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19. September 17836. Kapitel

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Der enorme azurblaue Tafettaballon mit den goldenen Lilien, der sich an jenem 19. September 1783 unter Trommelwirbeln in den Himmel über dem königlichen Palast in Versailles erhob, hatte nur drei Passagiere: ein Schaf namens Montauciel, eine Ente und einen Hahn.

»Die Berichte dieser Reisenden werden wohl ihresgleichen suchen«, bemerkte Henri de Montfort trocken, während er mit zusammengekniffenen Augen dem Flug des Ballons zu folgen suchte. Sein Sohn Jules hatte zuerst in seiner unmittelbaren Nähe gestanden, Schmerzen hatten ihn jedoch bald dazu gezwungen, sich zurückzuziehen. Wahrscheinlich las er in der Kutsche längst wieder in seiner Abschrift des Contrat Social.

Cécile schnalzte mit der Zunge. Eben waren die Heiratsverhandlungen zu einem positiven Ende gekommen. Monate voller Drohungen, entwürdigendem Streit und Heiratsvermittlern lagen hinter ihnen. Sie konzentrierte sich von neuem auf den Ballon. Seit Beginn der Veranstaltung hätte sie ihren Blick nicht mehr davon abwenden können. Ebenso wie viele andere Schaulustige, die sich an diesem Nachmittag in Versailles eingefunden hatten, beneidete sie die Tiere in dem Korb, ein Umstand, dem auch eine heftige Windböe nichts anhaben konnte, die ein Loch in den Stoff zu reißen drohte und die Versuchsflieger in Lebensgefahr brachte. Am liebsten wäre sie den ganzen Nachmittag dort geblieben, die Wangen gerötet, die Augen gegen den Himmel gerichtet, oder zumindest so lange, bis man Nachricht von der Landung brachte. Ihr Vater dagegen, Monsieur de Lautrec, hatte den Abflug des Ballons kaum mitbekommen, da er seinen indignierten Blick meist auf den Menschenmassen hatte ruhen lassen, die sich im Hof des königlichen Palastes um die speziell für das Ereignis errichtete Plattform drängten und von denen die meisten vermutlich extra aus Paris angereist waren. Schon seit dem frühen Morgen waren alle Straßen nach Versailles von Kutschen und anderen Gefährten verstopft gewesen, während sich zugleich Armeen von Fußgängern und Sänften zum Ministerhof durchgekämpft hatten. Niemand hatte dieses Ereignis verpassen wollen, und niemand, bemerkte Lautrec nun zu Montfort, hatte den Pöbel draußen gehalten.

»O ja.« Montfort musterte seine unmittelbare Umgebung. »Man findet sich allzu leicht inmitten von Abschaum wieder, nicht?«

Eine rundliche Frau in einem verwaschenen braunen Kleid, die eben noch mit durchdringendem Organ gebratene Äpfel feilgeboten hatte, war nun in Verkaufsverhandlungen mit zwei Mädchen verwickelt. Ein Mann in einem zu großen gelben Rock sowie dunklen Kniehosen und Gamaschen verkaufte Drucke und nutzte die Gelegenheit, den beiden ebenfalls sein Angebot unter die Nase zu halten. Ein kleiner Schuhputzer in einem knielangen braunen Mantel, schwarzen Kniehosen, die nackten Füße in Holzschuhen, drängte sich, einen Schemel unter den Arm geklemmt, eine Mütze mit aufgestellter Krempe auf dem struppigen Haar, an ihnen vorbei. Kopfschüttelnd schaute ihm Lautrec hinterher, tastete dann, einer plötzlichen Eingebung folgend, nervös nach seinen Uhrketten. Sein rotes Habit à la française unterstrich seine korpulente Erscheinung, die Weste in Rot und Gelb spannte über der Brust. Schnaufend nahm er den schwarzen Dreispitz mit seinem Besatz aus Straußenfedern ab, wischte sich den Schweiß von der Stirn und platzierte ihn dann sorgfältig neu auf dem gepuderten Kopf. »Ich habe noch Zeiten gekannt, da näherte man sich dem König nicht einfach so.«

Eine Obstverkäuferin drängte sich in nächster Nähe missmutig durch die Menge. Dunkle Locken kringelten sich unter ihrem schmutzig weißen Häubchen hervor. Auf dem Tablett, welches sie sich vor den Bauch geschnallt hatte, lagen die Reste ihres Angebots. Mit einem Fingerschnippen winkte Henri sie herbei, warf ihr ein paar Münzen zu und nahm sich eine Orange. »Wo ist der König eigentlich?«, fragte er dann. Lautrec zuckte die Schultern.

»Pfannkuchen, heiße Pfannkuchen!« Ein weiterer Verkäufer, auf die potenziellen Kunden aufmerksam geworden, näherte sich. Lautrecs Diener drängte den Mann mit erhobenen Händen ab.

»Wissen Sie«, wandte sich Lautrec an Montfort, »ich habe früher kaum eine Gelegenheit ausgelassen, König und Königin, sonntags nach der Messe, beim öffentlichen Diner Gesellschaft zu leisten. Das habe ich schon beim alten König getan, der hatte so eine Art, die Spitze eines Eis mit einem einzigen Schlag seiner ...«

»Weshalb er in der Öffentlichkeit immer Eier zu sich nahm.« Henri aß ein Stück Orange. »Hat es Ihnen gefallen, Mademoiselle de Lautrec?«

»Natürlich«, lachte Lautrec leise, während Monsieur de Montfort nun dessen Tochter musterte. Die Kleine trug einen transparenten Sommermantel mit Streifen und aufgestickten Pünktchen über einem blassgrünen Seidenkleid. Ihre Taille war bemerkenswert schmal. Den Strohhut hatte sie abgenommen, um besser sehen zu können. »Meine Tochter bekniet mich seit Wochen, ihr einen Besuch im Musée des Sciences zu ermöglichen.«

»Im Musée des Sciences? Sollte meine zukünftige Schwiegertochter das wirklich wollen?« Spielerisch griff Montfort nach ihrer Hand. »Warum interessiert Sie, was Sie doch nie verstehen könnten, Mademoiselle?« Fast so schnell, wie er ihre Hand ergriffen hatte, hatte sie diese zurückgezogen. Ihr Vater runzelte die Augenbrauen. Ein Mädchen drängte sich mit Blumensträußen, den schönsten in Paris, an ihnen vorbei. »So sind wir eben, nicht wahr, Mademoiselle de Lautrec?«, fuhr Montfort fort. »Wir Franzosen begeistern uns für alles Neue, meist sehr plötzlich und nie sehr lange, aber das Neue ist für uns wie Elektrizität, die in uns hineinfließt und uns unweigerlich zum Zucken bringt.« Er verzog den Mund.

Lautrec legte eine Hand auf den Arm seiner modisch gestreiften Redingote. »Ich muss mich entschuldigen, Monsieur de Montfort. Sie ist mein einziges Kind, und da mir nie ein Sohn vergönnt war, habe ich ihr wohl zu viele Freiheiten eingeräumt. Sie hat eher seltsame Steckenpferde.«

»So?«

»Ich dilettiere nur ein wenig, wie Sie sich vorstellen können, Monsieur de Montfort.« Céciles Lippen waren schmal geworden, der Ausdruck ihrer Augen abweisend.

»Ich habe nichts anderes erwartet, Mademoiselle.«

»Natürlich nicht.« Mit einer Handbewegung raffte sie ihr Kleid. »Ich werde mich in die Kutsche zurückziehen.«

Im Davoneilen vernahm sie die Stimme ihres Vaters.

»Machen Sie sich keine Sorgen, Monsieur, Pferde werden gebrochen, solange sie jung sind. Cécile ist jung.«

Die Tochter des Advokaten

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