Читать книгу Die Tochter des Advokaten - Kirsten Schützhofer - Страница 9

17763. Kapitel

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»Jules!« Die Stimme seines Vaters hatte ihn aus der Lektüre gerissen, und er schaute unwillig auf, um den Kopf dann sofort wieder zu senken. »Jules!«

Aus dem kleinen Salon drang die Stimme zu ihm herüber, von weit hinten. Er horchte. Würde er noch einmal rufen, müsste er das Buch zuklappen, um den beschwerlichen Weg anzutreten, wenn nicht ...

»Jules!« Henris Stimme hatte nun an Schärfe gewonnen. Ließ er ihn noch länger warten, würde er ärgerlich werden. Seufzend legte Jules das Buch beiseite, richtete sich mühsam auf und begann, die Halle zu durchqueren.

Volle zwei Jahre hatte es nach dem Sturz gedauert, bevor er wieder halbwegs hatte laufen können, aber das linke Bein war steif geblieben, ein Makel, den sein Vater mit Hilfe einer Anzahl von Ärzten zu beheben gesucht hatte. Im ersten Jahr, als er noch die meiste Zeit im Bett hatte verbringen müssen, hatte er nur Latein gelernt, im zweiten mit Griechisch angefangen. Bald hatte er auch die Bücher in der Bibliothek seines Vaters gelesen. Nach einer Ausgabe von Rameaus Maître à danser von 1748 hatte ihm ein Tanzlehrer das richtige Stehen und Gehen beigebracht. Man hatte ihn gelehrt, die Arme locker an den Seiten hängen zu lassen und nicht steif oder angewinkelt zu halten. Mit zehn Jahren war er eine zerbrechlich wirkende Gestalt gewesen, die bei Festlichkeiten im eigenen oder in den benachbarten Schlössern den Abend lang in einer Ecke gestanden hatte und auf Anfrage ganze Passagen aus der Odyssee und anderen Werken zitieren konnte. Die Behinderung hatte man ihn über die Jahre so gut wie möglich zu verdecken gelehrt, doch er würde nie tanzen, nie gut reiten, nie fechten und somit niemals ein wirklicher Kavalier sein können.

Kurz überfiel ihn das heftige Bedürfnis, kehrtzumachen, zurück in sein altes Kinderzimmer zu humpeln und sich in die Arme der Amme zu werfen, aber die war ja längst nicht mehr da, seit Jahren nicht mehr, und er, zwölf Jahre alt, war fast schon ein Mann. Er hatte das Zimmer erreicht. Im Türrahmen verharrte er. Er mochte diesen Raum – den englischen Salon, wie Maman ihn nannte – mit seinen Mahagonimöbeln aus dem Magasin Anglais in Paris. Nach der Thronbesteigung Louis’ XVI. im Jahr 1774, also vor zwei Jahren, hatte man ihn neu gestaltet. Die alten Möbel, die dem modischen Geschmack nicht mehr entsprochen hatten, waren in andere Räume verbracht oder verkauft worden, den Salon hatte man in sanften Farben neu eingerichtet; gedämpftes Blau an den Wänden, davon abgesetzt Ornamente in mattweißem Stuck. Alles sollte leicht wirken, bequem und luftig, hatte ihm Papas Architekt erklärt, der seinen jungen Beobachter erst ignoriert, schließlich aber doch angesprochen hatte. Wochen hatten sie hier gemeinsam zugebracht. Der Architekt hatte ihn seine Vorlagen ansehen lassen und ihm gezeigt, wie er den Raum durch Vertäfelungen gliedern würde, um ihn dann durch Stuckgirlanden neu zu beleben. Vorsichtig wandte Jules den Kopf und fixierte eine der Blumen in dem stilisierten Band, das sich knapp über den ordentlich aufgereihten Stühlen an der Wand entlangzog. Das dort war seine Blume, auch wenn sie sich durch nichts von den anderen unterschied. Er hatte sie gestaltet. Leise stieß er den Atem aus. Vor dem Fenster zeichneten sich zwei Personen ab.

»Da sind Sie ja endlich«, begrüßte ihn sein Vater.

Jules näherte sich langsam dem Tisch, sein Vater kam rasch auf ihn zu. Der Fremde war vor dem Fenster stehen geblieben. Jules konnte sein Gesicht nicht sehen. Bienenwachskerzen flackerten im Luftzug. Ohne ein weiteres Wort hob Henri seinen Sohn auf den Tisch und war ihm dann beim Aufstehen behilflich. Jules’ Augen glitten über den dunklen Schimmer auf Henris Kinn und Wangen. Der leicht gerundete, vordere Saum des Rocks ließ den Blick auf eine rote Weste und Hose frei. Wie hypnotisiert nahm er den Duft wahr, der von seinem Vater ausging. Diesen Geruch würde er aus vielen heraus erkennen, so, wie er das Klirren des Degens erkannte, wenn der Vater frühmorgens mit kräftigen Schritten zu seinen Fechtübungen eilte.

Henri holte eine Uhr hervor und musterte das Zifferblatt, bevor er sie mit einem Seufzen verschwinden ließ. Später am Tag würde er jagen gehen, das war er sich schuldig. Er würde den warmen Körper seines Pferdes unter sich spüren, seinen Atem hören und das fröhliche Wiehern, das es ausstieß, bevor es in den Galopp überging. Er würde trockenes Gras riechen, an silbrig grünen Olivenbäumen und staubigen Weinstöcken vorbeisprengen und den unvergleichlichen Duft des Tages einatmen. Weiter oben auf den Hügeln würde er sich Zeit nehmen, auf die flachen Dächer des Dorfes herunterzuschauen, dem er sich verpflichtet fühlte, denn er war ein guter Herr. Draußen begann ein leichter Mistral an den Scheiben zu rütteln. Henri verschränkte die Arme. Schon jetzt sehnte er den Jagderfolg herbei, den Blutgeruch, die belohnte Ausdauer. Sein Sohn, bemerkte er, zitterte kaum merklich.

»Das Klima in Ihrer Gegend ist vortrefflich gegen Krankheiten«, sagte der Mann am Fenster plötzlich. »Ich habe schon vielen, die an Lungenbeschwerden litten, einen Aufenthalt hier empfohlen. Auch bei den Ausländern ist es beliebt.« Er drehte sich um. »Ich saß unter anderem mit einem Engländer und einem Deutschen in der Kutsche.«

Jules hob den Kopf. Also doch ein Arzt. Er begutachtete die Gestalt des Fremden, von dessen Gesicht er gegen die Helligkeit des Fensters noch immer nicht viel sah. Die Kerzen verströmten einen ganz feinen Duft nach Honig. Der fremde Arzt kam an den Tisch.

»Trotzdem sollte man nur reisen, finde ich, wenn es unbedingt nötig ist«, sagte er kopfschüttelnd. »Ich kann dieser Manie jedenfalls nichts abgewinnen.«

Jules bewegte sich nicht. Er rührte sich auch nicht, als der Mann sein linkes Bein durch Strumpf und Kniehose hindurch betastete.

»An den elendsten Fassaden prangen großartige, zierlich geschriebene Namen, und die Gastwirte locken mit einem Grand hôtel, in dem dann keine Tür schließt, kein Fenster ein vollständiges Glas kennt und man sich die Betten mit den Mitreisenden teilen darf. Vor dem Schlafengehen aber«, der Mann drückte auf das Knie, sodass Jules die Zähne zusammenbiss, um nicht aufzustöhnen, »versuchen sie erst noch, einen zu vergiften. Die Speisen sind entweder kalt oder ungenießbar, oder man muss mit Wirtskatze, Wirtshund und den anderen Reisenden darum kämpfen. Nachts piesacken einen dann noch Flöhe, Läuse und Wanzen – und das Reisen selbst, mon Dieu!« Der Mann schüttelte den Kopf. »Vielleicht sind die Wagen heutzutage ja wirklich weniger schwer, vielleicht sind sie leichter und bequemer, wie sie da in ihrem Riemen hängen, aber«, er hatte nachdenklich den linken Arm vor dem Körper verschränkt, den rechten darauf gestützt und den Zeigefinger sinnend gegen den Mund gelegt, »was hilft’s, wenn man zu zehnt darinnen sitzt? Alles schwätzt durcheinander, bis einem der Schädel brummt. Der eine raucht, der andere isst, der Nächste stinkt wie die Pest, der Rest führt zotige Reden. Man spricht von verbrecherischen Wirten, die ihre Gäste meucheln, von Räuberbanden und Magenbeschwerden. Die Gerüchteküche brodelt, was in Anbetracht der Tatsache, dass es nach wie vor Orte gibt, die völlig von der Welt abgeschnitten sind – trotz aller Bemühungen im Straßenbau während der letzten Jahre –, gut funktioniert. Eine Geschichte ist rasch erzählt und manchmal, wenn an den Poststationen alte Fahrgäste aus- und neue einsteigen, hört man die gleiche Geschichte noch einmal, nur leicht verändert. Ein paar Meilen weiter beharrt dann bereits jeder auf seiner Version, und alle machen riesigen Lärm. Dazu rast der Kutscher, als gelte es, dem Teufel zu entkommen, sodass man einen baldigen Achsenbruch furchtet, und beim Wechsel der Pferde bleibt einem kaum Zeit, sich zu erleichtern. Schöne Wege, gute Pferde, bequeme Wagen, sagte mir der Deutsche, alles vereinige sich, das Reisen in Frankreich angenehm zu machen. Kuriose Ansicht, nicht wahr?« Der Arzt ließ die Hände sinken. »Ich muss mir das näher ansehen«, sagte er dann zu Henri gewandt.

Jules senkte den Kopf. Der Arzt trug einen rostfarbenen Rock mit vielen Knöpfen und großen Aufschlägen, und sicher hatte er ein Diplom aus Montpellier oder Paris und viele Empfehlungsschreiben. Er starrte auf die Tischdecke, die den Mahagonitisch vor seinen Füßen schützte; den dining table, der Ahs und Ohs bei Besuchern hervorrief und das Bedürfnis, das glänzende Holz zu berühren. Auf Henris Nicken hin zog der Arzt ihm Hose und Strümpfe herunter. In seinen Ohren rauschte es. Der Mann drückte erneut auf das Knie. Er schluckte. Der Arzt sagte irgendetwas, er verstand es nicht. Innerlich summte er mit heller Stimme, den Blick starr gegen die Wand gerichtet. Sieben Blüten trug ein Band, jedes dritte war gekrönt von einem Kranz aus Blättern. Sechs Stühle in floralen Mustern in hellem Rot, Blau und Creme standen an den Wänden verteilt, auf deren Lehnen vergnügte Schäferinnen und ihre Schafe unter Bäumen und an Bachläufen ruhten. Auf dem Sofa hatte Maman ein Buch liegen lassen: Célide oder Die Geschichte der Marquise de Bléville von Mademoiselle Motte. Eine neuerliche Berührung. Wieder zuckte er zusammen. Wie viele Ärzte hatten dieses Bein schon begutachtet und darüber beratschlagt? Früher, als er ein Kind gewesen war, hatte er noch geglaubt, sie sprächen über ihn, aber nein, sie sprachen nur über das Bein, welches sie aus der Nutzlosigkeit in ein neues Leben zwingen wollten. Dafür hatte man es gestreckt, bis er geschrien hatte; hatte erwägt, es noch einmal zu brechen, hatte Tinkturen aufgetragen und Salben, hatte ihn zur Ader gelassen und sich erbrechen lassen. Er hatte Feldschere kennen gelernt, die den Kopf geschüttelt hatten, und Ärzte, die von schlechten Säften, unausgewogener Nahrung und einer verpassten Krise gesprochen hatten. Niemand hatte helfen können.

Die Blumen verschwammen vor Jules’ Augen. Sein Vater und dieser Arzt sprachen nun energischer aufeinander ein und warfen ihm nur noch von Zeit zu Zeit einen Blick zu. Selbstvergessen berührte er seine Arme. Warm waren die Hände des Vaters gewesen, eine dieser seltenen Berührungen ... Die Stimmen wurden lauter. Er wandte den Kopf. Jetzt schaute Henri länger zu ihm hin, den Mund unwillig verzogen. Gleich darauf studierten der Arzt und er einige Schriftstücke und verließen wenig später den Raum.

Draußen konnte er ihre Stimmen hören. Ob der Vater heute Abend zu ihm kommen würde? Der Arzt hatte jetzt etwas gesagt, auf das Henri nichts entgegnete. Jules setzte sich umständlich. Die Stimmen draußen wurden schwächer und entfernten sich schließlich ganz. Er zupfte an seinen Strümpfen, zog mühsam die Hose hoch. Schritte kamen den Gang entlang und verschwanden in der Ferne. Dann hörte er den raschen, unverwechselbaren Tritt eines der Mädchen seiner Mutter. Vorsichtig schob er sich an den Rand des Tisches. Wieder waren Schritte zu hören, dann öffnete sich die Tür.

Henri war ohne den Arzt zurückgekommen. Müde sah er seinen Sohn an. Wie der da auf dem Tisch saß, so erbarmungswürdig schmal, dass man die Knochen sehen konnte, das eine Knie wie ein kleiner Apfel inmitten eines dürren Beines, das andere unförmig. Wie er jetzt zu lächeln versuchte – Henri kam rasch näher –, diese Augen, wie sie ihn anstarrten, dieser zitternde Mund. Er stützte die Hände rechts und links der Beine seines Sohnes auf den Tisch, ohne ihn zu berühren.

Jules schluckte. Da war das Gesicht seines Vaters in greifbarer Nähe. Doch gleich darauf hatte Henri ihn gepackt und auf den Boden gesetzt. Ohne ein weiteres Wort verließ er das Zimmer. Jules horchte. Da war nichts. Überhaupt nichts. Ihm war kalt.

Die Tochter des Advokaten

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