Читать книгу Der kleine Coach für den Nachttisch - Kerstin Stolpe - Страница 11
„Na und! Ist mir egal, was die anderen über uns sagen!“
ОглавлениеSie saßen an Bord der Fähre, die sie von Oslo zurück nach Kiel bringen sollte. Sie schauten aufs Wasser, der Mond verschwamm auf den leichten Wellen der Ostsee. Ein friedliches Bild – die Welt mit sich im Reinen. Wie sie! Sie lächelten einander an und freuten sich – sie hatten es gewagt. „Warum seid ihr schon auf dem Heimweg?“, fragte ihre Mutter, seine Frau. „Ihr wolltet doch noch eine Woche länger bleiben! War es nicht schön? Ist was passiert?“
Ja, sie wollten eigentlich länger bleiben. Und ja, es war etwas passiert. Einiges sogar. Sie hatten viel gesehen und viel erlebt. Und sie hatten viel über sich selbst gelernt. Wie das?
Sie – das sind Vater Klaus und seine erwachsene Tochter Silke – wollten Silkes Traumurlaub machen: Norwegen mit dem Rad erkunden. Die bisherigen Touren hatten sie immer entlang der deutschen Küsten beziehungsweise Flüsse geführt, und es waren vier bis sechs Tagestouren mit 500 bis 700 Kilometern Strecke gewesen. Aber Silke hatte sich den Nordseeküstenradweg vorgenommen – Startpunkt: Bergen! Es dauerte Monate, bis der Plan stand: Wie sollten sie mit den Rädern nach Bergen kommen? In überschaubarer Zeit, ohne sie auseinanderschrauben zu müssen? Wie kamen sie von Oslo nach Bergen? Und wie konnten sie die Etappen planen? Welche Unterkunftsmöglichkeiten gab es? Und so weiter und so weiter.
Vor der Abfahrt erstellte Silke wie für jede Tour einen Blog, um die Reise zu dokumentieren und Freunde und Familie daran teilhaben zu lassen. Die geplante Route war schon beschrieben. Knapp 1.400 Kilometer hatten sie sich vorgenommen – in 16 Tagen. Sie erzählten stolz von ihren Plänen – und die Aufregung wuchs und wuchs. Dann ging es los! Mit dem Zug nach Kiel. In Kiel auf die große Fähre nach Oslo. Und dann die Ausfahrt aus der Kieler Förde! Bei strahlendem Sonnenschein, der im Wasser funkelte. In Oslo angekommen, fuhren sie mit den Rädern vom Kai zum Bahnhof – auf einer Fahrradautobahn!!!!! – und stiegen in den Panoramazug nach Bergen. Diese Strecke gilt als schönste Bahnstrecke Norwegens – mit Recht! An diesem Tag genossen sie Temperaturen von 25 bis -10 Grad in den Skigebieten. Traumhaft! Sie nutzten die Zugfahrt, um die ersten Etappen zu besprechen. Nach einer kurzen Nacht in der Jugendherberge in Bergen wollten sie früh aufbrechen. Etappenziel circa 80 Kilometer. Das posteten sie auch direkt in den Blog. Fünf Stunden später war aller Optimismus dahin. Sie waren völlig ausgepumpt, hingen mit Tränen der Erschöpfung auf den Stühlen der Jugendherberge – mit einer bestellten Pizza vor sich – und wollten nur noch heim. Die reine Distanz von 10 Kilometern zum Bahnhof klang überschaubar. Der Aufstieg war allerdings alles andere als das. Eine Steigung von knapp 20 Prozent und ein Trampelpfad mit Geröll war der einzige Weg zur Jugendherberge. Dieses Detail hatte man ihnen bei der Buchung verschwiegen! Aber an der ersten Hürde gibt man nicht auf. Der Ehrgeiz trieb sie an. Sie hatten allen von der Reise erzählt, und bisher hatten sie jede geplante Etappe erfüllt, meistens sogar übererfüllt, und dafür Bestätigung von der „Follower-Gruppe“ erhalten.
Am nächsten Morgen – etwas später als geplant – packten sie ihre Sachen und machten sich auf den Weg. Sie kamen langsamer voran als gedacht, hatten aber neuen Mut geschöpft und waren voller Tatendrang. Am dritten und vierten Tag jedoch wurden die Bergetappen von starken Regenfällen und Sturmböen flankiert. Und sie litten beide an Sehnenscheidenentzündungen! Sie waren kaum mehr in der Lage, die Landschaften zu genießen. Am Ende des vierten Tages saßen sie in ihrem Zimmer in einer kleinen Pension und grübelten, wie es weitergehen sollte. Sie mussten die Strecke schaffen! Das hatten sie immer! Meistens sogar in weniger als der geplanten Zeit. Beide wussten, dass das diesmal nicht der Fall sein würde. Waren aber nicht bereit, es sich einzugestehen. Ein weiterer Tag dieser Art folgte. Und dann kam die Nacht: Sie wurden von plötzlichem Geschrei und Rumpeln aus dem Schlaf gerissen. Ein heftiger Streit mit Handgreiflichkeiten und herumfliegenden Geschirr im Nebenzimmer, und die Tür ließ sich nicht abschließen – die Randalierer hätten jederzeit in ihr Zimmer kommen können. Silke saß mit angezogenen Beinen bei ihrem Vater im Arm und hoffte und betete, dass ihre Nachbarn nicht ins Zimmer kämen. Dann kam die Polizei – und es war Ruhe. Sie saßen noch eine Weile auf den Betten und sprachen über die Geschehnisse der Nacht, versuchten sich zu beruhigen. Vorm Einschlafen hatten sie einen Entschluss gefasst: Wir verlassen diesen Ort.
Ein paar Stunden später brachen sie auf. In einem Nachbarort fanden sie eine Ferienwohnung mit Panoramablick über Kristiansand. Eine wunderschöne Unterkunft.
„Papa, lass uns nach Hause fahren. Es fällt mir schwer, es zuzugeben, aber ich habe die Strecke unterschätzt. Das Land ist toll. Aber die körperliche Anstrengung ist einfach zu groß. Ich habe Schmerzen. Und die gestrige Nacht hat mir Angst gemacht. Ich hoffe, du bist nicht enttäuscht!“
„Ich bin so froh! Das wollte ich auch vorschlagen! Ich denke seit zwei Tagen daran, wollte aber kein Spielverderber sein – du hast dir die Tour so sehr gewünscht.“
„Und was schreiben wir in unseren Blog?“
„Wir posten einfach Bilder und beschreiben die Landschaft.“
Also buchte Silke die Rückfahrt eine Woche früher und vorher zwei Tage in Oslo. Sie freuten sich auf die verbleibenden Tage – und hatten kein schlechtes Gewissen oder Versagergefühle. Das war neu! Es fühlte sich alles gut an. Sie hatten sich etwas vorgenommen. Hatten es versucht. Und dann die Entscheidung getroffen, den Genuss vor die Erfüllung des Ziels zu stellen und sich damit zu verausgaben. Das war ein herrlich friedliches Gefühl. Und es war ein Gefühl von Freiheit, einfach früher heimzufahren als geplant.
Der perfekte Abschluss der Reise: Ihr Lebensgefährte wartete am Bahnhof – trotz Umbuchung ;-).
Und was erzählen sie, wenn sie nach der Norwegentour gefragt werden? „Der Urlaub war traumhaft. Wir haben viel gesehen, viel geredet und uns selbst besser kennengelernt. Die Reise war ganz anders als geplant – und eine der schönsten und wertvollsten.“