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»Ich bin dem Krebs auch dankbar – für meine zweite Chance.«

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Julian, 17, Ewing-Sarkom (Knochenkrebs)

Die Wahrheit ist: Der Krebs hat mir das Leben gerettet. Bevor ich ihn hatte, war ich ein ziemlich wilder Typ, der sich schnell hat provozieren lassen. Beim Kickboxen hatte ich gelernt, mich zu verteidigen. Also habe ich nicht lange gefackelt, wenn ich abends mit meiner Gang in der Stadt unterwegs war und uns jemand dumm kam. Ich fühlte mich stark und erhaben – wusste aber gleichzeitig nicht so recht, wer ich war. Meine Noten in der Schule waren schlecht, es hagelte Verweise, weil ich mich am laufenden Band danebenbenahm und niemanden als Respektsperson akzeptierte. Im Rückblick kann ich sagen, dass mein Leben ziemlich kompliziert und anstrengend war, ich ruhte nicht gerade in mir. Keine Ahnung, wie es heute laufen würde, wäre der Krebs nicht dazwischengekommen. Ich glaube, dass ich diesen Gong einfach gebraucht habe. Aber der Reihe nach.

Ich war gerade 14 Jahre alt geworden, da fuhr ich mit meiner Familie und einem guten Freund in die Ferien nach Sardinien. Das war im Sommer 2011. Die sechs Monate davor hatte ich immer wieder Probleme mit meinem linken Bein. Schubweise kamen abends Schmerzen, die ich nicht recht zuordnen konnte. Ich überlegte, ob das eine Muskelzerrung sein könnte, vielleicht vom Kickboxen. Meine Mom wollte mich mehrfach zum Arzt schicken, ich winkte ab. »Wird schon nichts Dramatisches sein«, sagte ich und verdrängte die Schmerzen. Vielleicht kamen sie ja auch vom Wachstum. Jedenfalls dauerte die Autofahrt nach Sardinie­n mit Fähre und allem Drum und Dran über zehn Stunden. Als ich endlich aussteigen wollte, konnte ich mein linkes Bein kaum noch bewe­gen. So höllisch weh tat es. Und krass geschwollen war es auch. Schlagartig ging es mir richtig dreckig. Das waren die Schmerzen meines Lebens. Also ohne Umwege ins Krankenhaus. Ein super Start in die Sommerferien!

Mein Dad stammt aus Sardinien, meine Cousine ist dort Orthopädin. Das war mein großes Glück, sonst hätten wir uns im Krankenhaus ja kaum verständigen können. Sofort wurde ein CT angeordnet. Der Arzt wirkte ernst und meinte, wir sollten besser direkt wieder zurück nach Deutschland fahren. Natürlich hat mir keiner gesagt, dass ein Tumor am Knochen entdeckt worden war, der sich durchs lange Sitzen im Auto mit Blut gefüllt hatte. Ich dachte, dass mir jetzt eine kleine Operation bevorstünde – und dass danach alles wieder beim Alten wäre. Und klar, ich war eher sauer, weil meine langersehnten Ferien direkt am ersten Tag wieder vorbei waren.

Auf der Rückfahrt hatte ich viel Zeit, mir Gedanken zu machen. Mir wurde klar, dass das doch nicht so eine kleine Sache sein konnte. Der italienische Arzt hätte uns ja nicht wegen eines Mini-Eingriffs zurückfahren lassen. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass irgendetwas Großes passieren würde. Etwas, das alles verändert.

Zurück in Augsburg ging es für mich direkt in die Notaufnahme der Kinderklinik. Erst wurde Blut abgenommen – und nach ein paar weiteren Untersuchungen setzte sich eine Onkologin zu mir und sagte: »Ich habe schlechte Nachrichten. Du hast einen Tumor im Bein.« Meine Eltern und mein bester Freund standen dabei. Sie fingen direkt an zu weinen. Ich weiß nicht, was in dem Moment in mir vorging. Ich grinste bloß und sagte: »Ich wusste es eh schon.« Es stellte sich heraus, dass mein gesamter Oberschenkelknochen vom Krebs zerfressen war. In der Mitte hatten sich drei Geschwüre gebildet, die so groß wie Mandarinen waren. Die ganze Nummer war mehr als akut, also behielten sie mich gleich im Krankenhaus, damit die Chemotherapie direkt eingeleitet werden konnte.

Ich hatte ein Ewing-Sarkom. Das ist sehr selten, kommt nur etwa sechzigmal im Jahr in Deutschland vor. Weshalb so ein Tumor entsteht? Dafür gibt es keine Erklärung, es ist ein Scheißzufall. Einfach Pech gehabt, es kann jeden erwischen. Gegen dieses Ewing-Sarkom kennen die Ärzte nur ein Mittel: die allerstärkste Chemo, die man bei Knochenkrebs einsetzt. Mir wurde ein Katheter gesetzt, aus dem drei Schläuche kamen. Das Ganze lief dann so ab: drei Tage Chemo, zwei Tage spülen. Vier Liter Flüssigkeit wurden an den Spültagen durch meinen Körper gejagt. Ich hatte die krassesten Nebenwirkungen: Halluzinationen, dreimal Erbrechen in der Stunde, Pilzinfektionen im Mund. Ich konnte rein gar nichts essen, hatte permanent einen widerlichen Geschmack im Mund. Irgendwann wog ich nur noch 34 Kilo­gramm – und das bei einer Größe von 1,72 Meter. Nach zwei Blöcken stand fest, dass diese Extrem-Chemo nichts ausrichten konnte. Mein Tumor war stärker, er ging einfach nicht zurück.

Bei einem Knochentumor ist es wichtig, dass die Ärzte die anderen Organe beobachten. Denn diese Art von Krebs streut wie wild Metastasen im Körper. Für meine Krebsart ist es üblich, dass die Lunge befallen wird. So war es dann auch. Hätte meine Onkologin die Metastasen nicht entdeckt, wäre ich zwei Wochen später gestorben. Das muss man sich mal reinziehen, so knapp war es. Ich habe so was von eine zweite Chance bekommen. Insgesamt war ich viermal auf der Intensivstation – und jedes Mal mehr tot als lebendig. In der Zeit liegt man nur herum und kann kaum einen klaren Gedanken fassen. Die Ärzte pumpen einen voll mit Medikamenten, ich fühlte mich ziemlich fremdbestimmt.

Wenn ich wieder auf der normalen Station war, mutierte ich zum Spielsüchtigen. Meine Familie entpuppte sich als superspendabel. Ich bekam einen Laptop, eine Playstation, Kopfhörer und eine Gitarre. Tagelang habe ich durchgezockt: Call of Duty und League of Legends waren meine Lieblingsspiele. Da konnte ich in eine andere Welt abtauchen, alles um mich herum vergessen. Bei uns auf der Station gab es aber auch ein Kinderspielzimmer. Unter normalen Umständen wäre es mir wohl ziemlich unangenehm gewesen, mit einer Erzieherin Das Spiel des Lebens zu spielen. Aber wenn man nicht weiß, wie lange man es noch macht, kann man auch ein paar Stunden im Spielzimmer genießen. Es klingt streberhaft, aber man wird ein bisschen demütig. Nichts mehr ist so richtig selbstverständlich. Ab einem gewissen Punkt ist man einfach nur froh, wenn man nicht dauernd kotzen muss oder keine offenen Schleimhäute mehr im Mund hat.

Eine ziemlich lange Zeit konzentrierten sich alle auf meine Lunge. Ich sah immer wieder mein linkes Bein an und machte mir so meine Gedanken. Und hatte eine böse Vorahnung – spürte aber, dass keiner so richtig mit mir reden wollte. Nur wenn ich mal eine konkrete Frage stellte, kam eine Antwort. Aber meistens eine ungefähre. Es ist merkwürdig, dass Erwachsene glauben, als Jugendlicher kommt man mit der Wahrheit nicht klar. Oder kann Trauriges nicht ertragen. Man kann niemandem einen Vorwurf machen, sie wollen uns ja nur schützen. Aber man bekommt doch viel mehr mit. Zum Beispiel die traurigen Augen meiner Mom, die ich täglich sah. Ich habe eine Halbschwester und zwei Stiefbrüder, eine richtige Patchworkfamilie sind wir. Meine Mom hat eine Wirtschaft. Irgendwie hat sie es in der Zeit geschafft, alles so zu organisieren, dass sie jeden Tag bei mir im Krankenhaus sein konnte.

Auf der Kinderstation war ich die Stimmungskanone. Bei mir im Zimmer wurde immer gelacht, das war wie eine Grundregel. Wir todkranken Teenies haben uns gegenseitig verarscht. Und ich habe mich auch um die Kleineren gekümmert, sie aufgebaut und sie mit Späßen abgelenkt, wenn sie zum Beispiel nichts essen wollten. Zu einem Jungen bin ich immer zum Frühstück gegangen und habe ihn aufgeheitert. Er hat es leider nicht ­geschafft. Er starb, als ich auch noch auf der Station war. Nach seinem Tod hat mir sein Vater geschrieben, dass ich derjenige gewesen war, der seinen Sohn am besten zum Lachen gebracht hat – und dass er sich dafür bedanken will. Seine Worte haben mich schon sehr berührt. Sie haben mir gezeigt, dass man überall etwas bewirken kann. Ob man im Klassenzimmer hockt, irgende­in abgefahrenes Fach studiert oder auf der Krebsstation liegt. Man kann immer das Beste aus der jeweiligen Situation machen und seinen Mitmen­schen etwas Gutes tun. Oh Gott, jetzt klinge ich schon wie so ein Guru. Ich habe übrigens auch mitbekommen, wie Kinder und Jugendliche mit sich und ihrem Leben abschließen. Denen die ganzen Therapien und Untersuchungen zu viel geworden sind. Und die dann irgendwann gestorben sind. Wenn man sich aufgibt, stirbt man. Deshalb muss man immer weiter lachen und für Fröhlichkeit sorgen. Egal, wie scheiße es im Leben gerade läuft.

Am 25. Januar 2012 wurde mein Bein amputiert. Dafür wurde ich extra von Augsburg nach Ingolstadt gefahren, weil es dort einen Spezialisten für genau die OP gibt, die für mich vorgesehen war. Über acht Stunden dauerte der Eingriff. Vorher habe ich geweint. Es war das erste Mal in der ganzen Zeit, dass mir nach Heulen zumute war. Die Vorahnung, dass mein Bein dran glauben müsste, war ja von Anfang an in meinem Kopf. Jetzt war die Befürchtung mehr als konkret. Vor der OP wusste ich aber nicht, wie krass schmerzhaft dieser Abschied wird.

Eigentlich würde man ja denken, dass so eine Amputation in einer Stunde durch ist: Narkose, Säge, Bein ab, aufwachen. Bei mir war es komplizierter. Mir wurde nämlich erst das gesamte Bein abgenommen. Dann setzten mir die Chirurgen den Unterschenkel ab unterhalb des Knies da hin, wo mein Oberschenkel begann – aber um 180 Grad gedreht. Das Sprunggelenk ersetzt jetzt das Kniegelenk. Es ist etwas kompliziert und nicht viele Menschen leben damit. Aber weil bei mir nur der Oberschenkelknochen komplett im Arsch war, konnte man den Rest des Beins ja schlecht mit wegwerfen.

Nach den acht Stunden in Narkose wachte ich aus der OP auf und hatte Halluzinationen. 32-mal fragte ich die Krankenschwester, weshalb ich Kopfhörer aufhabe. Dabei trug ich eine Sauerstoffmaske. Ich kann nicht beschreiben, wie dreckig es mir ging. Ich verlangte nach einer Cola und erbrach sie sofort wieder. Ich hatte sehr viel Blut verloren und war schwach. Als die Schmerzmittel nachließen, war ich in der Hölle. Ich schrie und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Die Ärzte wollten mir aber kein Morphium geben. Dann rief meine Mom bei meiner Onkologin in Augsburg an. Zehn Minuten später hatte ich eine Morphiumpumpe und konnte das Schmerzmittel so dosieren, dass ich es einigermaßen aushielt. Man muss halt die richtigen Leute kennen.

Mein Bein war 64-mal geklammert. Drei Wochen musste ich bei den Spezialisten in Ingolstadt bleiben, dann wurden die Klammern gezogen und ich konnte wieder zurück auf »meine« Station nach Augsburg – natürlich per Krankentransport. In Augsburg habe ich mich – so komisch das klingt – wohl und heimisch gefühlt. Ich finde die Station schön und mag meine Onkologin. Ich glaube, sie war richtig froh, als ich wohlbehalten zurückkam. Jetzt musste ich mich an ein Leben mit eineinhalb Beinen gewöhnen, bekam Physiotherapie und Lymphdrainage. Eine Prothese wurde gebaut. Ich hatte den Dreh schnell raus, kann sie heute in zehn Sekunden anziehen. Wenn ich eine lange Hose trage, sieht keiner, dass mir Knie, Unterschenkel und Fuß fehlen.

Als es mir einigermaßen besser ging, standen zwei Lungen-­Operationen an, für jede Seite eine. Die Metastasen mussten ja noch entfernt werden, auch hier hatte die Chemo nicht richtig gegriffen. Nach beiden Eingriffen habe ich mich genauso mies gefühlt wie nach der Amputation. Zwei Metastasen lagen richtig ungünstig. Die Chirurgen mussten mir die ganze Lunge entnehmen. Crazy, oder? Nach jeder OP hatte ich dann eine Drainage. So ein Zwanzig-Zentimeter-Schlauch, der in dir drinsteckt, ist einfach das Allerletzte. Schon die Erinnerung daran macht mich fertig. Nachdem sie mir den Schlauch einmal bei Bewusstsein gezogen haben, lasse ich das nur noch mit Vollnarkose zu. Die Schmerzen sind nicht zu beschreiben. Nach so einer OP folgt – wie sollte es auch anders sein – eine Chemo. Die allerletzten Metastasen müssen schließlich auch noch zerstört werden. Das ganze Spiel also wieder von vorne. Übelkeit, Erbrechen, Pilzinfektion im Mund. Dazu noch eine Gürtelrose. Fühlt sich ein bisschen an, als hätte man die Arschkarte gezogen.

In all der Zeit war mir oft fett langweilig. Ohne meine Playstation wäre ich wahrscheinlich durchgedreht. Manchmal habe ich zehn Stunden am Tag durchgezockt. Irgendeinen Ausgleich braucht man halt zu dem ganzen Krankenhaus-Wahnsinn. Aber man gibt sich auch den kleinen Freuden hin. Mit meiner Lieblingserzieherin Moni habe ich oft eine Runde Mensch ärgere dich nicht gespielt.

Insgesamt habe ich 16 Monate Schule verpasst. Jetzt gehe ich in die neunte Klasse und war für kurze Zeit sogar mal Klassensprecher. Das wäre vor der ganzen Krebssache undenkbar ­gewesen. Ich war ja kein Heiliger und hätte mich auf so uncoole Sachen niemals eingelassen. Der Tumor hat meinen Arsch gerettet, mich zu einem neuen Menschen gemacht. Heute kriege ich mein Leben voll auf die Reihe, mein Notenschnitt liegt bei 1,5. Ich lasse mich nicht mehr so schnell provozieren und hänge mit Leuten rum, die mir guttun. Und ich lasse mich nicht runterziehen. Das Leben ist zu schön, um auch nur einen Tag traurig zu sein. Jeder kann theoretisch morgen die Diagnose bekommen, dass er Krebs im Endstadium hat. Ehrlich, mich regen Leute auf, die sich über Kleinigkeiten echauffieren. Einfach mal gechillt bleiben und sich freuen, dass man gesund und am Leben ist.

Insgesamt hatte ich vier Rehas, alle im Schwarzwald. Man könnte denken, dass da ein Haufen deprimierter Jugendlicher rumsitzt, die sich gegenseitig bemitleiden. »Echt, du hast kein Bein mehr? Schau mal, mir haben sie den Arm abgenommen!« Das Gegenteil ist der Fall. Wir haben es krachen lassen, abends Partys auf unseren Zimmern geschmissen. Ich habe das Gefühl, dass wir alle einen ziemlich guten Humor haben. Gesunde haben ja krasse Berührungsängste und behandeln uns wie Behinderte. Dabei finden wir es einfach nur geil, dass wir leben. Um das zu feiern, haben wir uns Wein und Schnaps von den Älteren in der Klinik besorgen lassen. Und es dann genossen, zynische Sprüche über Amputationen, Chemo und so weiter zu machen.

Meine große Angst vor dem Verlust meines Beins war, dass mich kein Mädchen mehr anschaut, wenn ich humpele. Kurioserweise ist das Gegenteil der Fall. Ich gehe offen und locker damit um. Das kommt anscheinend gut an. Viele Jungs sind in der Pubertät ja eher krampfig. Ich habe schon so viel durchgemacht, was soll ich mich verstecken? Einmal bekam ich von einem Typen im Freibad einen dummen Spruch gedrückt. Er rief in meine Richtung: »Schaut euch mal den Krüppel an!« Da bin ich richtig traurig geworden. Mein Kumpel hat ihm dann Prügel angedroht und die Sache war gegessen. Es gibt kein besseres Gefühl, als gute Freunde zu haben, die für einen einstehen.

Ich kann gehen und laufen, feiere in Clubs und tanze. Ich trinke und rauche und mache, worauf ich Lust habe. Letztens bin ich mit meiner Mom spontan nach Tunesien geflogen. Es waren Ferien und wir hatten nichts vor. Ich sagte: »Auf geht’s, Mama!« Mich schränkt nichts ein. Gibt es einen einzigen Grund, nicht happy zu sein? Der Krebs hat mich gelehrt, keine Zeit mit Schwachsinn zu vergeuden. Und klare Ansagen zu machen. Ich rede nicht einen Monat um den heißen Brei herum. Wenn mich etwas ärgert oder ich was zu sagen habe, dann raus damit.

Ich wünsche mir eine Familie und zwei Kinder. Ein Junge und ein Mädchen und eine tolle Frau. Ein Eigentumshaus in einem schönen Vorort, am liebsten bei Augsburg, wo ich ja auch aufgewachsen bin. Und keine Schulden. Bis dahin habe ich noch ein bisschen Zeit. Jetzt mache ich erst mal meine Schule fertig.

Der Tod kann mich mal!

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