Читать книгу Die Tochter des Advokaten - Kirsten Schützhofer - Страница 10

17774. Kapitel

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Deutlich hörte Jules das Stöhnen durch die Tür, vor der er kauerte, seitdem die Wehen eingesetzt hatten. Zwei Diener waren schon mit Schüsseln blutigen Wassers an ihm vorbeigeeilt, um sie durch das Fenster in den Hof zu schütten, wo sie rote Pfützen hinterließen, ganz so, als habe man ein Schwein geschlachtet. Von Zeit zu Zeit kam Henri aus dem Salon und wechselte einige Worte mit dem Arzt: Luft, heißes Wasser ... Man hatte die Gebärende zur Ader gelassen, aber ihr Zustand wollte sich nicht bessern. Ihr Pulsschlag war besorgniserregend.

Es war die dritte Geburt seiner Mutter innerhalb kurzer Zeit, und sie war vermutlich wieder zu früh dran. Er hatte es an den gerunzelten Brauen seines Vaters sehen können, bevor dieser sich zurückgezogen hatte. Er hatte Besuch. Der Vater dieses uninteressanten, neunjährigen Mädchens, blond, blauäugig und aus guter Familie, das er vielleicht einmal heiraten sollte. Vertragsverhandlungen. Er hatte nicht mehr Nachlaufen spielen können, seit er sechs Jahre alt gewesen war, und als ihm diese Cécile-Marie de Lautrec als eine mögliche Braut vorgestellt worden war, hatte er dies akzeptiert wie alles seit jenem Apriltag. Aus dem Raum drang plötzlich wieder lauteres Stöhnen, dann Schreie, die Jules erst beide Hände auf die Ohren pressen und endlich näher zur Tür humpeln ließen. »Maman!«

Er konnte die Stimme des Arztes hören, dumpf und hastig, ballte die rechte Faust, hielt sich mit der anderen Hand am Türrahmen fest und klopfte. Wieder schrie seine Mutter, auch wenn der Ton fremd klang.

Gestern noch hatte er ihr während der Morgentoilette aus der Neuen Héloise vorgelesen; sie saß an ihrem Frisiertisch mit dem Necessaire aus Silber und Schildpatt, er auf einem Stuhl in ihrer unmittelbaren Nähe. Das war ihr Geheimnis, denn Henri hasste Sentimentalitäten, Empfindsamkeit, moderne Romane und Rousseau. Heimlich lasen Maman und er deshalb in Mamans grünem Zimmer mit den goldenen Blütenmustern, zwischen Wänden, von denen herunter einem Schäferinnen und vergnügte Nymphen zusahen, wo Porzellanblüten herumlagen und andere Figürchen: ein bunter Hofnarr, ein Kavalier und seine Dame, eine Geburtstagsgesellschaft, ein Sultan im Serail, kleine Chinesen und eine Musikerin. Gemeinsam lasen sie dort Das Leben der Marianne, Manon Lescaut, die Princesse de Clèves und Richardsons Pamela.

Die Vorhänge waren schon geöffnet gewesen, als er eingetreten war. Er mochte die Gerüche aus ihren vielen Tiegeln und Töpfchen, die Mischungen, die sie kaufte, und jene, die sie selbst herstellen ließ. Auf ihrem Tisch lagen Bürsten, Kämme und Scheren, standen Flakons und Porzellanfläschchen: Rosenwasser, Orangenduft, aromatischer Essig, Goldwasser für guten Atem. Er hatte den Kopf vorgestreckt, die Düfte eingesogen, die auf ihrer Haut zu finden waren, auf ihrer Kleidung, auf den zahlreichen Fächern, sogar auf den Möbeln: der exotische Duft von Neroliöl und der erfrischende von Rosmarin, Bergamotte, Zitrone. Er kannte sie im Badewasser aufgelöst, gemischt mit Wein, als Mundspülung, auf einem Stückchen Zucker zum Essen. Er hatte die vergoldeten Metall-Vinaigretten betrachtet, in denen sie ihre Essigschwämmchen aufbewahrte. Er hatte die wunderschönen Parfumflaschen im Stil Louis-quatorze gesehen und die Baccarat-Glasfläschchen. Dazwischen befand sich noch das Jasmin- und Rosenwasser aus Grasse und ihr Zahnpulver aus England, das schäumte, weil es Borax enthielt.

Nachdem sie ihre Nachthaube vom Kopf genommen und ihr Haar geschüttelt hatte, sodass es schwarz über ihren Rücken floss, winkte sie ihn näher, um einen Kuss auf seine Wange zu drücken. Er roch ihren säuerlich dumpfen Atem, das Stück Süßholz, an dem sie gekaut hatte, bevor er gekommen war. Von ihrem Lieblingsstuhl aus, auf den er sich auf ihr Geheiß hatte setzen dürfen, beobachtete er, wie sie sich wie jeden Tag schminken ließ. Man hatte ihre Haut mit Zinkpaste geweißt, Lippen und Wangen gerötet und die zu dichten Brauen gezupft, denn sie hatte schön aussehen wollen. Seitdem sie dreizehn Jahre alt geworden war, war es jeden Morgen das gleiche Ritual. Dem kleinen Mädchen hatte man gelehrt, dem Herrn Papa, den Brüdern und einem etwaigen Bräutigam gefallen zu wollen, die junge Ehefrau war allzeit bereit für den Besuch ihres Ehemannes. Alles andere wäre unschicklich.

Sie hatte ihm Schokolade aus einer weißen Kanne mit chinesischen Darstellungen und dicken goldenen Verzierungen einschenken lassen und selbst Mokka getrunken. Sie bot ihm Rosenkonfekt an, Aniskugeln, Nougat, das sanft auf seiner Zunge zerschmolz. Der Stoff ihres Kleides, ein bräunliches Rosa mit silbrigen Blumen, großzügig geschnitten, damit es das schwellende Leben aufnehmen konnte, um welches das ganze Haus bangte, war im letzten Winter in der Rue Saint-Honoré in Paris gekauft worden; dort, wo sich die Seiden- und Tuchhändler niedergelassen hatten, die als Mittler zwischen Webern und Kunden fungierten. Dort, wo Käufer aus ganz Europa Stoffe auswählten und weiteren Schmuck bei den Putzhändlerinnen fanden, die sich um die Ornamente und Verzierungen kümmerten. Für diese wiederum fertigte ein weiteres Heer Handwerker Gaze an, Federn, Schleifen, Kunstblumen, Spangen und Borten. Jeden Winter wurden in Paris Stoffe bestellt, den Rest des Jahres auch in Lyon oder Marseille. Man kaufte Musselin, Batist, Leinwand, Spitzen, feines Tuch, Satin, Samt, Seidenwaren, Stoffe mit Blumenmustern, asiatischen oder orientalischen Verzierungen, aber auch einfaches Moiré oder Streifen. Den Zuschnitt nahm der Schneider zu Hause vor.

Nachdem er ausgetrunken hatte, suchte er die Stelle im Buch, an der sie beim letzten Mal aufgehört hatten, und begann zu lesen. Trotzdem sah er die langen Haarsträhnen, die sich beim Kämmen hier und da vom Kopf seiner Mutter lösten, was ihr Mädchen jedes Mal mit einem leisen Schrei quittierte.

Seine Mutter schwieg. Den Kopf horchend schief gelegt, spielten ihre Finger mit einer parfümierten Blüte aus Sèvres-Porzellan. Dieses Mal weinte sie nicht, wie es sonst geschah, wenn sie sich beide in der Welt der Romane mit ihren dunklen Gestalten und verzehrenden Leidenschaften verloren. Abgesehen von den Geräuschen, die der Kamm machte, vom Umblättern der Seiten, vom Rascheln der Stoffe und den leisen Schreien des Mädchens war es sehr still.

Lange lauschte sie ihm, und als ihre Müdigkeit sie schließlich zu überwältigen drohte, half man ihr zurück ins Bett. Fahl und angestrengt sah sie da aus, den Mund zusammengepresst, sodass er ganz schmal geworden war, ohne noch an die kleine Kirsche zu erinnern, auf die sie so stolz war. Gegen die Schmerzen löste ihr das Mädchen ein paar Tropfen Laudanum in Wasser auf, wie vom Arzt empfohlen. Dann winkte seine Mutter ihn zu sich, berührte seine Brust durch den feinen Batist seines Hemdes – noch durch den Stoff hatte er das Glühen ihrer Hände gespürt – und musterte ihn eindringlich. »Lesen Sie weiter«, forderte sie ihn endlich auf. Er brauchte lange, um den Rhythmus der Geschichte wiederzufinden. Sie hatte ihn erschreckt mit diesem Blick gestern. Als wäre sie eine andere Person, und dann, nachts, hörte er diese unglaublichen Schreie wie die eines gequälten Tiers.

»Maman!« Er hämmerte erneut gegen das Holz, schlug so heftig zu, dass die Knöchel zu schmerzen begannen, und verlor beinahe den Halt, als sich die Tür endlich öffnete und ihn eine der Dienerinnen anstarrte, die Arme bis über die Ellenbogen blutig. »Maman!«, schrie er, spürte beinahe sofort eine Hand an seinem Arm, die ihn von der Tür wegzog und ihm dann mit voller Wucht ins Gesicht schlug.

Für einen flüchtigen Moment nahm er dicht vor sich seinen Vater wahr. »Sie sollten nicht hier sein! Gehen Sie endlich in Ihr Zimmer!«

»Aber Maman stirbt.« Jules versuchte, sich umzudrehen. Henri hielt ihn fest. Es war so still geworden, so still ... »Maman stirbt! Maman ... Sie müssen ihr helfen!«

Er brach ab. Schon lange hatte ihn sein Vater nicht mehr so angesehen. Vorsichtig beförderte Henri eine Haarsträhne aus der Stirn seines Sohnes, löste die Schleife, die dessen Zopf hielt, und band sie neu.

Der Junge rührte sich nicht. Eine Unendlichkeit später öffneten sich die Türen erneut. Ein Diener leerte eine weitere Schüssel, ein anderer trug vorsichtig ein mit einem Tuch bedecktes Behältnis heraus: »Wir konnten eine Nottaufe, Monsieur de Montfort ...«

Henri nickte, die Hand nun auf der Schulter seines Sohnes. Der Arzt kam gesenkten Kopfes heraus und rieb seine Hände an einem Tuch ab.

»Monsieur de Montfort?« Der Arzt hatte ein schmales, faltiges Mausgesicht und trug eine Brille.

Henri nickte. Er hatte Ärzte kommen und gehen sehen. Er hatte solche konsultiert, deren Arbeit auf der traditionellen Diagnostik der fünf Sinne basierte – die also den Puls fühlten, nach Verfall schnüffelten, den Urin schmeckten, die Hautfarbe beobachteten und auf Unregelmäßigkeiten beim Atmen horchten –, und solche, welche die Pissepropheten verhöhnten. Er hatte sich Ärzte empfehlen lassen. Er hatte ihren Hochmut ausgehalten und ihre schmierige Anbiederung. Er hatte auch jenen ertragen, der lärmend durchs Haus gestürzt und alle Fenster geöffnet hatte, um die giftigen Dämpfe herauszulassen. Bewies nicht die Anfälligkeit der Menschen für langsame Fieber, Typhus, Malaria, wie sie häufig in Feuchtgebieten auftraten, in überfüllten, verdreckten, stinkenden Städten, Gefängnissen, Baracken, in Quartieren mit wenig Ventilation, dass giftiger Atem in der Luft schadete? Andere hatten seine Frau über ihre Beschwerden reden lassen, über ihre Ess- und Schlafgewohnheiten, die Häufigkeit der Darmtätigkeit und emotionale Traumata. Er hatte Diätvorschläge notieren lassen. Fleisch war als gesund gepriesen und als luxuriös gescholten worden. Er spürte, wie sich der Junge aus seiner Umklammerung löste. Die Tür des Zimmers stand offen.

Obwohl die schweren, bestickten Vorhänge und sogar Fenster geöffnet waren, war es im Raum stickig. Kerzen, soweit sie nicht heruntergebrannt waren, verbreiteten flackerndes Licht. Jules humpelte weiter, stieß gegen einen Kochkessel aus Kupfer, eine irdene Schüssel und vermied es, die Gerätschaften und blutigen Stofffetzen auf dem Tisch neben dem Bett näher in Augenschein zu nehmen. Da war Mamans Glücksbringer, ein Miniaturschuh aus Porzellan als Kuvert für die billets doux, die er ihr geschrieben hatte.

»Maman?« Seine Stimme klang zaghaft. Vor dem Bett lagen mehr blutige Stofffetzen. Jemand ging mit raschen Schritten an ihm vorbei zum gegenüberliegenden Fenster und schloss es. »Maman?« Zögernd streckte er die Finger aus. Da war sie, seine Mutter, das Gesicht in entsetzlicher Qual verzerrt. Er verharrte. Nein, das war nicht seine Maman. Er betrachtete ihre Finger, die da so reglos auf der Bettdecke lagen. Einige ihrer Nägel waren abgebrochen. Zaghaft berührte er ihre Hände, ihr Gesicht ... Nichts. Sie rührte sich nicht.

Vom Fenster her näherte sich Henri. Zu spät. Er schaute auf den schwarzen Schopf seines Sohnes herunter, spielte mit dem Gedanken, die Hand nach ihm auszustrecken, und verschränkte dann doch die Arme. Jetzt blieb nur er, ein Krüppel, ein unbeholfener Tölpel. Aus der Rocktasche seines Sohnes spitzte der Aeneas. Man würde ihn bald auf eine Schule schicken.

»Kommen Sie.« Er packte ihn bei der Schulter, bemerkte, wie der Körper unter seinen Fingern zu beben begann. Eilig schob er ihn hinaus in den Flur.

Jules holte keuchend Luft. Nur wie durch einen Schleier nahm er seine Umgebung wahr, während er sich bemühte, die Tränen hinunterzuschlucken. Langsam trat er ans Fenster und schaute hinaus. Ein kleines Mädchen rannte über den Hof und verschwand um eine Hausecke. Und dann weinte er doch.

»Komm schon!« Sophies Stimme klang energisch, und dennoch fragte sich Joseph Chevillon zum wiederholten Mal, warum er dem Mädchen gefolgt war. Immerhin war er ein Junge, noch dazu zehn Jahre alt und damit zwei Jahre älter. Er fuhr sich durch sein kurzes, verschwitztes rötlich braunes Haar. Sicher, es war Mittag und viel zu heiß zum Arbeiten; wegzuschleichen, bevor der Vater eine Aufgabe für einen fand, war ihm wie eine gute Idee erschienen. Sophie, nun auf der anderen Seite des Hofes von Schloss Montfort stehend, winkte ihm auffordernd zu. An gelbem Stechginster und rotem Klatschmohn vorbei, nicht auf dem gepflasterten Weg, waren sie hier heraufgeschlichen wie zwei Kundschafter. Er spähte zu ihr hinüber. Hinter den Fenstern des Schlosses bewegten sich Menschen hastig hin und her. Aufgeregte Stimmen waren zu hören. Der Hof selbst war leer, bis auf eine Kutsche, in deren Schatten sich ein Kutscher und ein Diener zurückgezogen hatten. Die Pferde hatten ihre Köpfe in Futtereimer gesenkt. Dicht über einem dunklen Fleck unter einem der Fenster surrten Fliegen.

Joseph biss sich auf die Lippen. Man hatte ihn schon öfter von hier verjagt. Er erinnerte sich noch gut an die letzten Stockhiebe, die er von seinem Vater zusätzlich zu jenen erhalten hatte, welche die Montfort sehen Diener ihm verabreicht hatten. Sophie winkte nun wild zur Kutsche hin, streckte ihm die Zunge heraus und war gleich darauf um die Hausecke verschwunden. Joseph warf einen Blick in Richtung des Gefährts, hinter dem sich der Diener in Bewegung gesetzt hatte, und rannte ebenfalls los. An einem schmalen, schmiedeeisernen Tor wartete Sophie verschmitzt grinsend auf ihn.

»Sie haben gestern vergessen, es zu schließen.« Sie stieß gegen das Tor und es schwang quietschend auf.

»Sophie!«, wollte er sie aufhalten, aber sie war zu schnell. Unruhig folgte er ihr in das Dunkel hinter der Pforte. Ein Blätterdach umfing ihn wie eine kühle grüne Höhle. »Wir dürfen nicht hier sein, Sophie!«

»Na und!« Sophies Stimme tauchte rechts von ihm auf, auf der anderen Seite der Hecke. Der Irrgarten! Er war in dem Irrgarten, von dem man unten im Dorf sprach. Joseph vergaß sein Unbehagen und folgte dem Weg und ihrer Stimme, die mal rechts, mal links von ihm zu hören war. Als er schließlich mit leisem Bedauern aus dem Labyrinth hervortrat, wartete sie schon.

»Wir dürfen nicht hier sein«, schimpfte er vorwurfsvoll.

Sie legte grinsend ihren Zeigefinger auf den Mund und deutete um sich: Hecken, eckig zugeschnitten und im Halbrund um einen Platz angeordnet, Büsche zu Kugeln geformt, viel perfekter als jene, die er selbst zum Spielen aus Lehm gefertigt hatte, in der Mitte ein kleiner Teich, in dem ein ockerfarbener, wasserspuckender Fels thronte. Fische, die im grünen Wasser silbrig schimmerten. Sophie ließ sich auf einer der zierlichen Steinbänke nieder, baumelte mit den Beinen und blätterte in einem Buch, das jemand dort hatte liegen lassen. Von der Seite näherte sich ein helles, blökendes Lämmchen mit einem blauen Band um den Hals. Joseph wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. Die Zehen seiner nackten Füße wühlten sich in den Untergrund.

»Wir sollten nicht hier sein. Papa hat mir aufgetragen, unsere Ziege zu hüten.« Er schaute wieder auf die silbrig durchs Wasser gleitenden Fischleiber, dann erneut zu Sophie. Die war inzwischen auf die Lehne der Bank geklettert und balancierte dort, das Buch in der einen Hand, mit der anderen ihr helles Leinenkleid raffend.

»Sag, das hast du noch nicht gesehen, oder?«

Joseph schüttelte den Kopf.

»Willst du schaukeln?« Sophie wies auf eine Schaukel an einem Baum in der Nähe.

»Nein!«

»Dann eben nicht.« Sie zuckte die Schultern. Über ihrem Kleid trug sie heute ein braunes Oberteil, mit gelben Ranken bestickt. Ihr dunkles Haar war in einen Zopf gebunden, darauf saß schief ein flaches Häubchen. In ihrem Gürtel sah Joseph das grob geschnitzte Holzpüppchen stecken, welches ihr sein Vater geschenkt hatte. Sie hatten viel miteinander gespielt, als sie kleiner gewesen waren, aber nun musste er häufig helfen und die Ziege hüten, Botengänge machen, auf dem Feld arbeiten, anderen für eine Kleinigkeit zur Hand gehen. Er konnte schon recht gut dreschen, und die Sichel, hatte Papa gesagt, führte er schon wie ein Alter, aber manchmal ... Er blickte zu Sophie hin, die wieder in dem Buch zu blättern begonnen hatte, kam näher, lehnte sich neben sie. Soweit er das sehen konnte, hatte das Buch keine Bilder. Sie las, die Zeilen mit den Fingern verfolgend, dann zeigte sie ihm die erste Seite. »Kennst du das?«

Er schüttelte den Kopf.

»D-i-d-e-r-o-t«, buchstabierte sie, »ein berühmter Schriftsteller. Kannst du überhaupt nicht lesen?«

Joseph rempelte gegen das Buch. »Papa sagt, es reicht, wenn ich meinen Namen schreiben und etwas rechnen kann, und Mama sagt«, er schaute sie angriffslustig an, »Mädchen müssen erstens beten, zweitens handarbeiten, drittens Kinder kriegen und viertens ihren Namen schreiben können.« Er rempelte noch einmal gegen das Buch, so stark dieses Mal, dass es aus ihrer Hand flog. Das Lämmchen sprang blökend zur Seite.

Sophie kletterte von der Bank herab, hob das Buch auf und legte es betont sorgfältig auf seinen Platz zurück, bevor sie sich zum Gehen wandte. Joseph würde ihr folgen, da war sie sich sicher. Sie hatte ihn von Chevillons Haus weggelockt, und er war gekommen. Sie verstand nicht, warum er neuerdings oft so gereizt war. Sicher, früher hatten sie unbesorgter auf den Wiesen gespielt, hatten Kräuter und Vogelnester gesucht, Schneckenhäuser und hübsche Steine gesammelt oder mit Hölzern, Laub und Dreck Staudämme gebaut. Sie hatten Lehmkuchen gebacken. Sie hatten Ewigkeit gespielt, Gottvater, Sohn und Heiliger Geist, Himmel und Hölle.

Am Ende des Parks angekommen, wo sich die Natur ihr Terrain zurückzuerobern begann, in der Nähe der Mauer, die den Besitz umschloss, drehte sie sich um. Auf die Entfernung bemerkte man kaum, wie zerschlissen Josephs Kleider waren, wie mager und klein er selbst war. Vielleicht würde sie eines Tages größer sein als er, schoss es ihr durch den Kopf, aber dann stand wieder ihr alter Freund vor ihr, und sie lachte ihn an. Haut schimmerte durch einen Riss in seinem Hemd. Im Winter, wenn es kälter war, trug er immer mehrere dieser Hemden übereinander, seine Füße aber waren stets bloß. Sophie folgend, hatte er die Mauer nun auch erklommen und spähte auf den Pfad hinunter, der sich zwischen den Bäumen den Berg hinabzog. Eidechsen huschten vor ihnen davon. Ein Raubvogel zog seine Kreise. Er grinste sie um Frieden bittend an. Sie streckte ihm die Zunge heraus.

»Komm, ich zeig dir was!«

Sie hüpfte von der Mauer hinunter und eilte mit wehendem Kleid den schmalen Pfad hinab. Wieder einmal hatte er Mühe, ihr zu folgen. Sie war eine gute Läuferin. Nadelhölzer wechselten sich, als der Weg breiter wurde, mit Steineichen und vom Wind verkrüppelten Gehölzen, Rosmarin- und Thymianbüschen und Stechginster ab. Grillen zirpten. Grauweiß bis rosa war der Kalkstein unter ihren Füßen. Der Frühjahrsregen hatte an schattigen Stellen Pfützen zurückgelassen, über denen Insekten schwirrten. Tiere verschwanden raschelnd im Unterholz, und schließlich gelangten sie zu einem kleinen Platz. Sophie winkte ihn zu einer Reihe schmaler, länglicher Rechtecke hinüber, die sich im Felsen auftaten. Joseph blieb wie angewurzelt stehen.

»Papa sagt, das sind Gräber«, erklärte sie, »komm her, schau dir das an«, sie hatte sich gebückt und wischte über den Rand eines der Löcher, »hier ist sogar etwas eingeritzt. Komm doch!«

»Im Dorf sagen sie, hier spukt es.« Joseph sah sich unbehaglich um.

»Spuken?« Sophie hob den Kopf.

»Ja, meine Mutter, die anderen, alle ...«

»Wenn es spukt, dann bestimmt nur nachts. Buhuuu! Wollen wir nicht warten? Ich möchte zu gerne einmal ein Gespenst sehen.« Sie grinste ihn keck an.

Joseph rührte sich nicht. »Es bringt Unglück, hier zu sein«, bemerkte er dann ernst.

Sophie richtete sich auf. »Du glaubst wohl auch, dass das Getreide besser wächst, wenn das Sätuch von einer Siebenjährigen gewebt wurde«, ahmte sie altklug den Tonfall ihres Vaters nach und wischte sich die Hände an ihrem Kleid ab. Jeanne tauchte vor ihrem inneren Auge auf, wie sie unter Fouquets schmunzelndem Blick verlangte, dass er das Brot mit dem Kreuzeszeichen versehe, damit es länger halte. Sie stemmte die Hände in die Seiten. »Ich würde ja hier bleiben, aber wenn du so ein Angsthase ...«

Joseph machte ein Kreuzeszeichen. »Komm, lass uns gehen«, sagte er schroff, wandte sich ab und ging davon.

Sophie lief ihm hinterher. »Ich habe keine Angst«, meinte sie, als sie ihn eingeholt hatte. Er sah sie mit hochgezogenen Brauen an.

Bis zur kleinen Kapelle der Montforts gingen sie schweigend nebeneinander her. Immer noch wortlos verschwand Joseph in dem gedrungenen Gebäude. Sie folgte ihm. Es roch nach kaltem Weihrauch. Joseph bekreuzigte sich, die Lippen in einem stummen Gebet bewegend. Als sie die Kapelle verließen, nahm er einen Stein auf und schleuderte ihn weit von sich.

»Papa sagte, die Kutsche im Hof, das sei ein Arzt«, berichtete Sophie schließlich leise.

»Madame de Montfort erwartet ein Kind«, erwiderte Joseph. Für einen Moment dachten sie beide an die schmale schwarzhaarige Frau, die vor ein paar Monaten noch in einer Anglaise aus golddurchwirktem Seidenstoff mit ihrem Almosenbeutel durch den Ort geschlendert war.

»Schon wieder?«, fragte sie dann.

»Schon wieder?« Er schaute sie verständnislos an. »Frauen kriegen Kinder. Meine Mutter ist fast jedes Jahr schwanger.«

Sie schwieg. »Ist es schlimm?«, fragte sie endlich.

Er nickte. »Sie schreien wie die Tiere. Es muss ungeheuer wehtun.«

Sophie biss sich auf die Lippen. »Ich glaube, ich will nie Kinder bekommen«, sagte sie dann. »Man kann auch sterben dabei. Vielleicht ist meine Mutter ja auch ...« Sie brach ab und schaute hinüber in die Ebene. Hinter ihnen tauchte das Sonnenlicht die Kapelle und den schmalen Stall daneben in ein goldenes Licht. Joseph hob einen neuen Stein auf. »Frauen kriegen Kinder, so ist das eben.«

Er schleuderte den Stein weg.

»Der Sohn der Montforts soll fort auf eine Schule geschickt werden.« Sophie schlang die Arme um ihren schmalen Körper.

»Hm.« Joseph hob wieder einen Stein auf.

»Weißt du, ich könnte dir auch lesen beibringen, Joseph.«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil mich bald ein Onkel mitnehmen wird, in eine Baumwollspinnerei in der Stadt.« Er schleuderte den Stein davon.

»Du gehst weg?« Sophie sah ihn fassungslos an. Joseph schob die Unterlippe vor. Der Onkel, den er nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte, hatte dem Vater alles in glühenden Farben ausgemalt. Nicht nur wollte er kein Kostgeld verlangen, nein, der junge Joseph würde, so er gut arbeitete, seiner Familie Geld schicken können. In Anbetracht einer Reihe zu stopfender Mäuler hatte sein Vater zugesagt, ohne ihn zu fragen. Sich hastig über die Wangen wischend, wandte er sich ab. Als er wieder zu Sophie hinsah, starrte die ihn noch immer an. Ohne ein weiteres Wort rannte er den Weg hinab ins Dorf.

Die Tochter des Advokaten

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