Читать книгу Eine Partie Monopolygamie - Kolja Menning - Страница 11

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Kapitel 4

Am Mittwoch habe ich ab 14 Uhr frei und treffe mich mit Melanie zu einem späten Mittagessen. Das tun wir regelmäßig. Wir kaufen uns einen Salat bei Lidl und setzen uns in einem Park auf eine Bank. Melanie erzählt von ihrem Freitagabend, den sie mit Anton in einem sehr guten Restaurant um kurz nach zehn begonnen und viele Stunden später in ihrem Bett beendet hat, nachdem Anton sie mehrfach »geliebt hat«, wie Melanie es ausdrückt. Seit Melanie mit Anton geschlafen hat, berichtet sie mir von ihren sexuellen Erlebnissen in einer Detailtiefe, auf die ich verzichten könnte. Nicht, weil ich meine Freundin um ihr frisches Liebesglück beneiden würde. Ich könnte darauf verzichten, weil sie ihre Erzählung jedes Mal mit dem Unausweichlichen schließt.

»Ich wünsche dir so sehr, dass du auch jemanden wie Anton findest«, sagt sie schwärmerisch.

»Mel, du weißt genau, dass ich keine Zeit für so was habe. Ich habe drei Kinder«, bete ich meine Standardantwort herunter.

»Deswegen brauchst du jemanden wie Anton«, fährt Melanie unbeirrt fort. »Jemanden mit Erfahrung! Der vielleicht auch Kinder hat und das versteht.«

Als ich nichts sage, fügt sie hinzu: »Clara, du bist die attraktivste vierzigjährige dreifache Mutter, die es gibt! Weder die Kinder noch dein Alter sieht man dir an. Wenn ich ein Mann wäre, wärst du nicht vor mir sicher – egal, ob ich dreißig, vierzig oder fünfzig wäre.«

Wir schweigen eine Weile.

»Hast du schon von Fair^Made gehört?«, wechselt Melanie schließlich das Thema.

Ich schüttele den Kopf.

»Sind ja noch ein paar Tage«, meint Melanie mit einer Zuversicht, die ich nicht teile.

Doch auch die verstreichen ohne Nachricht von Fair^Made. Als ich am Freitagvormittag bei dem Grafen und der Gräfin putze, spüre ich meine Nervosität. Obwohl ich schon seit einer Woche weiß, dass ich den Job niemals bekommen werde, ist da irgendwo tief in mir ein Schimmer Hoffnung, der dahinschmilzt, je mehr die Zeit voranschreitet. Alle paar Minuten zücke ich mein altes Android-Smartphone und checke meine E-Mails. Doch mein E-Mail-Account bleibt inaktiv. So inaktiv wie die Laufschuhe des Grafen und der Dildo der Gräfin offenbar seit letzter Woche auch gewesen sind.

Der Yogakurs mit den sechs Mädels lenkt mich zwar kurzzeitig ab, doch als danach immer noch keine Mail von Fair^Made da ist, bin ich so niedergeschlagen, dass ich auf dem Weg zu Emils Kita kurz anhalte, mich auf eine Parkbank setze und weine. Weil ich glaube, dass ich Emils vorwurfsvollen Blick heute nicht ertragen würde, wenn ich wieder zu spät käme, raffe ich mich irgendwann auf.

Es ist 16.40 Uhr, als ich in der Kita ankomme. Andy müsste seit genau zehn Minuten weg sein. Emil sitzt wie üblich vor der großen Wanduhr und starrt auf die Zeiger. Als er mich sieht, springt er auf, ruft freudig »abgeholt!« und rennt strahlend auf mich zu. Der Moment unserer kurzen Umarmung gibt mir Kraft, sodass es mir sogar gelingt, sein Lächeln zu erwidern.

Zu Hause überlasse ich die Kinder sich selbst, kauere mich in Gwenaels versifften Sessel und aktualisiere auf meinem Handy immer wieder mein E-Mail-Postfach. Zwei E-Mails bekomme ich: eine Werbemail und die Nachricht einer Mutter aus Désirées Klasse, die uns andere Eltern darüber informiert, dass ihre Tochter Läuse hat. Doch die ersehnte Nachricht von Fair^Made bleibt wie erwartet aus.

Um 19 Uhr tippelt Désirée in die Wohnküche und stellt sich vor mich.

»Mama«, sagt sie, »kannst du uns was zu Essen machen?«

Als wir später alle zusammen wie jeden Freitag auf den Matratzen liegen, schlafen die Kinder schnell ein. Ich hingegen liege noch lange wach und denke an Viktoria König. In meiner Fantasie kann ich sie sehen, dort, auf ihrer Seite des Lebens. Ich stelle mir vor, dass sie jetzt mit Freunden oder Kollegen in einem netten Restaurant des modernen Berlins sitzt. Vielleicht tauschen sie sich darüber aus, wie sie der Welt weiter Gutes tun können. Oder wo sie ihren jeweiligen Sommerurlaub verbringen werden. Vielleicht hat Viktoria auch einen Freund, liegt in dessen Armen und vergisst für den Moment ihre enorme Verantwortung als Chief Marketing Officer von Fair^Made. Egal, was sie wirklich gerade macht, ich weiß, dass sie fröhlich ist. Nicht kindlich fröhlich wie Désirée. Fröhlich-zuversichtlich, weil sie genau weiß, was sie heute geleistet hat, dass sie allen Grund hat, sich gut zu fühlen. Weil sie kontinuierlich daran arbeitet, die Welt zu verbessern, und weil sie heute – oder vielleicht schon vor ein paar Tagen – irgendwem einen neuen Job als Executive Assistant bei Fair^Made gegeben hat.

Aber nicht mir. So gut ich sie auch vor meinem inneren Auge sehen kann, weiß ich, dass das nicht auf Gegenseitigkeit beruht. Es ist, als wäre zwischen ihrer und meiner Seite des Lebens eine Scheibe, die von ihrer Seite verspiegelt ist: Wenn ich auf die Scheibe blicke, sehe ich hindurch. Ich sehe, wie sie auf der anderen Seite lacht, ein veganes Mahl genießt oder sich in den Armen eines gewiss sehr attraktiven jungen Mannes räkelt. Doch wenn sie auf diese Scheibe blickt, sieht sie nur ihr schönes Spiegelbild und nicht mich, die ich sehnsüchtig ebenfalls das betrachte, was um sie geschieht und für mich unerreichbar ist.

Ich greife ein letztes Mal nach meinem Handy. 21.25 Uhr steht auf dem Display. Ich öffne die E-Mail-App und aktualisiere mein Postfach. Als wieder nichts geschieht, kann ich mich nicht kontrollieren und breche in Tränen aus. Mir wird klar, wie sehr ich immer noch auf ein Wunder gehofft habe. Aber Wunder passieren nicht in meiner Welt. Ich fühle mich wertlos und unwürdig. Nicht mal als Assistentin für eine zehn Jahre jüngere Frau bin ich gut genug. Meine Verzweiflung übermannt mich, bricht aus mir hervor, und ich schluchze unkontrollierbar. Ich weine ob der Ungerechtigkeit, dass einige so viel haben und ich fast nichts, dass einige so glücklich sein dürfen, und ich mir permanent Sorgen machen muss. Sorgen, wie es weitergehen soll. Sorgen, wie ich meinen Kindern das bieten kann, was sie brauchen, damit sie irgendwann ohne diese Sorgen leben können. Sorgen, die ich nur ausblenden kann, indem ich mich weigere, an die Zukunft zu denken. Natürlich sind das keine neuen Erkenntnisse. Doch jetzt, wo ich es eine Woche lang gewagt habe, von einem anderen Leben zu träumen, schmerzen sie mich besonders.

»Was ist mit dir, Mama?«, fragt eine Stimme.

Es ist Gwenael. Er kriecht zu mir und nimmt mich in seine Arme.

»Warum bist du traurig?«, fragt er, nachdem er seinen Kopf auf meine Brust gelegt hat.

Ich atme ein paarmal tief durch, versuche, mich wieder unter Kontrolle zu kriegen.

»Mach dir keine Sorgen«, sage ich schließlich. »Ich glaube, ich bin nur müde.«

Ich denke, er weiß, dass ich schwindle.

Eine Partie Monopolygamie

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