unvermeidlich sei. In einer Meinungsumfrage im Sommer 1939 wurden sie gefragt, was zu tun sei, sollte Hitler die Freie Stadt Danzig erobern wollen. 76 Prozent erklärten, Deutschland müsse daran gehindert werden, notfalls auch mit Gewalt. Nur 17 Prozent sprachen sich für Frieden um jeden Preis aus.34 Entsprechend gefasst nahmen die Wehrpflichtigen die Einberufung zur Kenntnis. Es herrsche eine Stimmung »irgendwo zwischen Entschlossenheit und Resignation«, meldete Émile Bollaert, Präfekt des Départements Rhône, nach Paris.35 »Es ist nicht der Enthusiasmus von 1914«, informierte der Präfekt des Départements Vaucluse – »das ist umso besser«, fügte er hinzu. »Die Mobilisation wird gut hingenommen, und die Leute bleiben ruhig«, hieß es aus der Gemeinde Thizy nordwestlich von Lyon. »Wenn auch recht viele Einberufene mit Tränen in den Augen aufgebrochen sind, waren sie doch entschlossen, ihre Pflicht zu erfüllen.« Anders als 1914 stimmte niemand die Marseillaise an, kam nirgends ein kriegsbegeisterter Nationalismus auf. Der Krieg, so viel wusste man inzwischen, kannte letztlich nur Verlierer. »1914 waren die Männer vielleicht zum letzten Mal mit der Vorstellung aufgebrochen, zur Zeit der Ernte wieder zurückzukehren«, notierte der Schriftsteller Julien Gracq. »1939 wussten sie in ihrem Herzen, dass sie nur eine Erde wiedersehen würden, über die das Feuer hinweggerollt war.«36 Diesen Krieg hatte sich niemand gewünscht. Er war eine Notwendigkeit, der man sich stellen musste. Er löste alles aus, nur keine Begeisterung. Stattdessen nüchterne Bereitschaft, sich ins Unvermeidliche zu fügen – »schweren Herzens, mit einer Art Wut, deren wirklicher Name Entschlossenheit ist«, beobachtete der Schriftsteller Henri Pourrat die Mobilisierung in einer Gemeinde in der Auvergne. »Aber entschlossene Distanz zu allem, was mit Klang, demonstrativer Gestik, Militärmusik zu tun hätte. Der Bürgermeister hätte es gern gesehen, wenn man die Sturmglocke geläutet hätte. Aber man war der Auffassung, das sei ein zu großes Spektakel.«37 So blieb es bei deprimierenden Abschiedsszenen. Die Bahnhöfe waren voller Menschen. »Die Väter in Uniform, die Mütter und Kinder im Arm. Kein Lachen, stattdessen erstickende Verzweiflung«, beschrieb eine junge Frau, Jacqueline Boissard, die Stimmung am Pariser Gare de l’Est. »Die Männer stiegen in die Wagons, die Frauen und Kinder stiegen auf die Trittbretter. Man drückt einander, man umarmt sich in einer tragisch anmutenden Atmosphäre. Der Zug war voll, die Schaffner gaben ein Signal mit der Pfeife. Alle Männer klebten an den Fenstern, um Hände zu drücken, einen letzten Blick zu wechseln.«38 Der Zug setzte sich in Bewegung, wie so viele Züge in jenen Tagen. Tränen waren in den letzten Momenten des Beieinanders nur selten vergossen worden. Stattdessen flossen sie jetzt, einige Sekunden, nachdem der Zug den Weg aus dem Bahnhof nahm. Viele Frauen hatten sie sich aufgespart – die ins Ungewisse Aufgebrochenen sollten nicht zusätzlich belastet werden. Die Welt aber, der sie entgegenreisten, würde eine komplett andere sein. Der Philosoph Jean-Paul Sartre, Jahrgang 1905 und umgehend nach Marmoutier, einige Kilometer nördlich von Straßburg, verlegt, bemerkte die Konturen der soldatischen Welt bereits in der Herberge, in der er stationiert war. Eine Herberge, notierte er am 14. September, ist in normalen Zeiten ein Ort der Freiheit: Der Gast zahlt und hat im Gegenzug Anspruch, alle Einrichtungen und Dienste der Unterkunft in Anspruch zu nehmen. Mit seinem Geld hat er sich von allen weiteren Verpflichtungen losgekauft, kann er tun und lassen, was er will. Ganz anders das für die Soldaten geräumte Gasthaus. Der Rekrut musste für die Unterkunft zwar nicht zahlen. Trotzdem war der Aufenthalt alles andere als gratis. Die Soldaten zahlten mit dem Verzicht auf ihre Freiheit, die innere ebenso wie die äußere. Die Herberge, notierte Sartre, sei »Zwang ohne Kosten« – ohne finanzielle Kosten. Zugleich war ihr ehemaliger Luxus verschwunden, alles, was zahlenden Gästen den Aufenthalt einst erleichterte und angenehm machte. Das Hotel wurde zum Lager, das Bett war durch Stroh ersetzt.

»Noch bevor also eine Bombe dieses durch den Menschen geschaffene Objekt zerstören könnte, ist der kulturelle Sinn dieses Objektes zerstört. Im Krieg bewegt man sich in einer Welt der Utensilien. Genauso wie in der Kaserne. Weil aber hier die Annehmlichkeiten des Ortes noch zu spüren sind, ist in jedem Moment der flüchtige Ruf einer verschwundenen Welt zu vernehmen, eine sich haltende Illusion.«39

Die alte Welt zerfloss in jenen Tagen des September 1939. Gewiss, in manchem hielt sie sich noch, zumindest schien es so, acht Monate lang. Noch durfte man hoffen, die Deutschen griffen vielleicht doch nicht an. Aber sie taten es, im Mai 1940. Mit einer Wucht, der die Franzosen nichts entgegenzusetzen hatten. Die großen Fragen in den Tagen und Wochen, vor allem aber den Jahren und Jahrzehnten danach lauteten: Warum kam die Niederlage so schnell? Warum war Frankreich so schwach?

Paris unterm Hakenkreuz

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