Читать книгу Die Tochter des Advokaten - Kirsten Schützhofer - Страница 6

Prolog

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Er hatte seine Hand unter ihren Nacken geschoben und ihren Kopf leicht angehoben, sodass er ihr ins Gesicht schauen konnte. Ihre Augen waren geschlossen. Im Schein der Laterne zeigten sich ihre dunklen Wimpern reglos. Sie war immer noch schön, trotz des farblosen Tons ihrer Haut. Genau wie ihr Mund schön war – so fein geschwungen und weich, wie er selten einen gekannt hatte – und ihre etwas kurze, gerade Nase. Da war auch noch ihr Geruch, dieser weibliche, runde Duft, der in ihrer Kleidung hing und sich mischte mit dem von Kräutern und Holzfeuer, Erde und Obst. Erst nach und nach war er ihm vertraut geworden, ebenso wie jeder Abschnitt ihrer Haut, angefangen von den rauen Händen bis hin zu ihren geheimsten Orten.

Langsam zog er die Hand unter ihrem Nacken hervor. Ihr Kopf rutschte zur Seite, heraus aus dem unmittelbaren Lichtkegel. An ihrer rechten Schläfe waren ihre langen dunklen Strähnen mit Blut und Dreck verklebt. Sehr viel Blut, das der frühe Morgen wie ein Schwamm in sich aufsaugen musste. Es erinnerte ihn an regnerische Tage, wenn der feuchte Unrat die Luft regelrecht zu verpesten schien. Der Geruch drang ein in seine bebenden Nasenflügel und setzte sich auf seiner Kleidung fest. Überall war es, dieses süßliche Aroma von Blut, gemischt mit dem nicht minder süßlichen von Parfum. Er schmeckte es auf den Lippen, der Zungenspitze und überall in seiner Mundhöhle.

Er hatte sie kommen sehen, und im tanzenden, undeutlichen Schein seiner Laterne inmitten der Obstbäume musste sie ihn ebenfalls gesehen haben. Da war es tiefe Nacht gewesen, und auch jetzt noch hielt die Dunkelheit erbarmungslos alles umklammert, ließ da ein Feld erahnen und dort den Apfelbaum, von dem aus man schemenhaft die ersten Häuser des Dorfes erkennen konnte. Ein altes Dorf, dessen Gebäude mit dem Hügel verschmolzen, auf dem zuoberst das Schloss thronte, streng und abweisend trotz seiner großen Fensterzahl.

Sie hatte ihr bestes Kleid angezogen für die Reise, jenes aus festem braunem Stoff, mit dem er sie oft in der Kirche gesehen hatte. Um den Hals trug sie ein fast weißes Tuch, welches das Dekolleté züchtig verdecken sollte, jedoch im Sturz verrutscht war. Über dem immer noch verlockenden Ansatz ihrer Brüste hing ein kleines Kreuz.

Wie unschuldig und geradezu lächerlich einfach dieses Kleid gegen die Stoffe und Schnitte, Muster und Farben, Stickereien und geheimen Zeichen war, die er tagtäglich zu sehen bekommen hatte. Was waren gegen sie die zarten rosigen Damen auf den Festen, die er besucht hatte, mit ihrem perlenden, oberflächlichen Gelächter und ihren weißen Gesichtern über blassem Blau, Grün oder Gelb. Das Gesicht da unter ihm war trotz seiner Blässe noch immer braun von der Sonne, der es sein Leben lang ausgesetzt gewesen war. Keine Schuhe schützten die dreckverkrusteten Füße. Niemals hätte er mit ihr durch Gärten lustwandeln können, niemals scherzen, wie er es gewohnt war. Niemals war sie getrippelt. Sie war gegangen, kräftig ausgeschritten, eigensinnig und geschmeidig wie ein Tier.

Wahrscheinlich hatte sie sich nicht von den Eltern verabschiedet, vielleicht nur dem kleinen Bruder zum Abschied gewinkt, den Finger auf den Lippen, bevor sie sich den Weg über das unebene Pflaster, vorbei an den rauen Mauern und den geduckten Häusern hatte ertasten müssen. An ihrer rechten Hand – das hatte er im Moment ihrer ersten Berührung gespürt – war die Haut abgeschürft.

Er senkte den Blick erneut. Als er diesen Rock das erste Mal bewusst gesehen hatte, vor so langer Zeit, hatte er ihn einfach achtlos nach oben geschoben. An der Trockenmauer dort drüben war das gewesen, und er hatte es eilig gehabt. Dass er sie beobachtete – in der Kirche, auf dem Feld, auf dem Markt in der Stadt, wenn er an ihr vorbeigeschlendert war, um einen Apfel zu stibitzen –, musste sie da schon lange bemerkt haben. Sie wusste sehr wohl, dass er es bewunderte, dieses lange, wellige Haar und das Madonnengesicht, das es umrahmte. Er hatte sie geliebt. Vom Tag ihrer ersten Begegnung an suchte er, wann immer möglich, ihre Nähe. Irgendwann eines Abends hatte ihre Mutter ihr Haar dann mit diesem Kräutersud gewaschen, und am nächsten Tag auf dem Feld, als sie sich gerade in der Mittagshitze ausruhte, da hatte er ihr bedeutet, zu ihm zu kommen. Er hatte nicht bedacht, dass sie noch Jungfrau sein könnte. Wie so viele hier sah sie älter aus, aber eine kleine Münze half ihr über die Angst hinweg.

Zuerst hatten sie wenig gesprochen. Sie liebte seine Kleidung. Er sah es an ihren Augen, an der Art, wie ihre Finger mit den brüchigen Nägeln über die Stoffe fuhren. Nicht ihm galt ihre Faszination, es waren die Stoffe und der Duft, der ihn umschwebte und der sie immer trennte. Einmal brachte er ihr eines seiner Parfumfläschchen mit. Sie trug es seitdem stets bei sich, benutzte es aber nicht. Es passte nicht zu dem engen Raum, den sie mit ihrer Familie teilte. Es passte auch nicht zu dem staubigen Platz an der Mauer. Dieses Fläschchen passte nur in die großen Säle mit glänzenden Parkettböden, die sie sich von ihm hatte beschreiben lassen, und jetzt lag sie da, der hübsche Schädel von einem Feldstein zertrümmert.

Nach Paris wolle sie, hatte sie gesagt. Alle wollten sie in das wunderbare Drecksloch. Wenige Wochen dort, und ihr Ausschnitt wäre tiefer gerutscht, als sie es je für schicklich gehalten hätte, geschmacklos marktschreierisch die Kleidung, voller Bänder und Schleifen an den rechten Stellen. Vielleicht hätte sie sich irgendwann auch gegen die Mauern der Häuser stehend nehmen lassen. Was wusste sie schon. Eine Stadt wie Paris, die schluckte Leute wie sie und spuckte sie tot aus.

Wie schrill und beleidigt sich ihre Stimme angehört hatte, so irritierend gewöhnlich. Geld hatte sie verlangt, mit einem Prozess gedroht. Eigentlich lächerlich – wer würde ihr schon Gehör schenken –, aber sie hatte ihn wirklich verletzt. Langweilig war sie ihm da erschienen, wie all diese Dorfweiber mit ihren Ansprüchen und ihren hässlichen, kleinen Träumen und ihrer Gier.

Er beugte sich wieder ein Stück vor, froh, nur ihr hübsches, weiches Haar zu sehen. Es war sehr still, und über allem schwebte der intensive Geruch seines Parfums. Vermutlich war der hauchdünne Flakon an ihrem Körper zerbrochen, als er sie stieß. Warum hatte sie auch stürzen müssen? Er konnte sie nicht so liegen lassen. Er würde sie ein Stück tiefer zwischen die Bäume ziehen, bis zu dem Graben an der Trockenmauer.

Sie war schwerer, als er gedacht hatte, und doch, als es endlich geschafft war, kam sie ihm unendlich klein vor und zierlich, eine braun gekleidete, blutige Madonna. So winzig wie damals, als sie ihm zum ersten Mal vom Markt gefolgt war, mit diesem süßen Lächeln und der Neugier auf das andere. Er hatte sie wirklich nur einschüchtern wollen.

Er stand auf. Der Parfumduft würde verfliegen. Bis zum Morgen war es noch weit. Das Blut? Wie viele dreckige Vagabunden hatten sich in der Gegend aufgehalten? Wie viel fahrendes Volk? Offensichtlich hatte man versucht, sie zu verstecken. Möglicherweise war man dabei gestört worden.

Die Tochter des Advokaten

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