Читать книгу Die Tochter des Advokaten - Kirsten Schützhofer - Страница 7

Mai 17691. Kapitel

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Wie so oft schmeckte der frühe Morgen feucht auf den Lippen. In der Ebene hingen, ungewöhnlich dicht zu dieser Jahreszeit, die Frühnebel. Auf dem Pflaster der Gasse spielten zaghaft die ersten Sonnenstrahlen. Eine Katze hob den Kopf, reckte sich und gähnte. Das Gesicht des Bauern Chevillon, der, von Osten kommend, den Dorfplatz überquerte, war ausdruckslos. An den letzten Häusern im Schatten des Schlosses vorbei, hatte er mechanisch den Weg gewählt, der hinaus aus dem Ort hinunter in die Ebene führte; ein Weg, der von unzähligen Füßen ausgetreten war und bei Regen so glatt wurde wie der polierte Boden eines Ballsaals. Alten Bekannten gleich neigten sich die Häuser am Dorfausgang einander zu wie zwei, die sich getroffen hatten und nun in ewigem Schwatz vereint waren. In dem einen Haus befand sich – Chevillon sah es vor sich, ohne den Kopf zu heben – lediglich ganz oben ein Fenster, die restlichen Öffnungen waren, wie bei den meisten Häusern, bloß mit Brettern verschalt. Zu seiner Linken bewegte sich leise eine schmale Tür in der Mauer. Er wandte den Kopf nicht. Nur der Korb auf seinem Rücken schnitt tiefer in seine Schultern, als er nun kräftiger auszuschreiten begann.

Die Luft erwärmte sich allmählich. Sonnenstrahlen fingen sich in Tausenden winziger Tautropfen und brachten diese zum Glitzern, hüpften über Felder und schmale Bäche und drangen schließlich durch die schmutzigen Scheiben jenes grauen Hauses am Dorfausgang, vorbei an dem wuchtigen Bücherschrank und über den Staub auf den alten Dielen hinweg, um sich endlich auf Monsieur Robert Fouquets Bett niederzulassen.

Monsieur Fouquet, vierzig Jahre alt, zog sich die Decke noch einmal über die Schultern und drehte den brummenden Schädel zur Wand. Gestern war ein langer Tag gewesen. Henri de Montfort persönlich war noch spät am Abend aufgetaucht, um sich zu erkundigen, wie weit sein Anwalt mit einigen zwischen ihm und seinem jüngeren Halbbruder seit langem strittigen Erbfragen gekommen war. Im Laufe des Abends hatte Montfort nicht nur eine Flasche von Fouquets bestem Wein geleert, sondern sich auch immer wieder neugierig umgesehen. Hätte er vorgehabt, wilde Tiere für eine Menagerie zu erwerben, sein Interesse wäre nicht größer gewesen. Er war lange geblieben. Es gab so viel mehr, wofür er sich interessierte, als die staubigen Akten, wegen derer er eigentlich gekommen war. Er hatte in Fouquets Bücherschrank gestöbert, hatte mit der Haushälterin einige Worte über Fouquets Speiseplan gewechselt und sich erkundigt, wie lange er damals in Paris gewesen sei. Sehr vorsichtig hatte Fouquet ihn immer wieder aufs Neue auf den eigentlichen Grund seines Besuches hinweisen müssen, wobei die wiederholte Erwähnung ebenjenes jüngeren Halbbruders dem ältesten Spross eines uralten Hauses eine mehr wütende Aufmerksamkeit abgerungen hatte. Was mache dieser auch ständig Schulden, fehle in keinem Bordell, zu keiner Theater- oder Opernaufführung und an keinem Spieltisch, wo doch jedem bekannt war, dass sich jüngere Söhne der Kirche oder irgendetwas Ähnlichem zu verschreiben hatten!

»Er ist immerhin Ihr Bruder«, hatte Fouquet einzulenken versucht, doch Montfort hatte nur den Kopf geschüttelt. Eine kleine, warnende Falte war zwischen seinen Augen erschienen. »Mein Halbbruder«, hatte er gesagt, »ist jünger als ich, und Sie wissen selbst, was das bedeutet. Wissen Sie eigentlich, was er mit dem Geld gemacht hat, mit dem er sich eine würdige Position hätte erkaufen sollen? Er hat es verhurt und verspielt! Sie kennen diesen elenden Bettler nicht« – Montfort hatte angestrengt gelacht – »und ich bin niemandem etwas schuldig. Ich habe niemandem Rechenschaft abzulegen, außer dem König. Verstehen Sie, Fouquet?«

»Man würde Sie für großzügig halten, sollten Sie ihm eine kleine Summe zugestehen wollen«, hatte Fouquet vorsichtig eingeworfen.

»Oder für dumm«, war Montfort blitzschnell dazwischengefahren.

»Er ist Ihr Halbbruder.«

»Und Sie sind nicht mein Beichtvater.«

Noch jetzt sah Fouquet die unwirsche Bewegung vor sich, mit der sich Monsieur de Montfort über die Stirn gefahren war.

»Wer hätte auch gedacht, dass der Alte so sentimental werden würde.«

»Sie sprechen von Ihrem Vater, Monsieur de Montfort.«

»Und Sie sprechen mit Henri de Montfort.«

Die Stimme, erinnerte sich Fouquet, war nur eine winzige Spur kälter geworden.

Mit den Worten »Setzen Sie etwas Neues auf, in Gottes Namen« war Montfort schließlich aufgestanden und einige Schritte auf und ab gelaufen, um irgendwann erneut vor dem Bücherschrank stehen zu bleiben, wie Fouquet von seinem Schreibtisch aus festgestellt hatte. Groß gewachsen, mit muskulösen Gliedern, einem schmalen Gesicht, einer geraden, etwas spitzen Nase und einem dichten schwarzen Haarschopf, hatte er seine dunklen Augen aufmerksam über die Bibliothek seines Rechtsanwalts wandern lassen, Montfort, der ausgezeichnete Reiter, Fechter, gute Jäger, der Mann, der in einem Saal voller Menschen genauso elegant aussehen konnte wie zu Pferde oder beim Verseschmieden im Kreis von Freunden. 1754, vor knapp fünfzehn Jahren, waren sie einander zum ersten Mal begegnet. Es war ein ebenso sonniger Tag wie der gestrige gewesen, als Fouquet, der junge Rechtsanwalt aus Paris, in das Lever von Monsieur de Montfort geraten war, und noch heute erinnerte er sich daran, wie perplex er gewesen war, als er seinen zukünftigen Arbeitgeber im Bett vorgefunden hatte, die rechte und die linke Hand in der Maniküre, inmitten einer Schar raschelnder, flüsternder und huschender Diener.

»Lesen Sie eigentlich auch diesen Rousseau, mein kleiner Fouquet«, hatte Montfort gestern, noch vor dem Bücherschrank stehend, gefragt, und er hatte, spitzer als gewollt, entgegnet: »Ist er nicht verwerflich?«

Fouquet konnte es einfach nicht ausstehen, auf seine geringe Größe angesprochen zu werden. Unter Montforts beobachtendem Blick hatte er die Feder langsam beiseite gelegt. »Sie müssen natürlich überlegen, wie viel Geld Sie zu geben gewillt wären, Monsieur de Montfort.«

»Ja, natürlich.« Ein abwesendes Runzeln der Augenbrauen, dann hatte Montfort seine Reitpeitsche vom Tisch genommen. »Es war gut, einmal wieder mit Ihnen gesprochen zu haben, Fouquet.«

Ohne die Antwort seines Gegenübers abzuwarten, war er die knarzende Treppe hinuntergeeilt. Fouquet war ans Fenster getreten, hatte beobachtet, wie der Diener seinem Herrn den Steigbügel hielt und dieser davonsprengte. War dahinten schon das Grau des Morgens zu sehen gewesen? Er hatte sich zögernd umgedreht und den letzten Schluck Wein aus Montforts Glas genommen, bevor er vorsichtig den Contrat Social hinter den Gartenbüchern hervorgeholt, sich in seinen himmelblauen Lieblingssessel hatte sinken lassen und die Beine angezogen hatte.

Fouquet setzte sich in seinem Bett auf und gähnte. Vergessen lag da der Rousseau von gestern. Kurz schüttelte er den Kopf über so viel Nachlässigkeit, kratzte sich ausgiebig, fuhr mit der Zungenspitze an den rauen Unebenheiten seiner Zähne entlang und hob endlich die Arme über den Kopf, um sich zu strecken. War heute Montag? Er gähnte erneut. Von unten war das Klappern von Töpfen zu hören, dann Schritte, wieder Klappern. Dienstag? Wie spät war es? Er wandte den Kopf, doch im Halbschatten waren die Zeiger der Uhr nur schwer zu erkennen. Außerdem brauchte er inzwischen dringend eine Brille. Unten schlug Metall auf Metall. Jemand fluchte. Fouquet schnupperte. Ob seine Haushälterin ihm heute Kaffee gönnen würde? Er versuchte, die Düfte zu ergründen, die von unten heraufdrangen, während er vorsichtig beide Füße gleichzeitig auf den staubigen Boden setzte.

Hier musste dringend einmal geputzt werden. Wahrscheinlich hatten Monsieurs Stiefel Dreck hinterlassen. Fouquets Blick streifte den Schreibtisch, auf dem sich von gestern noch die Akten türmten. Vom ersten eigenen Geld gekauft und mit seinen Einlegearbeiten, Rocaillen und Ranken zu prächtig für dieses Zimmer, aber er hatte dem günstigen Angebot seinerzeit nicht widerstehen können. Er mochte zwar die dunklen Strümpfe derjenigen tragen, die meist zu Fuß gingen, wenige Kleidungsstücke besaßen und diese nur selten zum Reinigen geben konnten, aber er hatte seinen Schreibtisch. Sonst war der Raum karg möbliert: ein Bett, tagsüber von einem Leinenvorhang verdeckt, ein Bücherschrank, der Sessel, überall verteilt Papiere und Akten. Das Haus war eigentlich zu klein, und doch liebte er es mit einer Inbrunst, die man vielleicht nur dem ersten eigenen Zuhause entgegenbringen konnte. Unten ging die Haustür auf. Fast im gleichen Moment konnte er die ungewöhnlich aufgeregte Stimme seiner Haushälterin hören: »Jesus, Maria und Josef!«

Mit einer ungeschickten Bewegung setzte Fouquet die Perücke auf sein schon etwas schütteres Haar und schlüpfte in seinen neuen Morgenmantel. Er war stolz auf das Stück – grün mit silbernen Stickereien, voller Blumenranken, durchsetzt von zarten Blüten, das Gewebe so fein, dass man kaum die Struktur der einzelnen Fäden erkennen konnte. Letzte Woche war es endlich aus Paris geliefert worden. Das Warten hatte sich gelohnt, auch wenn er wohl einige Akten mehr dafür würde studieren müssen.

»Monsieur!«

Von unten stampfte die Haushälterin die schmale Treppe herauf.

Er griff nach dem Rousseau. »Ich komme, Jeanne.«

»Monsieur!«

»Ja, Jeanne!«

Doch Jeanne, diese kleine, rundliche grauhaarige Frau, der ruhende Pol seines Häuschens, so lange er zurückdenken konnte, war längst, ohne noch einmal anzuklopfen und mit hochrotem Gesicht, ins Zimmer gestürmt. Ich habe ein ruhiges Wesen, hatte sie ihm gesagt, damals, als sie sich vorgestellt hatte. Ich weiß, man sagt uns Leuten aus dem Süden etwas anderes nach, aber ich habe ein ruhiges Wesen. Sie kannte ihr Alter nicht. Vielleicht war sie fünfzig, vielleicht vierzig, vielleicht auch etwas jünger. Heute trug sie ein Bündel im Arm, das aus Leibeskräften schrie und das sie Fouquet mit vorwurfsvollem Gesichtsausdruck in den Arm drückte, sodass der seinen Rousseau fallen ließ.

»Schämen Sie sich, Monsieur!«

»Jeanne!«

»Einen Bastard in die Welt zu setzen. Ausgerechnet Sie! Ein armes Mädchen ins Unglück zu stürzen.« Sie blitzte ihn an. Das Provenzalische in ihrem Tonfall kam heute deutlicher hervor als gewöhnlich. Zaghaft, aber bereit zum Widerstand, streckte er den Kopf vor. »Jeanne, ich habe ...« Er schaute auf das Kind in seinen Armen, das nun mit seinem Gebrüll aufgehört hatte und ihn nur noch leicht schniefend fixierte. Wie selbstverständlich beförderte er es zurück in Jeannes Arme. »Das ist nicht meines.«

»Nicht Ihres? Pfui, Monsieur! Welchen anderen Grund hätte die arme Mutter denn, es hier abzulegen, als dass Sie sie ins Unglück gestürzt haben!« Und da hatte sie das Kind auch schon wieder in seine Arme gelegt. »Ich schäme mich für Sie, Monsieur.«

»Jeanne«, das Kind bewegte sich wieder unruhiger, »glaub mir ...« Ein Faden Spucke rann über das winzige Kinn des Säuglings. »Jeanne, hör mich an, du kennst mich. Wann hätte ich denn ... Oh!« Mit einem leisen Glucksen hatte sich der Säugling auf seinen Morgenmantel übergeben. Die Haushälterin verschränkte die Arme vor der Brust. »Ist es Ihres?«

»Nein!« Er warf einen nervösen Blick auf das winzige Gesicht. »Das kann nicht meines sein! Bitte, Jeanne, diese Flecken ...«

Das Kind begann zu schreien. Jeanne hielt ihre Arme immer noch verschränkt. »Wem gehört dieses Kind?«

»Was weiß ich!« Fouquets Blick strich schmerzlich über das feine Gewebe, welches das Kleine nun mit einer seiner winzigen Fäuste gepackt hatte. »Jetzt ist es Ihr Kind«, erwiderte Jeanne ruhig, »Sie werden sich darum kümmern müssen.«

»Ich kümmere mich ja darum.«

»Es ist also Ihr Kind.«

»Ja ... Nein! Ich weiß nicht!« Er hielt ihr den Säugling hin, und sie nahm ihn wieder, lagerte ihn in ihrer Armbeuge, summte ihm beruhigend ins Ohr, und er konnte sich endlich darauf konzentrieren, den Fleck von seinem Morgenmantel zu reiben. Dann unterbrach ihn Jeanne erneut. »Wie werden Sie das Kleine nennen, Monsieur?«

»Wen?«

»Das Kind.«

»Ich ...« Fouquet stockte. Eine große, blond gelockte Gestalt war unter der Zimmertür erschienen. »Ach du meine Güte, Monsieur de Montfort.«

»Monsieur Fouquet. Störe ich?« Ein verschmitztes Lächeln umspielte den feinen Mund seines Gastes. Blaue Augen musterten den Raum unschuldig und wissend zugleich.

»Natürlich nicht.« Fouquet versuchte, Morgenmantel und Nachthemd über die Blöße seiner linken Schulter zu zupfen, während sich der jüngere Monsieur de Montfort mit einem breiten Lächeln über das Kind beugte. Jeanne schnaubte leise. Fouquet sah sich unruhig um. Gute Güte, wie sah das hier aus? Die Pantoffeln unter dem ungemachten Bett, die Perücke, die im Eifer des Gefechts in seinen Nacken gerutscht war, sich dort verfangen hatte und dann auf dem staubigen Boden gelandet war. »Möchten Sie etwas trinken, Monsieur de Montfort?«

»Eine Schokolade vielleicht.«

»Wir haben keine Schokolade«, fuhr Jeanne dazwischen. Wie festgenagelt war sie seit dem Eintreffen Jean-Marie de Montforts an ihrem Platz stehen geblieben und betrachtete ihn mit offensichtlicher Missbilligung.

»Wenn Sie etwas anderes ...«, beeilte sich Fouquet zu sagen.

»Nein, danke.« Mit einem Finger berührte Jean-Marie die Wange des Säuglings. »Ich bin ohnehin auf dem Weg ins Bett.«

Jeanne öffnete den Mund erneut.

»Monsieur Henri de Montfort war übrigens gestern hier«, informierte Fouquet seinen Gast eilig, bevor seine Haushälterin noch auf die Idee kam, dem knapp Neunzehnjährigen die Leviten zu lesen.

»Ich weiß.« Jean-Marie wandte sich wieder dem Kind zu. »Wie entzückend! Ihres?«

»Meines? Nein, ich glaube nicht, aber ich werde mich um es kümmern.« Fouquets Stimme wurde gegen Ende des Satzes viel zu laut.

Ein jungenhaftes Lachen blitzte über Jean-Maries Gesicht. »So etwas Niedliches verdient eine Chance, nicht wahr?«

»Seit wann, äh, sind Sie zurück?«

»Seit heute ...« Jean-Marie blies die Wangen auf und stieß die Luft dann prustend aus. »Die Familie fuhr voraus – Sie haben sie sicher gesehen –, ich blieb noch ein paar Tage in Nîmes.«

Fouquet nickte bedächtig. Ja, er hatte die Ankunft der Familie Montfort beobachtet, so, wie alle anderen auch, die am Wegesrand innegehalten hatten, als sich die Kutschen in einer Wolke aus Staub näherten. Die Lakaien in ihren prächtigen rosenholzfarbenen Livreen mit den silbernen Verzierungen hatten ernst geschaut, die Kutscher dramatisch die Peitschen geschwungen. Von der Familie war niemand zu sehen gewesen, aber sie hatten alle gewusst, dass nun der Sommer vor der Tür stand. Die Montforts waren aus Paris zurück. Fouquet zog den Morgenmantel enger über der Brust zusammen. Das Kind war in Jeannes Armen eingeschlafen, die sich gerade anschickte, die Treppe hinunterzugehen.

Jean-Marie sah ihr amüsiert hinterher. »Eine strenge Frau.« Er lächelte Fouquet an.

»Ja, meine Haushälterin hat ihre Prinzipien.« Fouquet musterte seinen Gast, der sich nun im Sessel niedergelassen hatte, elegant ein Bein über das andere schlug und leicht wippend seine Reitstiefel präsentierte. Der Stoff seiner fast schon unanständig engen Kniehose changierte faszinierend in verschiedenen Grautönen.

»Londoner Rauch nennt man das, glaube ich. Die Hose ist übrigens à la bavaroise«, bemerkte er in Fouquets andächtige Betrachtung hinein, lüpfte die grün-silbern gestreifte Weste und präsentierte den herunterklappbaren Latz, bevor er mit einem Grinsen seine weißen Musselinmanschetten zurechtschüttelte.

Fouquet schwieg. Wer Zeit hatte, würde in den nächsten Tagen sicher einen Blick auf die zum Waschtag ausgestellte Kleidung der Montforts erhaschen wollen. Man würde sie bestaunen, die Stoffe und Verzierungen bewundern.

»Wie war Paris, Monsieur de Montfort?«

»Wunderbar!« Jean-Marie strahlte. »Jetzt müssen Sie mir aber verraten, wie ich den Sommer hier überstehen soll!« Mit dem ganzen Abscheu eines unbeschwerten jungen Mannes schüttelte er den Kopf. »Hier gibt es nichts, Fouquet, keine Cafés, keine Mädchen, nicht einmal Buchläden!«

»Mädchen gibt es, Monsieur de Montfort.«

»Alles Eselinnen! Haben Sie einmal versucht, mit einer zu sprechen? Paris dagegen! Cafés! Theater! Immer etwas Neues! Hier gibt es nur Esel, Ziegen, Staub, Hitze, den Mistral und ab und zu einen verirrten Reisenden. Ich habe Paris geatmet«, er schlug sich gegen die Brust, »und nun kann ich nicht mehr davon lassen!«

Fouquet lachte. Der Enthusiasmus des Jungen war durchaus ansteckend. Er mochte seinen Überschwang, wenn er auch gleichzeitig seine Wankelmütigkeit fürchtete. »Ich erinnere mich an Paris als einen Ort voller Schmutz und Gestank«, entgegnete er dann. »Ich erinnere mich an einen Mann an einer Zollschranke, der in weißen Strümpfen einen fabelhaften Tanz des Kotes aufführte, ein Vorgang übrigens, der erstaunlichsten Rituale ferner Welten würdig, dazu Lärm, Geschrei – kein Auge konnte man nachts zutun.«

»Ma foi, Fouquet, wer will in Paris schon schlafen? Wann waren Sie das letzte Mal dort?«

»Das ist lange her.« Fouquet war an dem kleinen Fenster stehen geblieben und schaute nach draußen. Die Dielen unter seinen Füßen knarrten, wenn er sich bewegte. Am Haus gegenüber verschränkte eine Heiligenfigur die Arme über einem Kreuz und starrte ihn aus runden Augen an. Das Pflaster der Gasse glänzte in der Sonne. Vor dem Haus tänzelte Monsieur de Montforts Rotfuchs unruhig hin und her. Er konnte die Kruppe des Pferdes sehen, und jetzt nahm er auch den Geruch wahr, der an Montforts Kleidern hing, die Mischung aus Parfum, Tabak und Pferd. »Es werden an die neun Jahre sein.«

»Grand Dieu!« Jean-Maries Stimme vibrierte vor Ungläubigkeit. »Und Sie hatten nie das Bedürfnis ...«

»Nie.«

»Sie wollen sagen, Paris reizt Sie nicht mehr?«

Fouquet suchte erneut den Blick des Heiligen. Wovor er wohl die Bewohner dieses Hauses, massiv aus Feldsteinen aufgemauert, schützte? Für einen Moment verlor er jegliches Zeitgefühl. Als er sich umdrehte, war Jean-Marie gerade in der Betrachtung seiner Reitstiefel versunken.

»Ich wollte mich davon losmachen, Monsieur de Montfort, so, wie man sich von einer alten Liebe befreit, indem man ihr ehrlich ins Angesicht blickt.« Fouquet verstummte. Er war durch die Miasmen dieser Stadt gewandert, durch ihre Gerüche, durch das pulsierende Leben, durch die Ausdünstungen der Körper hunderttausender Bewohner und ihrer Fäkalien. Er hatte Parfum gerochen, Pomade und Puder, fauliges Fleisch, Fisch und die modernden Leichen in den Kirchen, deren Gestank die Lebenden ohnmächtig werden ließ, den ganzen Brodem einer ausufernden, gierigen Stadt. »Tagelang war ich unterwegs. Ich habe mich über den Pont-Neuf gedrängt. Ich bin im Palais-Royal bestohlen worden. Ich habe die Abenteuerlustigen und die Huren in den Tuilerien gesehen. Ich bin in die tiefsten, schlammigen Gedärme dieser Stadt eingedrungen«, Fouquet bemerkte, wie sein Gegenüber wohlig schauderte, »und sie stank wie ein Höllenloch. Hier, in dieser Gegend, habe ich zum ersten Mal die vielfältigen Gerüche der Natur kennen gelernt: den Thymian, den Rosmarin, den Salbei, Jasmin, die Akazie ...«

Jean-Marie hob den Kopf. »Wozu, wenn es Parfums gibt?«

»Weil der Natur nichts gleichkommt!« Unter Jean-Maries prüfendem Blick wurde es Fouquet warm. Das grobe Nachthemd kratzte. Schweiß rann von seinen Achselhöhlen den Körper hinab, doch er bemühte sich, den Blicken seines Gegenübers standzuhalten.

Der lachte schließlich. »Der Natur kommt nichts gleich? Der gute Henri, mein lieber Halbbruder sagt immer, sosehr man die Natur liebe, so müsse sie doch stetig verbessert werden. Er ist wirklich kein Anhänger dieser Philosophen. Frauen, die in aller Öffentlichkeit stillen, findet er unschicklich.« Jean-Marie zupfte erneut an seinen Manschetten, dann sah er wieder auf. »Aber, ach, die Mädchen in Paris!« Er lächelte sein Gegenüber unschuldig an. »Besonders jene, die nach dem Theater warten, manche still, manche lebhaft. Venez-et-voir trippeln ihre Füßchen. Kommen Sie mit mir, Monsieur, wispern ihre Stimmen. Die meisten kommen aus den Provinzen, sagt man, und manchmal«, das Lächeln wandelte sich zu einem Grinsen, »hört man es. Hier ein Eselchen weniger, dort eine Hure mehr. Waren Sie einmal an einem solchen Ort, Fouquet?«

»Nein.«

»Manche der Mädchen sind recht hübsch.« Jean-Marie überlegte. »Vielleicht verstärkt aber auch das durchsichtige Gewand, die Schminke und der Schimmer der Lichter diesen Eindruck. Die Gesundheit ...«

Fouquet räusperte sich. »Ich würde jedem davon abraten, solche Orte aufzusuchen.« Das Nachthemd kratzte immer noch.

Jean-Marie runzelte die Stirn. »Es hieß, die Mädchen würden von Ärzten untersucht.«

»Was sagt Monsieur de Montfort dazu?«

Jean-Marie lachte. »Henri ist entsetzt. Die Kosten, wissen Sie ...«

Sie schwiegen.

»Sind Sie auf Wunsch Monsieur de Montforts hier?«, fragte Fouquet dann.

Jean-Marie zuckte die Schultern. »Sein Wunsch hat mir Befehl zu sein, wie Sie wissen. Des Sommers ziehen wir Vornehmen uns vier bis fünf Monate auf unsere Landhäuser zurück ... Ist die Weinlese endlich vorbei, strömen wir zurück zum Mittelpunkt der Welt.« Er schnalzte mit der Zunge. »Sie werden mir wohl nicht sagen wollen, was Sie gestern mit ihm besprochen haben?«, fragte er und sprang auf. »Nein, natürlich nicht«, beantwortete er dann seine eigene Frage und ließ sich erneut in Fouquets Lieblingssessel fallen. »Ich bewundere das an Ihnen, Fouquet, diese Konsequenz ...«

Er lachte wieder, und für den Bruchteil einer Sekunde schoss es Fouquet durch den Kopf, dass er selten ein derart ungleiches Brüderpaar gekannt hatte. Was nicht nur daran lag, dass Henri de Montfort knapp fünfzehn Jahre älter war als sein Halbbruder Jean-Marie. Nein, während der Ältere ihn immer an die eisige Eleganz eines Gletschers erinnern würde, kalt und unnahbar, eine Schönheit, die doch eher taubes Unbehagen zurückließ, war der Jüngere ein gleißender Sonnenstrahl auf dem Meer, aber genauso wenig greifbar. Noch war er jung, aber Fouquet war überzeugt, dass er diese Jungenhaftigkeit nie verlieren würde. Und er würde auch nie diese Sorglosigkeit in seiner Haltung verlieren, die ihn jetzt die langen Beine hatte ausstrecken lassen und Fouquet mit plötzlichem Entsetzen feststellen ließ, dass der Absatz seines Reitstiefels nur um Haaresbreite den Rousseau verfehlt hatte. Noch während ihm das Blut in den Kopf schoss, hatte er den Band an sich genommen und ihn zu den Gartenbüchern im Bücherschrank gestellt. Schwer atmend drehte er sich um.

»Was ist denn, Monsieur Fouquet?« Jean-Marie sah ihn fragend an. »Unanständige Literatur?«

»Es ist ein Buch über englischen Gartenbau.« Zu seinem eigenen Entsetzen errötete Fouquet erneut.

»So? Um welche Blumen Englands handelt es sich denn?«

Nun hatte er wohl endgültig Jean-Maries Interesse geweckt. Der Halbbruder seines Arbeitgebers betrachtete ihn schmunzelnd. Fouquet ließ die Hände sinken. Dem Jungen war selten etwas abgeschlagen worden. Er war der Schwarm der Gegend. Man sah ihm viele seiner Eskapaden nach. Er mochte zwar keine begehrte Partie sein – dazu bot er finanziell zu wenig –, aber er gehörte zu den Menschen, denen man gern verzieh. Vielleicht lag es an dieser Unbekümmertheit oder auch daran, dass er eine frappante Ähnlichkeit mit einer der Heiligenfiguren in der Dorfkirche hatte. Er benahm sich nicht wie ein Angehöriger einer altehrwürdigen Familie, er befolgte keine Regeln und verlangte auch von niemandem deren Einhaltung. Er war nicht das Gesetz. Er war nur ein junger Mann mit unglaublich blauen Augen, und sein Blick ließ Fouquet schaudern.

»Stimmt das, was mir Ihr Bruder erzählt hat?« Fouquet versuchte, das leichte Beben in seiner Stimme zu unterdrücken.

»Was denn?« Jean-Marie runzelte die Brauen, die Augen immer noch auf das Bändchen in Fouquets Bücherschrank gerichtet.

»Dass Sie Ihre Abfindung ...«

»Dass ich sie verhurt und verspielt habe?« Endlich schien Jean-Marie abgelenkt, und nur eine Sekunde später schenkte er Fouquet auch schon ein breites Lächeln. »Können Sie sich mich als Bischof vorstellen?« Er legte den Kopf schief und stemmte die Arme in die Seiten. Eine Locke seines Haars rutschte über seine Augen.

Fouquet schluckte. »Nun, vielleicht als Soldaten.«

»Als Soldaten?« Jean-Marie bedeckte das Gesicht mit den Händen. »Ich bin Pazifist, Monsieur, ich liebe mein Leben, und ich verabscheue, wirklich, ich verabscheue Krieg.«

»Ich dachte nur ...« Wie beiläufig hatte Fouquet den Bücherschrank geschlossen, ohne seinen Besuch ganz aus den Augen zu lassen. »Ich dachte ...«

Er brach ab. Jeanne war im Türrahmen aufgetaucht, das Kind in ihren Armen wiegend. »Monsieur«, sagte sie in die Stille, »die Trockenmauer ist eingestürzt, die bei den Obstbäumen.«

»War sie denn so instabil?« Jean-Marie klatschte in die Hände. »Ich werde mir den Schaden einmal ansehen. Schließlich gehört die Mauer zu unserem Besitz.«

»Es gehört alles zu Ihrem Besitz, Monsieur.«

»Jeanne!«

»Lassen Sie nur. Sie hat Recht, oder? Es gehört alles zu unserem Besitz. Sie müssen mich das Buch einmal lesen lassen«, nickte er noch einmal zum Schrank hin und polterte die Treppe hinunter.

Im nächsten Moment konnte es sich Monsieur Fouquet endlich erlauben, mit heiserem Keuchen zu Boden zu sinken.

Robert Fouquet konnte es kaum glauben, wie sehr sich sein Leben in den letzten Wochen verändert hatte. Wie lange war er alleine gewesen? Wie lange war es her, dass man über den Zwerg Fouquet mit seiner käsigen Haut und der Riesennase gelacht hatte? Mit einem Mal war das alles weit weg für ihn. Mochte das Leben draußen weitergehen wie eh und je, in ihm war alles verändert. Heute hielt er ein Kind in seinen Armen, roch seinen säuerlich-milchigen Geruch.

Er sah nach draußen. Eine strickende Bäuerin erklomm den Weg zum Schloss hinauf. Vielleicht wollte sie um Arbeit nachfragen, um Überreste vom Tisch bitten oder ihre Dienste beim Repassieren von Strümpfen anbieten. Dem Fenster gegenüber hatte sich ein etwa zehnjähriger Junge in der einzigen gepflasterten Gasse des Ortes gebückt und sammelte Eselskot in einen Korb. Dünger war rar in dieser Gegend. Auch in den Städten hatte Fouquet schon Menschen den wertvollen Unrat mit bloßen Händen vom Weg in Körbe füllen sehen. Im gegenüberliegenden Haus wurde ein hölzerner Laden aufgestoßen. Einen kurzen Warnruf später ergoss sich eine Flüssigkeit nach unten.

Der Junge war längst pfeifend mit seiner Beute beiseite gehüpft. Durch den fadenscheinigen Stoff seiner Hose schimmerte sein nackter Po. Eine Gruppe jüngerer, spielender Kinder näherte sich ihm kreischend, von denen manches nur ein Hemdchen trug, das seine Blöße kaum bedeckte. Schmutz überzog blanke Beine wie eine zweite Haut. Lautstark wurde ein neues Spiel vorgeschlagen. Fouquet lächelte. Zu Anfang hatte er oft kein Wort verstanden. Abgesehen von den Montforts hatte als Einzige seine Jeanne ein mehr als bloß rudimentäres Französisch gesprochen.

Ein zartes Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken. Der kleine Mund des Babys bewegte sich saugend im Schlaf. »Sophie«, flüsterte er. Er würde nie vergessen, wie sie schreiend in sein Leben gekommen war. Sophie, meine Kleine, hatte er am ersten Abend zu ihr gesagt, als sie gesättigt und zufrieden endlich eingeschlafen war. Er hatte nie geglaubt, einmal Kinder zu haben. Allein und auf Empfehlung war er hierher gekommen, in das Dorf im Schatten des Schlosses Montfort, wo er der einzige Anwalt war, viele schlecht zahlende und einen gut zahlenden Klienten hatte, wenn Letzterer sich einmal bequemte, die Schulden des Quartals zu begleichen. Er hatte sich in einem schmalen, zweistöckigen Haus eingemietet, das trotz seiner Höhe geduckt wirkte, und dieses schließlich sogar gekauft. Er hatte eine Haushälterin angestellt. Er hatte von früh bis spät gearbeitet, um sein bescheidenes Auskommen zu haben, und jetzt, da seine Augen schwächer wurden, hielt er zum ersten Mal inne, denn da war sie, sein köstliches, kleines Mädchen ... »Sophie Fouquet.« Er ließ den Namen von seiner Zunge perlen wie seinen besten Wein. »Auf uns!«

Für einen Moment betrachtete er den wohlriechenden Säugling in seinem winzigen Baumwollhemdchen mit dem kleinen braunen Kragen aus dem Stoff eines alten Rocks. Die Montforts hatten den Hemdstoff geschickt – begleitet von einem mit Fehlern durchsetzten, zierlichen Schreiben der jungen Ehefrau Henri de Montforts –, nachdem Fouquet an einem Sonntag erstmals mit dem Kind in der Kirche erschienen war.

Fast während der ganzen Zeremonie hatte Madame de Montfort an diesem Tag von den kostbar geschnitzten, vorderen Ehrenplätzen zu ihm herübergeschielt, während ihr eigener, kleiner Sohn unruhig auf dem Schoß der Amme herumgerutscht war. Nach Beendigung des Gottesdienstes hatten sich alle auf dem Kirchplatz versammelt. Henri de Montfort hatte Almosen verteilen lassen. Um seine Ehefrau hatten sich vor allem die jüngeren Frauen geschart; die Mutigen, um eine Berührung ihres neuen Kleides zu erhaschen, die weniger Mutigen, um das edle Gewand von ferne zu bewundern. Madame hatte eine graublaue Contouche getragen, deren Oberteil, entgegen dem bequemen Hausgewand, das dieses Kleidungsstück einst gewesen war, nun eng am Oberkörper der jungen Frau anlag. Auf der Rückenmitte waren noch die Überreste der einst großzügigeren Watteaufalten zu sehen gewesen, die von dem rechteckigen Halsausschnitt in einer kleinen Schleppe nach unten geflossen waren. Auf ihrem dunklen Haar hatte Madame ein kleines, bänderverziertes Häubchen getragen. Zwischen dem vielen Braun und Grau der Bauerntrachten hatte sie ausgesehen wie ein exotischer Schmetterling.

Sophie gähnte. Dunkle Haare ringelten sich um die vielen noch kahlen Stellen auf ihrem Kopf, aber Fouquet war sich sicher, dass sie einmal das schönste Mädchen der Gegend werden würde.

»Mit dunklem Haar und einem Erdbeermund, mein süßer Schatz.«

Er wollte gar nicht mehr wissen, woher sie kam. Aus dem Nichts war sie aufgetaucht und hatte ihn innehalten lassen. Nein, er wollte nicht wissen, wer sie war, und er wollte nicht, dass sie ihm irgendjemand wegnahm. Sie war seine Sophie Dieudonnée, seine gottgegebene Sophie Fouquet.

Die Tochter des Advokaten

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