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Schwierige Verbündete
ОглавлениеWie umgehen mit einem Nachbarn, der Frieden predigte, aber den Krieg nach vorne trieb? Nicht nur die Bürger zögerten, sondern auch ihre politischen Repräsentanten. Es schmerzte, Gedanken an Rüstung und Verteidigung zu fassen, und zwar umso mehr, als einige der sich anbietenden europäischen Partner ihrerseits mehr als zweifelhaft waren. Italien, mit dem sich Frankreich mit Großbritannien im April 1935 in der Stresa-Front zusammenschlossen, war eine faschistische Diktatur, das Bündnis mithin alles andere als Ausdruck einer Wertegemeinschaft. Mussolini ging es in erster Linie darum, einen Zusammenschluss zwischen Deutschland und Österreich zu verhindern; außerdem hoffte er, die westlichen Staaten würden angesichts Italiens expansionistischer Abessinienpolitik ein Auge zudrücken. Tatsächlich war in dem Abkommen nur noch von einem Frieden in Europa, nicht aber mehr in anderen Weltregionen die Rede.
Schwierig war auch das Verhältnis zur Sowjetunion, auch sie ein diktatorisches Regime, dieses Mal nicht rechter, sondern linker Provenienz. Immerhin verständigten sich Paris und Moskau im Mai 1935 auf einen beiderseitigen Beistandspakt. Hitler verstand: Deutschland war nun von mehreren Seiten eingehegt. Die Pläne zum »Anschluss« Österreichs verfolgte er zumindest öffentlich nicht mehr. Allerdings war der Vertrag in Frankreich selbst umstritten. Moskau gegenüber sei Vorsicht angebracht, hatte General Jean de Lattre de Tassigny, Oberkommandierender der Ersten französischen Armee, bereits im Oktober 1933 gewarnt: Eine zu große Nähe zu der kommunistischen Großmacht berge politische Gefahren. »Wir riskieren, die Kontrolle über unsere Militärpolitik und die nationale Verteidigung zu verlieren.«40 Allerdings lag auch auf der Hand, dass die Sowjetunion in Zeiten deutscher Aufrüstung ein geradezu zwingender Partner war. »Das sowjetische Militärpotential kann man in den kommenden Jahren nicht vernachlässigen«, warnte 1935 General Lucien Loizeau. »Man darf das Land nicht gegen sich, sondern muss es an seiner Seite haben.«41 Allerdings hatte Stalin seinerseits klare Erwartungen an seine Bündnispartner. Und die erfüllten die Franzosen nicht. Als sich im Juli 1936 der spanische General Francisco Franco an die Macht putschte und sein Land in einen drei Jahre währenden Bürgerkrieg stieß, zeigte sich Frankreich ebenso zurückhaltend wie Großbritannien. Zwar war die demokratisch legitimierte Regierung Manuel Azaña gestürzt worden, doch ihr militärisch beizustehen, schien in Paris und London zu riskant. Entschiedener zeigten sich die europäischen Diktatoren. Hitler und Mussolini unterstützten Franco, während Stalin Azaña unter die Arme griff. Eines war für den kommunistischen Machthaber fortan klar: Die westlichen Demokraten waren nur bedingt verlässliche Verbündete. Im Ernstfall, so sein Eindruck, schreckten sie vor militärischer Gewalt zurück.
Stalins Zweifel mehrten sich, als Frankreich und Großbritannien im September 1938 Hitler im Münchener Abkommen zustanden, das tschechische Sudetenland zu annektieren. Die Sowjetunion war zu dem Treffen nicht eingeladen, ungeachtet des Umstands, dass Paris und Moskau mit Prag zuvor einen Beistandspakt geschlossen hatten. Auch dieses Vorgehen bestärkte Stalin in seinen Zweifeln. Das Abkommen verstärkte seinen Verdacht, die westlichen Demokratien und die faschistischen Regime würden sich insgeheim gegen die UdSSR verbünden und hätten vor allem das Ziel, Hitlers Expansionspläne in Richtung Osten zu lenken. Die Haltung der westlichen Demokratien rächte sich im August 1939, als sie – nicht sonderlich hochrangige – Unterhändler, dazu noch auf einem gemächlich dahintuckernden Dampfschiff, nach Moskau entsandten, um dort über eine neue Allianz zu verhandeln. Einmal mehr war Stalin skeptisch: »Sie meinen es nicht ernst. Diese Männer können einfach nicht die nötige Autorität haben. London und Paris spielen wieder Poker.«42 Deutschland hingegen entsandte Außenminister Ribbentrop nach Moskau. Für Stalin lag es auf der Hand: Deutschland war der im Zweifel ernsthaftere Bündnispartner. Am 24. August unterzeichneten Ribbentrop und sein Amtskollege Wjatscheslaw Michailowitsch Molotow den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt, die diskret beschwiegene Einigung über die Zerlegung der künftigen Kriegsbeute Polen inklusive.
Der rüden Machtpolitik autoritärer und diktatorischer Regime gegenüber zeigten sich die Prinzipien des Dialogs und des Interessensausgleichs immer weniger gewachsen. Als Italien im Oktober 1935 in Abessinien einmarschierte, verhängte der Völkerbund zwar Wirtschaftssanktionen gegen den Aggressor. Der aber gab sich unbeeindruckt. Da auch die Partner der Stresa-Front, Frankreich und Großbritannien, beide Augen zudrückten, musste Mussolini keine ernsthaften Konsequenzen fürchten. In seiner Logik hieß das nichts anderes, als dass der Angriff sich gelohnt hatte. Im März 1936 musste Paris einen weiteren Rückschlag verkraften: Belgien sagte sich von dem gemeinsamen, 1920 geschlossenen Verteidigungspakt gegenüber Deutschland los. Getrieben von anti-militaristisch motivierten Sozialisten und anti-französisch gesonnenen Flamen schlug die Regierung in Brüssel einen Neutralitätskurs ein.
Das war für Frankreich ein weiterer Rückschlag. Bereits zuvor, im Juni 1935, hatte man zur Kenntnis nehmen müssen, dass Großbritannien mit Deutschland ohne Absprache mit Paris einen Flottenvertrag abgeschlossen hatte: Die deutsche Marine sollte ihren Bestand fortan auf eine Größe von 35 Prozent der britischen Flotte aufstocken dürfen – der hilflose Versuch, dem inzwischen ungehemmt rüstenden Hitlerregime zumindest einige Zurückhaltung aufzuerlegen. Gelänge das, so das Londoner Kalkül, bliebe Großbritannien weiterhin die führende Seemacht – eine wesentliche Bedingung, die Herrschaft über das gewaltige Kolonialreich weiter aufrechtzuerhalten. Zugleich war das Abkommen dem Geist des Appeasements geschuldet. Für diese Politik stand vor allem ein Name: Neville Chamberlain. Allerdings hatte auch der britische Premier sie nicht erfunden. Er konnte sich auf eine lange, im Ersten Weltkrieg geborene Tradition des friedlichen Interessensausgleichs beziehen. Wie die Franzosen hatten auch die Briten 1914–1918 enorme Verluste hinnehmen müssen. Am Ende des Krieges hatten rund 720.000 Soldaten ihr Leben verloren43 – ein Aderlass, der auch sie bewog, Konflikte, wenn irgend möglich, durch Verhandlung und Dialog zu lösen. Für Großbritannien, erklärte 1921 der damalige Kriegs- und Kolonialminister Winston Churchill, »besteht das Ziel darin, eine Befriedung der furchtbaren, in Europa existierenden hasserfüllten Beziehungen und Antagonismen zu erreichen und die Welt zu befähigen, diese beizulegen. Ich habe in dieser Hinsicht kein anderes Ziel.«44 Damit formulierte Churchill einen Kurs, dem sich die britische Politik noch anderthalb Jahrzehnte später verpflichtet fühlte. »Schlichtung und Befriedung in Europa sollten unser Ziel sein«, erklärte im Juni 1936 – knapp drei Monate nach Hitlers Rheinlandbesetzung – der damalige britische Außenminister Anthony Eden. Ihren Höhepunkt erreichte diese Politik im September 1938, als Chamberlain seine Unterschrift unter das Münchener Abkommen setzte. »I believe it is peace for our time«, erklärte er nach seiner Rückkehr und packte seinen Irrtum so in eine der bekanntesten Formeln der jüngeren Weltgeschichte. Er habe, erklärte er weiter, aus Deutschland »Frieden mit Ehre« mitgebracht. »Go home and get a nice quiet sleep.«45
Mit ganz anderen Gefühlen kehrte der französische Premier Édouard Daladier von dem Treffen zurück. Er unterschrieb das Abkommen, weil er Frankreich für eine militärische Auseinandersetzung mit Deutschland nicht hinreichend gerüstet sah. »Wenn ich 3000 oder 4000 Flugzeuge gehabt hätte, hätte es ›München‹ nicht gegeben«, soll er später bekannt haben.46 Ein Teil seiner Landsleute begrüßte die Entscheidung hingegen: Sie sahen die Einigung als Teil einer klugen Appeasement-Politik. Als Daladier nach Paris zurückflog und am Flughafen nicht, wie erwartet, auf eine zürnende, sondern eine jubelnde Menge traf, war er konsterniert angesichts der aus seiner Sicht politischen Naivität der Menge. »Diese Narren«, bemerkte er gegenüber einem Assistenten.47 Das Parlament freilich stimmte dem Ergebnis des Münchener Treffens mit überwältigender Mehrheit – 537 Ja- gegen 75 Nein-Stimmen – zu. Mit Bauchschmerzen klammerten sich die Franzosen an jene Hoffnung, von der auch die Briten – noch – nicht lassen wollten. Bis in das Jahr 1939, erinnerte sich der damalige Innenminister Samuel Hoare, unterstützten seine Landsleute Chamberlains Kurs. »Ich bezweifle, dass selbst Churchill, wäre er ein Mitglied der Regierung gewesen, das Land im Frühling und Sommer 1939 zu einer uneingeschränkten Kriegsanstrengung hätte bewegen können. Selbst wenn wir eine große und bedeutende Führungsfigur gehabt hätten, bezweifle ich, dass das Land den Kriegszustand in den Monaten vor Kriegsbeginn akzeptiert hätte.«48 Ähnlich sah es auch Chamberlains Kriegsminister Leslie Hore-Belisha. »Weder das Parlament noch die Bevölkerung waren darauf vorbereitet, die Methoden der Friedenszeit aufzugeben und die Industriemaschine des Landes auf die Kriegsproduktion umzustellen, wie es in Deutschland der Fall war.«49
Und doch, beobachtete im März 1939, kurz nach dem Einmarsch der Wehrmacht in die Tschechoslowakei, der französische Diplomat Guy de Girard de Charbonnières, ging auf der Insel ein Ruck durch die öffentliche Meinung: »Hitlers brutale Verletzung einer Vereinbarung, die ohnehin nur mit starkem Widerwillen aufgenommen worden ist, sowie die unverhohlene Annexion einer Bevölkerung, von der niemand behaupten wollte, dass sie deutsch sei, haben das Bewusstsein der Briten vom Kopf auf die Füße gestellt.«50 Die Reaktion der Öffentlichkeit habe auch Chamberlain zum Umdenken veranlasst. Die Öffentlichkeit, gab de Charbonnières durch, habe »eine brutale Verwandlung« durchlaufen. Dies geschah auch unter dem Eindruck der entschiedenen Haltung, die Frankreich angesichts der deutschen Aggression gegen die Tschechoslowakei demonstrierte. »Ich sagte damals, dass Europa sich im Alarmzustand befinde und dass Frankreich, entschlossen, den Frieden in Freiheit und in Ehre zu wahren, vor allem seine eigene Verteidigungsfähigkeit ausbauen und solidarische Bande zu allen Nationen stärken müsse, die entschlossen seien, der Aggression entgegenzutreten«, erinnerte sich Daladier an seine Erklärung im März jenes Jahres.51 Die Worte machten auch jenseits des Ärmelkanals Eindruck. »Die Entschiedenheit, die die französische Regierung demonstriert hat, hat in London allerbesten Eindruck gemacht«, gab der Dichter und Diplomat Alexis Léger alias Saint-John Perse, damals Generalsekretär des Außenministeriums, Tage später nach Frankreich durch.52 Von einem radikalen Meinungsumschwung in der britischen Hauptstadt berichtete auch der Diplomat Charles Corbin. Die britische Politik orientiere sich völlig neu. »Noch vor einigen Wochen hätte sich einen solchen Wandel niemand vorstellen können.«53 Hitler, so viel war klar, ließ sich durch Geduld und guten Willen seiner Gesprächspartner nicht beeindrucken. Es galt darum, sich auf einen Krieg einzustellen. Die Frage war nur: Wenn der deutsche Kanzler mit seiner irrlichternden Politik seine Nachbarn schon zu Friedenszeiten so lange hatte hinhalten, vielleicht sogar täuschen können: Zu welchen Listen würde er dann erst im Kriegsfall greifen?