Читать книгу Die Tochter des Advokaten - Kirsten Schützhofer - Страница 17

1776 bis 177811. Kapitel

Оглавление

Der Mann lächelte und fuhr sich mit einer schmutzigen Hand durchs Haar. Er schien dies öfter zu tun, denn die hartnäckig über seine Stirn fallende Locke war deutlich verfärbt. Pierre biss in den Apfel, den er in der Hand hielt. Unter dem Gemurmel der Menge kam der Maler auf ihn zu.

»Ich habe selten ein vollkommeneres Gesicht gesehen«, sagte er unvermittelt, »aber das«, und damit hatte er einen Finger auf die Narben auf Pierres Gesicht gelegt, »macht es wirklich interessant.«

Pierre biss erneut in seinen Apfel. Seine Narben waren nichts Besonderes, fand er, das halbe Dorf hatte welche seit der Epidemie. Er kaute genüsslich.

Der Maler setzte sich auf die Brunnenmauer. »Ich würde dich gerne malen.«

Pierre zuckte die Schultern.

»Soll ich dir meine Bilder zeigen?« Unter seinem Umhang zog der Mann eine Mappe hervor. Sie enthielt kleine Bildchen, verschmutzte Skizzen eines Wanderkünstlers, viele Gesichter, auch einige erotische Zeichnungen. Er schob sie dem Jungen zu, der mager war, aber feste Muskeln hatte und hellbraune Haare über fast schwarzen, neugierigen Augen. Seine Kleidung war sauber, allerdings verwaschen und an mehreren Stellen sorgfältig geflickt. Errötend berührte er eine der Zeichnungen mit den Fingerspitzen.

Der Maler sah ihn prüfend an. »Wie alt bist du?«

Die Stimme klang sanft, irgendwie höflich. Pierre betrachtete ihn von unten herauf. »Zwölf«, sagte er vorsichtig, »ich werde bald dreizehn.« Ein paar kleinere Kinder hatten sich um sie geschart. Er konnte ihr Flüstern hören, ihr Lachen, spürte ihre kleinen Finger an seinem Ellenbogen und roch auch den penetranten Geruch, der vom Stand des Metzgers herüberwehte.

»Du siehst älter aus.« Der Maler lächelte. Der Junge reagierte nicht. Ein Medaillon um seinen Hals rief den Schutz eines Heiligen an. Der Maler nahm ihm die Zeichnung aus der Hand, und sie schauten einander einen Moment lang schweigend an. Dann zuckte der Junge die Schultern.

»Dreizehn und schon fast ein Mann.« Der Maler streckte die Hand nach ihm aus.

Pierre wich zurück. Die korpulenten Frauen drüben am Marktstand sahen zu ihnen her, in einiger Entfernung eilte der Pfarrer zur Kirche. Dann kramte der Maler ein verschmutztes Stückchen Papier aus einer seiner Taschen hervor und begann etwas zu skizzieren. Wenig später reichte er Pierre grinsend ein Bildchen des rundlichen Geistlichen mit seiner Stupsnase und der schief sitzenden Perücke. Gleich darauf malte er noch einen Hund, der einen der Marktbesucher beim Umhang gepackt hatte, und reichte die Zeichnung den kichernden Kleinen, und irgendwann nahm er einfach ein neues Blatt aus seiner Mappe und begann, Pierre zu skizzieren.

»Nachdem ich nun weiß, wie alt du bist«, sagte er nach einer Weile langsam, »verrätst du mir ja vielleicht auch noch deinen Namen?«

»Pierre.«

»Pierre.« Mit gesenktem Kopf setzte der Maler einige energische Striche auf das Papier, dann sah er wieder auf. »Pierre Lemarre. Ihr seid berühmt, deine Mutter und du.«

»Pierre Lemaire«, verbesserte ihn Pierre.

»Ihr seid nicht von hier, oder?«

»Wir wohnen im Haus neben dem Konvent.«

»Ich weiß.« Kurz war nur das Kratzen des Stiftes zu hören. »Sie ist eine intelligente Frau, deine Mutter.«

Pierre schwieg.

»Sie ist stolz darauf, dass man dir ein Stipendium geben wird.« Der Mann hielt mit dem Malen inne, um sein Objekt ganz in Ruhe zu betrachten. »Du lebst allein mit deiner Mutter?«, fragte er nach einer Weile.

»Ja.«

»Und dein Vater?«

»Er ist«, Pierre richtete seine Augen auf einen Punkt weit hinter dem Maler, »noch vor meiner Geburt gestorben ...«

Seine Mutter sprach nie über seinen Vater, aber sie hatte ein Kleid aus jener Zeit, in der sie, wie er sich vorstellte, mit ihm glücklich gewesen sein musste. Es bestand aus einem gelben, langärmligen Unterkleid aus dünnem Leinen, darüber ein Oberkleid in kräftig schimmerndem Braun, so als zögen sich, kaum wahrnehmbar, Goldfäden durch den Stoff, mit einer gelben Schnürung vorne und gelbem Besatz an Ärmeln und Halsausschnitt, dazu passend eine gelbe Jacke mit brauner Stickerei. Von Zeit zu Zeit holte sie alles hervor und bürstete die Flecken heraus, die die Feuchtigkeit der Küstennähe entstehen ließ.

Einmal hatte sie es auf dem Tisch liegen lassen, und da hatte er rasch seine Nase in dem Stoff vergraben. Es roch stockig. Als sie zurückkam, hatte sie ihm die Kleidungsstücke wortlos abgenommen, sie in ein einfaches Laken geschlagen und in den Schrank gelegt.

Seine Augen verengten sich. Jetzt würde man ihn also auf eine Schule schicken, er würde Priester werden, und seine Maman würde stolz auf ihn sein. Sie war klüger als all die Weiber, die er kennen gelernt hatte. Als junges Mädchen hatte sie singen gelernt, spielte auch recht passabel die Flöte und konnte tanzen. Aus dem Kopf zitierte sie Racine und Molière. Er mochte es, sich an sie zu kuscheln und ihr billiges Parfum zu riechen, mochte es, wenn sie ihm Geschichten erzählte und wenn sie stolz auf ihn war ... Wenn sie einander genügten, zusammenhielten gegen den Rest der Welt.

Langsam wurde es unbequem, den Kopf so still zu halten. Alles schmerzte, fast wagte er nicht mehr zu atmen, und doch brannte er plötzlich darauf, das Ergebnis zu sehen. Aber der Maler ließ sich Zeit.

»Deine Mutter möchte eine Erinnerung an dich haben«, nahm er den Gesprächsfaden wieder auf, »wenn du auf diese Schule gehst. Sie wird dich vermissen, aber sie ist stolz auf dich.«

Er machte einige rasche Striche. Ein paar der kleineren Kinder waren hinter ihm auf den Brunnenrand gestiegen und sahen über seine Schulter. Viele Striche waren das, Striche, die sich zu einem Gesamtbild fügen würden, das ihn selbst darstellen sollte, unzählige Striche und Strichlein, Narben wie auf seinem Gesicht.

1778, zwei Jahre nachdem Pierre die neue Schule erstmals betreten hatte, starb seine Mutter. An einem Fieber, wie man ihm lapidar mitteilte. Am Tag der Todesnachricht durfte er sich für ein paar Stunden zum Gebet und, falls er das Bedürfnis haben sollte zu weinen, auf die Krankenstation zurückziehen. Den Charakter beugen, den Hochmut brechen, so stand es gerahmt an der Wand im Zimmer des Direktors. Hochmut hieß auch, sich selbst zu wichtig zu nehmen, seinen Schmerz überzubewerten.

Eine Woche später erschien Monsieur de Lautrec, sein Gönner, zu seinem alljährlichen Besuch bei seinen Stipendiaten.

Es waren sechs magere Kinder und Jugendliche, die sich um den Holztisch versammelten, der zur Feier des Ereignisses vor der Stufe stand, die den Tisch der Pater vom Rest des Speisesaals trennte. Von den anderen Schülern der Schule unterschieden sich diese Jungen durch ihre unbedeutenden Namen, die schlecht sitzende Kleidung, das fehlende Geld und die kränklicheren Gesichter. Pierre war in diesem Jahr der Älteste von ihnen. Heute war ein Festtag. Sie aßen im Angesicht Monsieur de Lautrecs, für dessen Wohlergehen sie stets gehalten waren, in ihren Gebeten zu bitten. Es gab Fleisch, nicht nur Brot und Suppe. Von den anderen Tischen her wurden sie von den restlichen Schülern beobachtet, von jenen mit den bedeutenden Namen, jenen, die ihre Wäsche zweimal pro Woche wechseln konnten, ohne in Verlegenheit zu geraten. Alle Jungen in dem großen Saal froren. Auf der Empore, vor dem Kamin, schwitzten die Pater und ihr Gast.

Pierre war unruhig. Unruhe hatte ihn auch schon den ganzen Morgen erfüllt, wie immer, wenn es zur alljährlichen Überprüfung kam. Ein blonder Junge – Daniel de Vergnieux hieß er – winkte ihm verschmitzt zu und machte ein Siegeszeichen. Pierre sah wieder zum Tisch der Pater. Jetzt nickte ihm auch sein Mathematiklehrer zu. Pierres Blick richtete sich auf seinen Teller. Das Gesicht seiner Mutter, lachend erst, dann flehend, tauchte so unvermittelt vor ihm auf, dass ihm Tränen in die Augen schossen. Durch die Stille, das bemüht leise Kauen und Schlucken der Jungen, das zarte Klirren der Bestecke, drang die Unterhaltung von der Empore herüber. Der Junge ihm gegenüber sah ihn an. Schmeckte es ihm nicht? Pierre bemerkte ihn nicht. Wo würde er hingehen, sollte er nicht bestehen? Seit dem Tod seiner Mutter hatte er sich häufig Gedanken darum gemacht. Er schob endlich ein Stückchen Brot in den Mund und schluckte mühsam.

Auf der Empore steckten die Pater und ihr Gast die Köpfe zusammen. Der Junge, der heute Tischdienst hatte, brachte Lautrec eine neue Scheibe Roastbeef. Man trank Wein, redete, aß. Im Verlauf der Mahlzeit würde man alle Stipendiaten nach oben rufen – es war nur eine Frage der Zeit, das wusste Pierre –, und doch musste man ihn mehrfach aufrufen, als es endlich so weit war.

Monsieur de Lautrec am Tischende war noch korpulenter, als Pierre ihn vom letzten Jahr in Erinnerung hatte. Er trug einen grünen Rock, sein Haar war grau gepudert und seine Bewegungen, so erschien es Pierre, wurden immer langsamer – wie die eines Insekts, welches sich in Sirup gefangen hatte –, je länger der Mann ihn beobachtete.

Endlich ließ Lautrec das Besteck sinken und lehnte sich zurück. Seit man diesen Pierre Lemaire hier heraufgebeten hatte, war das Gesicht des Jungen immer fahler geworden, dabei hieß es, seine Leistungen seien gut. Geboren zum Lernen, dieser Lemaire. Er musterte den Fünfzehnjährigen. Der Rock war dem Jungen zu klein – vielleicht war er auch in letzter Zeit in die Höhe geschossen, wie das die Jungen in seinem Alter so taten –, und man hatte seine störrischen Haare in einen Zopf gezwungen. Lautrecs Sekretär beugte sich zu seinem Herrn herüber und flüsterte ihm etwas zu.

»Pierre«, Lautrec gähnte, »Lemaire?«

Er hatte es nicht zu dem Jungen gesagt, sondern zu dem Pater, der neben ihm saß. Der nickte. Lautrec seufzte. Jahr für Jahr versuchte er vergebens, sich an die Gesichter der Jungen zu erinnern, aber sie glichen sich alle, eins so bleich und nichtssagend wie das andere. Der Junge starrte vor sich auf den Fußboden. »Und was soll aus ihm werden?«

»Ein Pfarrer.«

»Ein Pfarrer?« Lautrec gähnte erneut.

Der dicke Pater mit den rosigen Wangen an der Seite des Schuldirektors beugte sich vor. »Es war der Wunsch seiner Mutter.«

»Sie ist gestorben, nicht wahr?« Lautrec schluckte geräuschvoll und betupfte sich das Gesicht dann mit einem feinen Tuch. Der Junge betrachtete seine Fußspitzen. »Pfarrer«, fuhr Lautrec fort, »der Wunsch einer Toten, sicher, aber der letzte Pfarrer von hier hat mich schon schrecklich gelangweilt.« Er lachte keckernd.

Pierre hatte nun unvermittelt den Kopf gehoben und schaute auf die Pater in ihren schwarzen Soutanen, zwischen denen Lautrec sich wie ein exotischer Vogel ausmachte. Schon bevor er in diese Schule gekommen war, hatte festgestanden, dass er Pfarrer werden würde. Es war der Wunsch seiner Mutter gewesen, und nunmehr, da sie gestorben war ... Seine Lippen begannen zu zittern.

»Aber der Junge macht sich gut«, sagte der rotwangige Pater und schob sein breites Hinterteil unruhig auf dem Stuhl hin und her.

»Und wenn«, Lautrec schaute zu seinem Sekretär, »ich bezahle für Pfarrer und Sekretäre. Heute steht mir der Sinn nach einem Sekretär. Der Junge macht sich außergewöhnlich gut, heißt es. Er wird ein guter Sekretär werden.«

»Aber vielleicht ist es Gottes Wille ...«

»Gottes Wille ist, was geschieht. Gott hat sie an ihren Platz gestellt, und zufällig weiß ich, wo der ist.« Lautrec schob die Unterlippe vor. Mit einer Kopfbewegung wies der Schuldirektor den Pater an, zu schweigen. »Ein Sekretär, nichts anderes, so will ich das ...«, beharrte Lautrec. Er schaute den Jungen an, musterte dann die anderen, einen nach dem anderen. Wenig stattlich erschienen sie ihm plötzlich, mager, unansehnlich. Der Kleine dort war eindeutig verwachsen, und der da hatte eine schlimme Hautkrankheit. Alle waren sie zu bleich. Ließ sich mit so etwas Staat machen? Wollte er die da seinen Freunden vorstellen? Er leckte sich über die Lippen, schmeckte Thymian und Reste von Knoblauch. »Also, Pierre«, sein Mund verzog sich, »willst du Sekretär werden?«

Zum zweiten Mal an diesem Abend kämpfte Pierre ein Würgen hinunter, dann nickte er langsam.

Die Tochter des Advokaten

Подняться наверх