Читать книгу Die Tochter des Advokaten - Kirsten Schützhofer - Страница 8

April 17702. Kapitel

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»Sophie? Sophie!« Fouquet verharrte. Die Kleine war unglaublich. Seit einigen Wochen lief sie nun schon auf zwei unsicheren Beinchen durch das Haus, nichts war bisher ein Hindernis für sie gewesen: die Tür nicht, auch nicht die Treppe oder die Stufen, die in den Garten hinausführten, in dem Jeanne sie erst entdeckt hatte, als sie bereits sämtliche Blumen aus dem Beet gerissen hatte. Anfangs hatten Jeanne und er sich noch gestritten. Um die richtige Amme. Ob Sophie fest oder locker gewickelt werden müsse. Ob sie in der Sonne liegen solle oder besser still in ihrer Wiege. Hinter jedem Klopfen an der Tür hatten sie die Mutter vermutet oder den Pfarrer, der die Familie ausfindig gemacht hatte, doch Monat um Monat war nichts geschehen. Vielleicht war sie von den Fahrenden zurückgelassen worden, die sich zu dieser Zeit in der Gegend aufgehalten hatten, oder es waren durchreisende Hausierer gewesen. Mit jedem Tag, mit jeder Stunde, mit jeder Minute war Sophie mehr zu einem Teil ihres Lebens geworden. Er hatte sich Bücher über Erziehung kommen lassen. Er hatte sie stundenlang beobachtet, hatte gelernt, in ihren Augen zu lesen, deren Ausdruck innerhalb von Sekunden von Zufriedenheit zu Schmerz wechseln konnte. Er hatte sie sorgfältig gebadet, wie er es in einem Buch gelesen hatte, und der Amme, die für ein paar Monate angestellt worden war, verboten, sie zu fest zu wickeln. Mit Begeisterung hatte er zugesehen, wie sie wuchs, Interesse an den Dingen um sich herum entwickelte, und irgendwann hatte er erstmals seine Brille ihren kleinen, energischen Fingern entwinden müssen. Bei einem durchreisenden Händler erstand er ein Buch mit Zeichnungen von Vögeln, welches sie umgehend in Beschlag nahm, wenn auch verkehrt herum. Er las ihr Fabeln vor und Märchen. Er las ihr auch aus seinen Akten vor, vergnügt auf ihre brabbelnden Kommentare lauschend.

»Sophie?« Da war sie ja, zwei kleine Hände am anderen Ende des Esstisches, ein dunkler Schopf und eine Nasenspitze, die trotz großer Anstrengung nur bis gerade unterhalb der Tischplatte reichte. »Komm her, Sophie!«

Sie rührte sich nicht. Jeanne hatte an diesem Morgen anscheinend vergessen, ihr den Fallhut aufzusetzen. Wahrscheinlicher war allerdings, Fouquet schmunzelte, dass das kleine Mädchen lautstark protestiert hatte. Neuerdings verabscheute es den unter dem Kinn festgebundenen, kranzartigen Wulst aus dickem Stoff, der den Stirnbereich schützte und es so vor Verletzungen bewahren sollte. Immer häufiger in letzter Zeit hatte der Versuch, ihn auf ihrem Kopf zu befestigen, zu Geschrei geführt.

»Krooak, krooak!«, hüpfte er, eine Krähe nachahmend, ein paar Schritte näher. Sophies Gesicht blieb ernst. Außerdem, stellte er fest, sah sie erstaunlich schmutzig aus. Vielleicht musste er wieder einmal mit Jeanne über Hygiene reden. Besonders die Flecken auf Sophies Wangen ließen sich sogar aus der Entfernung gut erkennen. Jetzt verschwand ihr Kopf aus seinem Sichtfeld. Fouquet legte den Rest der Strecke schneller zurück. Gerade als er sie erreicht hatte, kam ihr Kopf wieder nach oben.

»Sophie!« Kopfschüttelnd schaute er zuerst sie an, dann das Tintenfässchen, das sie heruntergezerrt und dessen Inhalt sie auf dem Boden verteilt hatte. Ein verschmiertes Händchen streckte sich ihm entgegen. »Da!«

»Ja, schau einmal an, Sophie.« Er bückte sich, stellte unter ihrem aufmerksamen Blick das Tintenfässchen zurück auf den Tisch und betrachtete sie von Neuem. Sowohl das Hemdchen als auch das Schürzchen, welche ihr Jeanne an diesem Morgen angezogen hatte, und sogar darunter der gelbbraune Rock aus festem Stoff, wiesen Flecken auf.

»Haben.« Ihr kleines Gesicht leuchtete.

Fouquet schüttelte den Kopf. »Nein, Sophie, schau dir deine Hände an.« Sie gehorchte, aber er konnte sie nicht wirklich ablenken.

»Haben«, wiederholte sie gleich darauf energischer. Er schüttelte erneut den Kopf »Haben«, forderte sie und setzte nach einem weiteren Moment das Wort »Papa!« hinzu.

»Nein, Sophie«, entgegnete er.

Sie schwieg verblüfft, dann versteifte sich ihr Körper. Ein spitzer Schrei. »Haben!« Das Gesicht nunmehr rot vor Wut, wackelte sie zurück in Richtung des Tisches. Ihr kleiner Körper streckte sich, die Hände wanderten an der Tischkante entlang.

»Sophie!«, wies Fouquet sie zurecht. Ihr Tonfall wurde nur noch durchdringender. »Sophie!«, brummte er, und sie hielt inne, aber sein Erfolg war nur von kurzer Dauer, dann schien sich ihr Ärger zu verdoppeln.

»Haben!« Die ersten Tränen kullerten über ihre Wangen.

»Aber, Sophie!« Neuerliches Gebrüll ließ ihn abbrechen. Seine Hand glitt unter seine Perücke. Er kratzte sich. Mon Dieu, was mache ich mit diesem Kind? Sophie schluchzte inzwischen erbärmlich.

»Krooak, krooak!«, versuchte er es halbherzig.

Das Kind brüllte weiter.

»Krooak, krooak!« Er hüpfte auf und ab.

Sie schrie.

»Krooak, krooak!«, bemühte er sich, ihre Stimme zu übertönen.

»Monsieur Fouquet?«

Fouquet erstarrte. »Monsieur de Montfort!«

Henri de Montfort lächelte. »Sie spielen mit Ihrer Kleinen?«

»Nein ... Ich meine, ja! Natürlich spiele ich ... mit meiner Kleinen.«

Wie von selbst schlossen sich Fouquets Lippen.

»Ihre Haushälterin hat mich hereingelassen«, stellte Monsieur de Montfort in die plötzliche Stille hinein fest und hielt seinem Anwalt einige Papiere entgegen. »Ich nehme an, Sie arbeiten noch an meiner Sache?«

»Sicher, die Nutzungsrechte der Wiese ... seit dreihundert Jahren ... Ich arbeite ...« Eben noch hatte er gegen Sophies durchdringendes Gebrüll angekämpft, jetzt war es ganz ruhig. Verwundert blickte Fouquet zu seiner Tochter hinüber. Im Türrahmen war der kleine Sohn Montforts aufgetaucht, gekleidet in eine hellbeige Kniehose mit etwas dunkleren Strümpfen, darüber eine Weste mit feinen blauen Streifen. Rote Absätze, das Privileg des Adels, schmückten die Schuhe, in denen der Kleine, wie Fouquet missbilligend feststellte, offensichtlich nur schwer laufen konnte. Groß gewachsen für sein Alter, aber äußerst zierlich und mit tiefschwarzen Haaren, dazu die typische, etwas spitze Montfort-Nase, hatte auch der junge Montfort seine Augen auf das kleine, tintenverschmierte Mädchen auf dem Boden gerichtet und starrte sie an. Und Sophie starrte zurück. Ohne Scham, ohne Sinn für Höflichkeit schaute sie den jüngsten Spross des Hauses Montfort an, bis dieser seine Hand um zwei Finger seines Vaters klammerte und ihn nach draußen zu zerren suchte.

»Wir werden bald einen Lehrer für ihn anstellen«, sagte Henri, das Ziehen des Sohnes ignorierend, und auch der kleine Jules hielt inne, nachdem sich Sophie wieder den Tintenflecken auf dem Boden gewidmet hatte. »Im März ist er sechs Jahre alt geworden«, fugte sein Vater hinzu. Fouquet lächelte den Kleinen an, der düster, den Finger im Mund, zurückschaute.

»Sophie, Sophie«, murmelte Fouquet am Abend, als er sie ins Bett gebracht und ihr noch eine Fabel vorgelesen hatte, »wie hast du sie nur so ansehen können?« Die Kleine hielt ihm erneut ihr Buch entgegen. Er musste schmunzeln. »Sollen wir dich auch auf eine Schule schicken später? Zu den kleinen Schwestern vielleicht?« Sophie schlug die erste Seite auf und deutete auf einen Vogel. Fouquet lächelte. »Nein, nicht wahr? Du bleibst bei mir. Ich werde dir alles beibringen, was ein Mensch wissen muss.«

»Vogel«, sagte Sophie mit wichtiger Miene.

Am frühen Morgen des 5. April 1770 hatte der kleine Jules im Ankleidezimmer seines Vaters gespielt. Er war in dessen alte, hohe Reitstiefel geschlüpft und mit ihnen durchs Zimmer stolziert. Er hatte die Perücke für Besuche bei Hof übergezogen und husten müssen. Er hatte sich sogar etwas Rouge auf die Wangen gerieben und sich dann in einem der vielen Spiegel begutachtet. Einige Stunden später, als er die Perücke abgesetzt, die Stiefel ausgezogen und den Kreisel zur Seite gelegt hatte, schob er lustlos die Miniaturkutsche mit dem Pferd – man konnte auch einen kleinen Hund im Geschirr festbinden – über den Steinfußboden des Flurs und sprach mit sich selbst.

Er langweilte sich. Dort standen immer noch die Reitstiefel, die er aus dem Ankleidezimmer in den Gang getragen hatte. Da war auch ein wenig Puder von der Perücke. Daneben lag die lustige, spitze Maske, die Maman und Papa aufsetzten, wenn ihr Haar gepudert wurde. Auf den Knien kroch er darauf zu. Das Ding sah aus wie ein riesiger Vogelschnabel. Er nahm die Maske auf und hielt sie sich vor das Gesicht, stand dann auf, um einen Spiegel zu suchen. Auf Zehenspitzen und nur in Strümpfen, die Schuhe hatte er längst ausgezogen, rannte er den Flur entlang. Er musste nur zurück in das Ankleidezimmer, da gab es genug Spiegel, vor denen man sich von allen Seiten anschauen konnte.

Ein Geräusch stoppte ihn. Irgendwo entfernt hatte er etwas gehört. Vielleicht eine Geige – Papa spielte Geige –, oder war es eine Flöte?

Er ließ die Maske fallen, sah nach links, dann nach rechts. Der Flur war lang. Zu beiden Seiten öffneten sich Türen zu weiteren Räumen, und an deren Ende konnte man erneut Türen sehen und dahinter wieder Türen. Über den Türen waren Gemälde angebracht. Dicke Engel. Junge Mädchen. Sagen- und Göttergestalten. Auch an den Wänden, den ganzen Flur entlang, hingen Bilder. Er kannte sie in- und auswendig. Das waren seine Großeltern und Urgroßeltern und Ururgroßeltern, dazwischen Papa und Maman. Wo hatte er nur das Biskuit liegen lassen, das er vom Frühstückstisch mitgenommen hatte? Ach ja, dort drüben auf der Kommode, die er eigentlich nicht anfassen sollte und über der Maman ein neues Bild hatte aufhängen lassen.

In den Biskuit beißend, betrachtete Jules das Gemälde. Einen Jungen zeigte es – wahrscheinlich war es ein Hausdiener, denn er trug eine Schürze –, der ein Kartenhaus baute. Der Maler hatte ihn genau in dem Moment festgehalten, in dem er es, den Atem anhaltend, wagte, die Hand wegzuziehen. Jedes Mal, wenn er an diesem Bild vorbeikam, hatte er das Gefühl, ebenfalls den Atem anhalten zu müssen, doch heute war es anders.

Seine hellen Strümpfe juckten. Er kratzte sich mit einer Hand, biss ein weiteres Stück von seinem Biskuit und schaute dann den Gang entlang. Niemand zu sehen. Alles war still, nicht einmal die Musik war noch zu hören. Er seufzte. Aus unerfindlichen Gründen hatte sich heute in diesem großen Haus niemand gefunden, der mit ihm spielen wollte. Er wusste nicht, wo die Amme war. Vielleicht half sie jetzt Maman, denn er war gerade sechs Jahre alt geworden. Alt genug, um alleine zu spielen. Bald würde auch ein Lehrer kommen. Maman hatte ihm für diese Zeit ein paar neue Anzüge anpassen lassen, die denen seines Papas ähnlich waren. Am liebsten mochte er seine graue Redingote, den neuen, weiten Mantel mit dem doppelten Kragen, den er gemeinsam mit seinem ersten Pony geschenkt bekommen hatte, die neuen Schuhe dagegen – er schaute auf seine bestrumpften Füße –, die hasste er und vergaß sie, wo immer er nur konnte.

Mit den Fingerspitzen der linken Hand berührte er die kühle schwarzweiße Marmorplatte, die die mit Ranken, Schnörkeln und Rocaillen aus versilberter Bronze verzierte Kommode bedeckte, und legte schließlich sein Biskuit zu Füßen der kleinen Standuhr ab. Die mochte er. Heimlich berührte er sie oft. Sie bestand aus einem kleinen vergoldeten Baum voller zartbunter Porzellanblüten, in dessen Mitte das Zifferblatt wie eine kleine Sonne glänzte. Darunter ruhten zwei Gestalten aus weißem Porzellan, eine Meerjungfrau und ein Flussgott, und blickten versonnen auf einen Teich. Vorsichtig berührte Jules den glatten Bauch des Gottes, dann wandte er sich ab und hüpfte summend zurück, den Gang entlang. Überall standen hier Kommoden, Tischchen, Stühle und Sofas, auch Büsten bedeutender Persönlichkeiten, die er nicht kannte. An den Türrahmen schnörkelten sich vergoldete Ranken entlang. Er bückte sich. Vielleicht entdeckte er ja eine Maus. Gestern hatte er eine gesehen. Maman hatte schreckliche Angst vor ihnen. Sie schrie jedes Mal, wenn eine vorbeihuschte.

Nun hatte er die Kutsche wieder erreicht. Eine Kutsche für kleine Kinder! Er gab ihr einen ärgerlichen Stoß. Das Pferd stürzte um. Stocksteif lag es da, schwarz poliert mit ein paar Kratzern vom Spielen, der Sattel rot, Mähne und Schwanz aus echtem Pferdehaar. Ein Lichtstrahl fiel durch das Erkerfenster und verursachte einen tanzenden Lichtfleck.

Eigentlich war es ihm verboten, den Fenstern zu nahe zu kommen. Wie die Dienstmädchen immer kreischten, wenn Jean-Marie und er auftauchten, während sie, auf Leitern stehend, die Fenster putzten. Bleiben Sie, wo Sie sind, kleiner Monsieur, schrien sie und schauten dabei seinen Halbonkel an.

Zögernd stieg er die Stufe zum Erker hinauf und horchte – nichts. Er schlich zum Fenster. Das Sims war hier zwar hoch, aber breiter, damit man sich setzen und in den Hof hinabblicken konnte. Jemand hatte ein zart mit Rosen besticktes Kissen zurückgelassen und eine Tasse mit Deckel, auf der ein Schiff zu sehen war. Sicher brachte es Gewürze aus Indien, Zimt, Vanille und andere Spezereien. Noch blähten sich die Segel, doch der Hafen war schon nahe.

Jules reckte sich. Wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte er sich vielleicht hochziehen und ein Knie auf die Höhe des Simses bringen. Er streckte haltsuchend die Arme vor, spürte den Stein kalt an seinem Knie, und dann hatte er es geschafft. Er konnte zum ersten Mal alleine vom Erkerfenster aus in den Hof sehen. Viele Menschen tummelten sich da: Bedienstete, Bauern, Bittsteller aus den Weilern. Er sah Pferde, Hunde, eine kleine Katze, auch mehrere Ratten, die am Rand der Gebäude hin und her flitzten und manchmal verharrten, als lauschten sie. Durch die Scheibe sah alles verschwommen aus. Er zerrte das Rosenkissen zu sich und kniete sich darauf. Das Fenster war gar nicht so hoch, stellte er fest, und das Häkchen, welches es sicherte, ließ sich leicht lösen. Entschlossen zog er es auf. Das Gewirr unter ihm war nun klarer und bunter. Undefinierbare Gerüche waberten zu ihm herauf. Schweiß, Holzfeuer, Kräuter- und Küchendüfte waren in der Luft des schon relativ warmen Tages gefangen. Deutlicher hörte er jetzt Stimmen, Pferdegewieher, Lachen. Ein steter Strom Menschen bewegte sich vom Dorf herauf durch das geöffnete Tor mit dem großen Wappen, und ein ebensolcher bewegte sich vom Schloss hinab. Da war auch der Pfarrer in seiner schwarzen Kleidung, gefolgt von einem Grüppchen Frauen. Ein paar Kinder jagten hintereinander her. Jules beugte sich vor. Unter ihm, ein paar Fuß tiefer, besprach der Koch mit seinen Gehilfen den Speiseplan des heutigen Abends. Rind- und Lammfleisch sollte es geben, Wildbret, wenn der Herr erfolgreich jagte, Schinken, vielleicht auch eine Fleischpastete als Entree. Dazu grünen Salat, Karotten, weiteres Gemüse und vor allem eine Suppe mit Reis aus der Camargue. Außerdem mussten noch die Reste des Mittagessens an die Dienerschaft und an Bedürftige aus dem Dorf verteilt werden. Im Falle eines Jagderfolgs sollte man auf Anweisung des Herrn eine Flasche Graves bereithalten, ansonsten gab es eigenen Landwein. Der Koch und seine Gehilfen schnalzten vielsagend mit der Zunge und sendeten ein Gebet an Diana, die Jagdgöttin. Natürlich, Jules hatte schon beobachtet, wie sie auf Festen die Gläser der abstinenteren Gäste auf dem Weg zurück in die Küche blitzschnell selbst leerten. Er versuchte, sich bequemer hinzusetzen, spielte mit dem Gedanken, die Beine aus dem Fenster baumeln zu lassen, und stützte sich dann doch nur auf beide Hände auf, um nach unten zu schauen.

Niemand, stellte er mit einem gewissen Bedauern fest, nahm ihn in diesem Trubel wahr. Erst gestern hatte er wieder einmal vergebens gehofft, Maman würde ihm gute Nacht sagen kommen, doch dann war er, wie immer, selbst durch lange, dunkle Gänge gehetzt. Maman hatte geduftet und gestaubt und ihn erst nur angesehen, um dann mit zwei Fingern über seine Wangen zu streifen. »Er ist hübsch«, hatte sie zu ihrer Zofe gesagt. »Alle sagten das.« Er war ein graziles Kind mit Haaren wie Rabenfedern, goldbrauner Haut und hellbraunen Augen. »Mein kleiner Zigeuner«, hatte Maman ihn einmal geneckt, aber er hatte nichts mit ihrem amüsierten Lachen anfangen können. Er lehnte sich hinaus. Da war sie ja, im Kreise einiger Freundinnen. Er konnte ihren fein frisierten Kopf sehen, wie er sich zwischen den bunten Seidenkleidern hin und her bewegte.

»Maman!«, rief er. Sie hörte ihn nicht. »Maman«, wiederholte er, sich weiter vorbeugend, und dann noch einmal: »Maman!«

Jetzt hatte ihn doch jemand gehört. Nicht sie, sondern ein Mann, der unter dem Fenster stand, zu ihm hochsah und fast sofort »Monsieur« schreiend auf die andere Seite des Hofs rannte. Augenblicklich kamen der Mann und sein Vater zurück, den Sekretär im Schlepptau, dem Papa wohl gerade diktiert hatte. Jules lachte. »Schauen Sie nur, Papa, ich kann ...«

»Sie schließen sofort das Fenster.«

»Ja, Papa, aber ...«

»Jules!«

Der Kleine zuckte zusammen. Henri konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Mein Gott, schoss es ihm durch den Kopf, lieber Gott, er ist mein einziges Kind. Was macht er da oben? Man hat ihn zu lange alleine herumtollen lassen. Das würde vorbei sein, gleich heute noch. Sechs Jahre alt war er. Es gab so viel zu lernen: Tanzen, Fechten, Latein, Griechisch, Poesie, Reiten. Ganz deutlich sah er die Zukunft vor sich abrollen.

»Halte ihn auf!«, zischte er dem Mann zu, der ihn gerufen hatte, und wandte sich dann sofort wieder seinem Sohn zu. »Macht endlich das Fenster zu, Jules!«

»Schauen Sie nur, wie das glitzert, Papa!«

»Sie machen jetzt endlich dieses Fenster zu!«

»Aber ich kann das!« Lachend beugte sich Jules noch ein bisschen weiter vor. Aufregend war es und so eigenartig, von hier oben auf den Vater hinabzuschauen, hinab auf den tadellosen Rock, die bestickte Weste und ...

Er hatte nur ein klein wenig losgelassen, nur ein klein wenig, fast gar nicht, doch nun geriet er ins Rutschen, verlor den Halt, glitt über die Steinkante und schoss auf das Pflaster des Hofs zu. Ein dumpfer Schlag – und es war, als habe man alles Leben angehalten. Niemand mehr rührte sich. Henri starrte noch immer auf das Fenster. Nur ein Mann, schneeweiß im Gesicht, stolperte vom Hauseingang zurück in den Hof.

»Du warst nicht schnell genug«, sagte Henri beinahe freundlich. Der Mann antwortete nicht. Er trug die Livree der Montfort’schen Dienerschaft, und als Henri ihm nun unvermittelt in das sommersprossige Gesicht sah, senkte er die Augen.

»Es tut mir leid, Herr.«

»Ja, das glaube ich in der Tat.«

Ebenso rasch wie Henri die kleine Pistole gezogen hatte, hatte er auch geschossen. Mit einem winzigen Laut brach der Mann zusammen.

»Papa?«, ließ sich da eine schwache Stimme vernehmen. Henri drehte sich um. Das Kind hatte die Augen offen. Er stürzte zu seinem Sohn, versuchte, mit seinem breiten Rücken zu verdecken, was der Junge längst gesehen haben musste.

»Papa«, wiederholte Jules fragend. »Papa?«

Er wirkte beinahe unverletzt. Sein Gesicht war klar, ein wenig farblos vielleicht. Das linke Bein war es, das grausam verdreht war. Henri stieg ein bitterer Geschmack in der Kehle hoch. »Jules«, sagte er leise, »ach, Jules.«

Die Tochter des Advokaten

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