Читать книгу Die Tochter des Advokaten - Kirsten Schützhofer - Страница 16

Sommer 178410. Kapitel

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Cécile entschied sich noch am selben Abend für die Einstellung Sophie Fouquets als Gesellschafterin, und Sophies erste Wochen vergingen, hin und her gerissen zwischen Céciles spitzer Zunge und deren Bedürfnis, sich auszutauschen. Musste sie erst Stunden aus dem neuesten Roman vorlesen, sollte sie danach mit der Wäscherin über das Loch im Nachthemd verhandeln, war Kind und Frau zugleich, Céciles und Jean-Maries Gelächter ausgesetzt, Gesellschafterin, Dienerin, Vorleserin. Wurde zurechtgewiesen ob ihres bäuerischen Stils, dann eingekleidet in Céciles abgelegte Kleidung. Von ferne manchmal Jules de Montforts Blick, meist über den Rand eines Buches hinweg. Wie jeder Ehemann eine quantité négligeable, wie Jean-Marie der schmunzelnden Cécile zuflüsterte. Aus einem engen Haus in die weiten Säle des Schlosses, irgendwann nach Paris, im Winter, wie jedes Jahr. Natürlich zog man es vor, auf dem Land zu leben, aber Pflicht war Pflicht. Besuche würden gemacht, Geld verloren werden, so, wie es Mode war in den Pariser Salons. Man würde über die Bank murren und über unglückliche Verlierer schaudern und sie noch rascher vergessen. Jean-Marie würde sein payez auf Schuldscheine setzen, Henri die Stirn runzeln. Wie jedes Jahr.

Sophie schaute zu Cécile hinüber, die gerade begonnen hatte, vom Aufstieg der Montgolfiere an jenem Septembertag in Versailles zu berichten, der ihre Wangen noch heute erröten ließ.

»Der Ballon landete im Wald von Vaucresson, hier, ein gutes Stück unterhalb des Schlosses.« Cécile deutete auf einen Punkt auf der vor ihr liegenden Karte. »Es gab verschiedene Berichte. Manche sagten, der Hahn habe sich den Hals gebrochen. Ich glaube«, sie hielt das Modell gegen das Licht, sodass sich das Blau des Ballons auf ihrem Gesicht und ihrem modischen weißen Kleid à la chemise ausbreitete, »unsere Passagiere waren wohl überrascht, aber im Ganzen unverletzt.«

»Wer war nicht überrascht?« Sophie hatte sich auf Céciles Geheiß auf den gelben Polsterstuhl im Stil Louis-quinze gesetzt und vergeblich versucht, die gelangweilte Haltung einer Dame nachzuahmen. »Man hat das Geheimnis entdeckt, nach dem jahrhundertelang gesucht worden ist. Der Mensch ist nun auch Herr der Lüfte.«

Cécile lachte leise. »Das ist Rivarol, nicht wahr? Sie lesen zu viel. Nein, der Mensch ist noch nicht Herr der Lüfte, aber wir haben viel gewonnen.« Ihre Stimme klang nachdenklich, als sie weitersprach. »Wissen Sie, wie oft ich versucht habe, mir diesen Moment vorzustellen? Den allerersten Flug?« Der Ballon in ihren Händen vollzog kleine, kreisende Bewegungen. »Wie sich die zarte Hülle aus Papier mit Rauch füllte, ausdehnte, wie das kleine Modell gegen die Decke zu steigen begann ... Und dann die erste Montgolfiere!«

Auf den Septemberflug zu Versailles im Jahr 1783 war, nur etwa zwei Monate später, der erste bemannte Flug gefolgt. Cécile suchte Sophies Blick.

»Schauen Sie sich den Druck an, der vor Ihnen liegt.« Sie wartete, bis das Mädchen das Bild von dem kleinen Sekretär aus Sèvres-Porzellan genommen hatte. »Blau, dekoriert in Gold, mit dem königlichen Zeichen und den Abbildungen des Tierkreises«, beschrieb Cécile ihn aus dem Gedächtnis, »wunderschön, nicht? Jean-François Pilâtre de Rozier und der Marquis d’Arlandes sind damit geflogen. Die ersten Sterblichen, die dem Himmel so nahe sein konnten!«

Die beiden Mädchen wechselten einen Blick. Cécile legte das Modell zur Seite und streckte die Hand nach dem Druck aus, um ihn dann so zu halten, dass Sophie ihn sehen konnte. Ihr Gesicht wurde weicher, wie immer, wenn sie über diese Dinge sprach. Der helle Ton ihres zarten Kleides unterstrich ihre durchscheinende Haut und fügte sich zu dem Zitronenduft, den sie aufgelegt hatte.

»Sie standen sich also gegenüber, jeder auf seiner Seite des Korbes, jeder mit Bündeln Brennmaterial, jeder mit einem nassen Schwamm für den Fall, dass die Maschine Feuer finge. Um sechs Minuten vor zwei Uhr flogen sie los. Die Zuschauer erstarrten, sodass ihnen unsere Helden, um sie von ihrem Wohlergehen zu überzeugen, zuwinkten. Tosender Applaus, heißt es, stieg daraufhin auf.« Cécile drehte das Bild, um es zu betrachten. »Im Dezember war es dann eine Charliere, die inmitten einer ehrfürchtigen Menge in den Tuilerien aufstieg, die schöne Le Globe mit breiten Streifen in Rosé und Gelb und schmaleren in Grün. Es gibt Damen, die sich Kleider in diesem Muster haben machen lassen, Frisuren, die eine Montgolfiere oder eine Charliere schmückte.«

Sie sprang unvermittelt auf. Sie musste sich einfach bewegen. Mit ein paar Schritten war sie am Fenster und sah hinaus. Unter ihr erstreckte sich das abgenutzte Pflaster des Innenhofs von Schloss Montfort. Ein Stück hinter dem Tor begann das Dorf mit seinen geduckten Häusern mit ihren flachen Dächern und den engen Gassen, die sich kreuz und quer über den Hügel zogen. Cécile runzelte die Stirn. Bisher hatte sie das Dorf gemieden, seine Gerüche, die Sprache, die sie nicht verstand. Mit einer Hand fächelte sie sich Luft zu. Es ging auf den Abend zu, aber die Hitze des Tages drückte noch immer unbarmherzig auf Pflanze, Mensch und Tier. Sie hatte eines der Mädchen angewiesen, ihr später etwas lauwarmes Wasser mit Mandelmilch und Orangenblüten zu bereiten, und hoffte, dass ihr dies Linderung verschaffen würde. Von ferne hörte man Ziegen meckern, dann ein provenzalisches Lied. Ein Küchenmädchen, das den Hof überquerte, nahm es auf: N’ai tant durmi et redurmi, que la nuech nia surprio ... Unter ihren Augen humpelte ihr Mann zu den Stallungen hinüber. Hinter ihr rutschte ihre Gesellschafterin unruhig auf ihrem Stuhl herum.

»Ich habe gelesen, Mariä Empfängnis sei jetzt ganz einfach zu erklären«, sagte Sophie, »und junge Frauen müssten in ständiger Angst leben.«

»Schnattergans!« Cécile drehte sich rasch um, kam einige Schritte näher und legte die Hand auf das Fernrohr, welches sie in ihrem Zimmer hatte aufbauen lassen. »Es ist dumm, aber Sie sind nicht die Einzige, die sich furchtet.«

»Ich fürchte mich nicht, Madame!« Sophie war rot angelaufen.

Cécile zog die Brauen hoch. »Die erste Charliere musste mitten in der Nacht von der Place des Victoires zum Champ-de-Mars transportiert werden, weil man Attacken befürchtete. Soldaten begleiteten den Transport. Menschen gingen auf die Knie, um sich gegen das Böse zu bekreuzigen.« Cécile schaute einen Moment lang ausdruckslos in die Ferne, dann setzte sie sich lächelnd auf ihr Bett. »Waren Sie schon einmal verliebt, Mademoiselle Fouquet?«

»Ich weiß nicht, Madame.« Sophie senkte den Kopf, die Augen starr auf den Punkt gerichtet, wo sich, unter dem mit grünen Blumen bedruckten Rock aus dunklem Leinen, die Knie befinden mussten. »Früher habe ich manchmal von einem Korsaren geträumt, der mit mir fortsegeln würde. Wir würden englische Handelsschiffe aufbringen und später in einem großen Haus auf den Zuckerinseln leben. Und Sie?«

Cécile lachte amüsiert. »Piraten? Solche Gespräche habe ich früher mit meinen Cousinen geführt. Liebe, Verehrung ...« Sie schien zu überlegen. »Pilâtre de Rozier. Er ist noch nicht alt, wissen Sie.« Ihre Finger folgten den gestickten Linien auf dem Kissen neben sich. Nein, er war nicht alt. Pilâtre de Rozier, siebenundzwanzig Jahre, war der Star der französischen Wissenschaften, ein Held, der eine schier unglaubliche Zukunft vor sich hatte.

»Er hat das Musée des Sciences gegründet, nicht wahr, Madame?«

Mit einer heftigen Bewegung drückte Cécile das Kissen gegen ihre Brust. »Er ist geflogen, und ich weiß, dass er es wieder tun wird. Was gäbe ich darum, einmal dabei zu sein.«

»Mademoiselle Fouquet?«

Eine Stimme war ihr in den Gang gefolgt, den sie für ihren Spaziergang auserkoren hatte. Sophie blieb stehen. So weitläufig wie dieser Gang, dessen Ende man im Dämmerlicht nur erahnen konnte, war das ganze Schloss. Verglichen mit Fouquets Haus wirkte hier alles grandios. Die Fenster mit ihren unzähligen, kleinen Scheiben waren breiter – in ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie so viel Glas gesehen –, die Wände höher, die Flure länger, und es gab mehr Bilder, mehr Möbel, mehr Räume und mehr Menschen, als sie es sich je hatte träumen lassen.

»Sie sind doch Mademoiselle Fouquet, oder?«

Sie zögerte. Es gab nur wenige Minuten am Tag, die sie für sich alleine hatte, meist auf den langen Wegen von einem Teil des Schlosses zum anderen, oder wenn Cécile Musikstunde hatte, zeichnete oder Italienischunterricht nahm. Mit der Hand strich sie über den Rock ihres neuen hellen Kleides mit seinem Muster aus blauen, grünen und altrosa Blüten und drehte sich um.

»Ich dachte, es wäre an der Zeit, mich vorzustellen. Mademoiselle Fouquet!« Ihr Verfolger hatte sie mit wenigen Schritten erreicht.

»Ich weiß, wer Sie sind, Monsieur.« Bemüht, die Miene nicht zu verziehen, wie sie es sich bei Cécile abgeschaut hatte, die Hände vor ihrem Körper verschränkt, sodass sie stets den weichen Stoff spüren konnte, sah Sophie ihr Gegenüber an. »Sie sind Monsieur Lemaire, Lautrecs bürgerlicher Stipendiat.«

»Ach«, Lemaires Augenbrauen hoben sich spöttisch, »dann wissen Sie ja schon alles über mich. Lautrecs Stipendiat – das hat sie gesagt, oder? Hat sie Ihnen auch gesagt, dass ich ein gescheiterter Advokat und schlechter ...«

»Ich glaube nicht, dass mich das etwas anginge.«

Unruhig bemerkte sie, dass ihn ihre Antwort zu amüsieren schien. Zu seinem kastanienbraunen Frack trug Pierre Lemaire eine Kniehose in gleicher Farbe und dunkle Strümpfe. »Sie haben viel gelernt, Mademoiselle«, bemerkte er endlich mit zuckenden Mundwinkeln. »Ich nehme an, sie hat unbedingte Loyalität von Ihnen gefordert? Cécile neigt zur Dramatik, ich kenne sie.« Er lachte.

Sophie schwieg. An Céciles Hochzeitstag waren sie einander zum ersten Mal begegnet. Er war der Sekretär der jungen Familie, sie die Gesellschafterin der jungen Ehefrau. Aber sein Lachen, bemerkte sie plötzlich, war so ansteckend, dass sie selbst kichern wollte. Neugierig beäugte sie ihn: die Pockennarben, die irgendwann die Ebenmäßigkeit seines Gesichts zerstört hatten, den recht kräftigen Körper, das störrische Haar, den Mund, der ihn manchmal so mürrisch wirken ließ, die schwarzen Augen. Er war noch jung, vielleicht neunzehn oder zwanzig. Wie viel Zeit war jetzt vergangen? Fünf oder zehn Minuten? Sie fühlte sich mit einem Mal wie gelähmt.

»Sie kommen von hier, Mademoiselle?«, fragte er unvermittelt.

Sie nickte. Fern hörte man Schritte, Schimpfen. Ein Diener in Livree tauchte auf und verschwand. Sie gab sich einen Ruck. »Und Sie?«

»Geboren in Bordeaux. An den Ufern der braunen Garonne ...«

Wieder musterten sie einander. Schuldbewusst dachte sie daran, dass sie vor ein paar Tagen heimlich in seine Kammer geschaut hatte. Sie hatte nur sehen wollen, ob sein Zimmer so ähnlich war wie das ihre, aber es war karger eingerichtet gewesen. Sie hatte ein schmales Bett erspäht, einen einfachen Tisch, einen Stuhl, wenige Bücher, kaum Kleidungsstücke. Neben der Tür hatte eine Tasche gestanden, als sei ihr Besitzer stets bereit zu verschwinden. Der einzige Schmuck bestand in einem Bild, das einen Jungen mit hellbraunem Haar und auffallend dunklen Augen zeigte. Auf einem Bein balancierend, kratzte sie sich mit der rechten Fußspitze an der linken Wade. Hufgetrappel war zu hören, Rufe, eine Glocke.

»Das Bild in Ihrem Zimmer ...« Sie errötete unter seinem Blick. »Die Tür stand offen!«, protestierte sie.

»Der Junge auf dem Bild bin ich ...«

Pierre wandte sich abrupt dem nächstgelegenen Fenster zu, aber die Augen, die sich auf den Hof richteten, nahmen schon nichts mehr wahr. Er erinnerte sich an einen Maler an einem Markttag, inmitten von fliegenumschwirrten Ständen, an ein geducktes, einstöckiges Haus. Er erinnerte sich an das Schloss, in dem seine Mutter mit so vielen anderen in der Küche gearbeitet, Wäsche gewaschen und – wie er heute längst wusste – auch Betten gewärmt hatte. Damals hatte er das nicht bemerkt, zu stolz war er darauf gewesen, dass Mamans Arbeitgeber ihn, vielleicht zuerst nur aus einer Laune heraus, auf eine Schule hatte schicken wollen. Kurz vor seiner Abreise hatte seine Mutter jenes Bild in Auftrag gegeben, und er erinnerte sich jetzt auch, wie der Maler zum Ende hin langsamer gezeichnet hatte, jede letzte Änderung ein potentieller, irreversibler Fehltritt. Hier hatte sich ein Strich in eine Narbe gewandelt, dort ein leichter Schatten seinen Gesichtsausdruck verändert. Etwas Seltsames war da in diesen gemalten Augen, selbst heute noch, fast ein wenig, als spiegele sich dort etwas, was nicht ihn betraf, sondern den, der ihn gezeichnet hatte, diesen mageren Menschen auf dem Dorfplatz, der einen ganzen Vormittag lang die gesamte Dorfgemeinschaft unterhalten hatte ... Er drehte sich wieder zu Sophie Fouquet um. Er wollte ihr davon erzählen, wie dieses Bild entstanden war, wie er sein Zuhause verlassen hatte und was danach geschehen war.

Die Tochter des Advokaten

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