Читать книгу Krebs beim Hund - Kerstin Piribauer - Страница 7

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Am Anfang steht wie so oft eine Geschichte

Mitte Oktober. Die letzten warmen, farbenfrohen Tage des Jahres schienen bereits Vergangenheit. Kalt war es geworden und dichtes Nebelgrau hing über dem oststeirischen Hügelland. Dennoch spielten zwei unserer Boxer – Mutter und Sohn – fröhlich und ausgelassen auf einer großen Wiese. Anna, gerade sieben Jahre alt geworden, und der knapp dreijährige Apoll waren wie immer ein Herz und eine Seele, und der aufgeweckte junge Boxermann wusste seine Mutter im Spiel stets ordentlich herauszufordern.

In diesen Tagen begann Anna zu husten. Litt sie eventuell an einer Erkältung? Angesichts der Jahreszeit und des nasskalten Wetters in den zurückliegenden Tagen schien dieser Gedanken keineswegs abwegig. Am nächsten Tag stellten wir Anna dem Tierarzt vor. In der klinischen Untersuchung zeigten sich keinerlei nennenswerte Auffälligkeiten, aber angesichts des Hustens bestätigte der Tierarzt unsere Vermutung einer Infektion der oberen Luftwege und verordnete Anna ohne eine weitere und genauere diagnostische Abklärung der Symptome ein Antibiotikum. Eine wirkliche Besserung war trotz dieses Therapieversuchs in den kommenden Tagen nicht erkennbar, im Gegenteil, Anna hustete bald zunehmend blutigen Schleim aus. Vier Tage später wirkte sie zudem sehr müde und lustlos, zeigte einen merkwürdig aufgeblähten Bauch. Bei einer neuerlichen Vorstellung in der Tierklinik führte nun eine Ultraschalluntersuchung des Bauchraums zu der vagen Äußerung, dass die Leber „etwas komisch“ aussähe. Das sei „kein schönes Gewebe“. Wir sollten die Antibiotika weiterhin geben.

Während der Autofahrt nach Hause kam mir der Gedanke, Anna an der Veterinärmedizinischen Universitätsklinik in Wien vorzustellen. Was konnte sie an der Leber haben? Was heißt „komisches Gewebe“? Könnte das eine Umschreibung für „Krebs“ sein? Aber selbst, wenn Anna einen Tumor haben sollte, gäbe es an der großen Universitätsklinik sicherlich die Möglichkeit einer Operation. Ich rief in Wien an. Leider war es schon spät am Nachmittag und an der Kleintierklinik niemand mehr für eine Terminvereinbarung erreichbar. Ich möge doch bitte am nächsten Morgen wieder anrufen, bat mich eine freundliche Stimme in der Telefonvermittlung.

Viel Weiß, wenig Schwarz: Krebs als Zufallsdiagnose

Abends verweigerte Anna ihr Essen, sie schien zunehmend apathisch. Wieder rief ich in unserer Haustierklinik an, und eine halbe Stunde später waren wir dort. Zur Ergänzung der Ultraschalluntersuchung vom Nachmittag wurde nun ein Röntgenbild des Bauchraums angefertigt, und wir warteten auf dessen Entwicklung. Was dann zu sehen war, ließ den diensthabenden Tierarzt und damit auch uns den Bauch und die Leber allerdings erst einmal vollkommen vergessen. Ein kleiner Teil der Lunge war auf dem Bild noch zu sehen: nicht schwarz, wie sich die Luft in einer gesunden Lunge am Röntgenbild darstellt, sondern weiß gefleckt. Viel Weiß mit kleinen schwarzen Zwischenräumen. Der Tierarzt machte ein besorgtes Gesicht, sprach von „Lungenkrebs“ und fertigte eine zweite Röntgenaufnahme an, diesmal nur von der Lunge.

Dieses Bild zeigte nun sehr viel Weiß in Annas Lunge. Das alles seien Krebszellen, erklärte uns der Tierarzt und fügte korrekterweise den Hinweis hinzu, dass das, was er gerade mache, im Grunde keine Tumordiagnostik sei, aber die Sache sei klar. – „Was tun?“ – „Keine Chance! Gar nichts tun!“ – „Wie lange noch?“ – „Vielleicht drei Wochen, vielleicht vier.“ – „Es muss doch eine Möglichkeit geben! Ich habe heute Nachmittag ohnehin beschlossen, morgen in Wien an der Universitätsklinik einen Termin zu vereinbaren, um Anna dort vorzustellen.“ – „Warum? Warum wollen Sie dem Hund die vielen Kilometer antun? Machen Sie ihr lieber eine schöne Zeit.“ – Noch ließ ich nicht locker. „Aber vielleicht gibt es noch eine Chance! Vielleicht gibt es die Möglichkeit einer Chemotherapie?“ – „Chemotherapie? Aber ich bitte Sie! Wollen Sie Ihrem Hund das wirklich ANTUN?“


Auf diesem Röntgenbild von Annas Lunge sind die Metastasen überdeutlich erkennbar.

Warum blieb damals nur dieser eine Satz in mir hängen? Warum ließ ich mich davon derart lähmen und habe nicht die Kraft gehabt, bei meinem Vorsatz vom Nachmittag zu bleiben, am nächsten Tag wie vereinbart in Wien anzurufen? Warum habe ich nichts getan, was Anna vielleicht noch hätte helfen können, was uns eventuell noch einige Wochen, Monate, vielleicht ein Jahr Leben geschenkt hätte? Ob dem so gewesen wäre – niemand kann mir heute darauf eine Antwort geben. Mit Sicherheit aber hätten weitere diagnostische und therapeutische Schritte zumindest mehr Klarheit in die gesamte Situation und eine eindeutige Diagnose gebracht. ANTUN?! Nein, ANTUN wollte ich Anna sicher nichts, aber es entsprach auch nicht meinem Naturell, gar nichts zu tun. Das war ausgeschlossen für mich.

Ersatzhandlung

Die in unserer Haustierklinik damals ohne weitere Diagnostik, Diskussion und Abwägung noch am späten Abend sofort eingeleitete Kortisontherapie schien mir schon seinerzeit eine mehr oder weniger hilflose Alibiaktion, von der ich mir keinerlei Besserung versprach – zu Recht, wie ich heute weiß. Also begann ich, genauso wie unzählige andere Hundebesitzer dies auch heute noch tun, „Doktor Google“ zu befragen und im Internet nach alternativen Tumortherapien zu suchen. Dabei stieß ich auf ein Mistelpräparat, das ein angeblicher Tumorspezialist anbot, der sogar in unserer Nähe praktizierte. 50 Kilometer würde ich Anna ja doch noch ANTUN können, und so fuhren wir mit den Röntgenbildern unserer Klinik zu diesem Arzt, der uns anschaulich, wort- und farbenreich die Wirkungsweise, die Vorteile und „Risiken“ einer Misteltherapie darstellte, für die wir uns dann auch entschieden. Aus heutiger Sicht eine reine Ersatzhandlung! Statt 175 Kilometer nach Wien nur knapp 50 Kilometer, statt einer genauen diagnostischen Abklärung mit den Möglichkeiten der modernen Veterinärmedizin und statt einer eventuell noch sinnvollen Therapie nur eine komplementärmedizinische Misteltherapie! Noch heute macht mich der Gedanke, damals so entschieden zu haben, fassungslos. Seinerzeit war ich zumindest sicher: Damit konnte und würde ich Anna nichts ANTUN! Heute ist mir klar, dass die in Zusammenhang mit Tumorerkrankungen oftmals empfohlene Misteltherapie ihren Sinn unter anderem in einer unspezifischen Aktivierung des Immunsystems findet, indem die natürlichen Inhaltsstoffe der Mistel die körpereigene Abwehr verstärkt motivieren können, um dann vielleicht auch gegen Tumorzellen im Organismus vorzugehen. Heute weiß ich auch um den geistigen Hintergrund und das Gedankengerüst des anthroposophischen Heilungsansatzes der Misteltherapie. Das mag eventuell als unterstützende und begleitende – eben komplementärmedizinische – Maßnahme hilfreich sein, es ernsthaft als Ersatz oder Alternative zu einer etablierten evidenzbasierten Behandlungsform zu betrachten und anzubieten, erscheint mir persönlich heute durchaus als ethisch bedenklich.

Zumindest aber brachte dieser zweite Tierarzt damals so viel Licht in die Gesamtsituation, dass er nicht an einen bei Hunden eher seltenen primären Lungentumor glaubte, sondern uns erklärte, dass das, was das Röntgenbild zeige, Metastasen seien, wahrscheinlich von unentdeckten Mammatumoren. Er tastete Anna ab und machte mich auf eine kaum spürbare und sehr versteckt liegende steinharte Verdickung neben einer ihrer hinteren Zitzen aufmerksam, gerade einmal so groß wie ein Stecknadelkopf. Beim weiteren Abtasten fand er im Bereich des vorletzten und letzten Milchdrüsenkomplexes drei solche Gebilde und erklärte diese für die Ursache des Ganzen. War es wirklich so? Ich erinnere mich noch ganz genau, wie sich die Verhärtungen anfühlten. Steinhart. Wenig größer als ein Stecknadelkopf. Sehr gut abgegrenzt. Passte das wirklich zu der These, dass es sich hier um bösartige Mammatumoren handeln sollte, die in die Lunge metastasiert hatten? Noch hatte ich meine Zweifel, und im Grunde meines Herzens bin ich vielleicht noch immer auf der Suche nach einer Antwort auf all diese Fragen …

Wir ließen das Mistelpräparat bestellen. Es sollte in unsere Haustierklinik geliefert und dann den Angaben des zweiten Arztes entsprechend verabreicht werden. Anna verstarb wenige Tage später, noch bevor das Medikament in der Klinik eingetroffen war. Sie war sehr schwach an jenem letzten Morgen, hatte nahezu weiße Schleimhäute und wollte kaum aufstehen. Während Anna in der Klinik eine Infusion erhielt, die den Organismus eigentlich stärken sollte, verschlechterte sich ihr Zustand zusehends. Aber auch jetzt erfolgte kein zielgerichteter Versuch, um herauszufinden, was aktuell in ihrem Körper vorging. Keine Diagnose, kein Ansatz einer Lösungsmöglichkeit, und so stimmte ich seinerzeit zu, ihrem Leben ein Ende zu setzen – angesichts der damaligen Gesamtsituation zwar nachvollziehbar, aber bis heute trage ich das gefühlte Wissen in mir, dass dies eine der großen Fehlentscheidungen meines Lebens war.

Schuldgefühle

Vieles hat sich seither verändert, und während ich heute – über ein Jahrzehnt später – Annas Geschichte niederschreibe, schäme ich mich noch immer ob meiner damaligen Tatenlosigkeit, meiner Mutlosigkeit und Unentschlossenheit. Unsere vierbeinigen Freunde legen ihr Leben vertrauensvoll in unsere Hände, und es ist unsere Aufgabe, für jeden von ihnen die richtigen Entscheidungen zu treffen. In meinem Denken sind das Entscheidungen, die den medizinischen Möglichkeiten und dem wissenschaftlichen Kenntnisstand unserer Zeit entsprechen. Entscheidungen, die uns erlauben, unseren Hunden ins Gesicht zu schauen – auch über ihren Tod hinaus!

Anna ist damals im Alter von sieben Jahren, einem Monat und sechs Tagen für immer von uns gegangen. Sie hat mich unendlich viel gelehrt in ihrem viel zu kurzen Leben, und die Erinnerungen vermischen sich noch immer mit Schuldgefühlen, nicht alles für sie getan und zu früh aufgegeben zu haben. Vielleicht hätte Anna mit allem, was ich inzwischen lernen durfte, noch einige schöne Wochen oder Monate auf dieser Welt verbringen können – geschenktes Leben! Wie auch immer – zumindest hätten eine vollständige Abklärung ihrer Erkrankung und eine gesicherte Diagnose sowie eine begründete und fundierte Abschätzung der eventuell noch gegebenen therapeutischen Möglichkeiten mir den Umgang mit Annas frühem Ende enorm erleichtert.

Auf dem Weg zu neuen Perspektiven

Etwa zehn Tage nach Annas Tod fiel mir seinerzeit der Hinweis auf eine Veranstaltung an der Veterinärmedizinischen Universität in Wien in die Hände: ein Seminar unter dem Titel „Mein Hund hat Krebs! – Was kann heute für ihn getan werden?“. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, meldete ich mich sofort zu dieser Veranstaltung an. Auch die gut gemeinte Warnung einer Freundin, ob ich mir dieses Thema wirklich schon so kurze Zeit nach Annas Tod antun wolle, hielt mich nicht davon ab. Im Gegenteil! Mich beherrschte der Gedanke, so viel wie möglich über diese Krankheit erfahren und lernen zu müssen.

Ich erinnere mich noch gut: Wie gefangen saß ich damals in dem Hörsaal, saugte jedes Wort der Vortragenden in mich ein, die wie immer an der Vetmeduni voller Leidenschaft und Engagement von den Möglichkeiten der modernen Tiermedizin sprachen. Zu spät für Anna, aber rechtzeitig genug, um ihren Nachkommen die Chance auf eine optimale Therapie zu geben. Damals verspürte ich plötzlich die Gewissheit in mir, beim nächsten Mal in einer ähnlichen Situation die besseren, die richtigeren und die angemesseneren Entscheidungen zu treffen – und heute weiß ich nur zu gut um die weitreichenden Konsequenzen dessen: Dass der schnelle Tod meiner Cordelia zumindest keine quälenden offenen Fragen hinterließ, sondern das sichere Wissen, alle medizinischen Möglichkeiten ausgeschöpft und in jedem Moment im vollen Bewusstsein der Verantwortung gehandelt zu haben, wurde mir zu einer der wertvollsten emotionalen Stützen in der Trauer um meine junge Hündin. Zur gleichen Zeit verdankten Braganza und ich der chirurgischen, strahlen- und chemotherapeutischen Behandlung ihres axialen Osteosarkoms, dass wir unsere Liebe noch einen glücklichen gemeinsamen Sommer lang LEBEN durften …


Anna vom Zugspitzblick. Ihr viel zu früher Tod nach einem nicht ausdiagnostizierten und somit auch nicht adäquat behandelten Tumorgeschehen wies mir den Weg, für ihre Nachkommen und Nachfolger informierte und damit bessere und verantwortungsvollere Entscheidungen zu treffen.

Krebs beim Hund

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