Читать книгу Eine Partie Monopolygamie - Kolja Menning - Страница 15

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Kapitel 7

Viktoria König empfängt mich persönlich. Mehr noch als in meiner Erinnerung ist sie in meinen Augen die perfekte Businessfrau. Schlank, elegant, das Haar hochgesteckt, sodass es weder zu informell noch zu streng aussieht. Über ihre Brüste spannt sich ganz leicht eine helle Bluse, deren oberste zwei Knöpfe offen sind, sodass zwar der Ansatz ihres Dekolletés sichtbar ist, aber kaum tiefere Einblicke möglich sind. Wie beim Interview ist sie dezent geschminkt, und als sie mir die Hand reicht und mich anlächelt, werden ihre strahlend weißen Zähne sichtbar. Ich bin sehr froh, dass ich mich heute Morgen entschieden habe, trotz des bei Fair^Made gepflegten legeren Kleidungsstils meine beste Kleidung zu tragen.

»Hallo Clara! Ich freue mich, dass du da bist!«, begrüßt sie mich herzlich, und ich stelle fest, dass sie mich nun duzt.

»Ich freue mich auch, hier zu sein«, entgegne ich und ergreife ihre Hand.

»Komm! Als Erstes zeige ich dir, wo wir sind«, erklärt Viktoria, während wir durch einen Flur schreiten. »Dann stelle ich dich ein paar Leuten vor. Um zehn habe ich einen Termin; ich habe Valentina gebeten, dich dann ein bisschen rumzuführen und mit dir deinen Computer und dein Handy bei der IT abzuholen. Die werden dir dann auch helfen, deine Geräte einzurichten, dir ein bisschen was zur Vertraulichkeit von Daten erzählen und so weiter. Anschließend kannst du dich etwas an deinem Arbeitsplatz einrichten. Ich habe dir schon eine Onboarding-E-Mail geschickt, die dir in den ersten Tagen hoffentlich ein nützlicher Leitfaden sein wird. Um 12.30 Uhr würde ich gern mit dir zu Mittag essen. Ich hoffe, das passt für dich. Ich möchte dir ein bisschen mehr zu Fair^Made erzählen. Anschließend habe ich Zeit. Dann kann ich dir meine Rolle etwas besser erklären, dir zeigen, wie ich arbeite, denn das wird dir helfen, deine Rolle besser zu verstehen. OK?«

Ich nicke, überwältigt von all dem.

»Gut«, findet Viktoria und lächelt wieder. »Hier sind wir auch schon.«

Wir treten in ein Großraumbüro, in dem etwa die Hälfte der Schreibtische unbesetzt ist. Auf fast allen stehen ein oder zwei Monitore, vereinzelt sehe ich Packungen mit Teebeuteln, die ein oder andere Topfblume, ein paar Poster, in der hinteren Ecke die Nationalflaggen unterschiedlicher Länder. An den Wänden hängen Whiteboards, auf denen Unterschiedliches geschrieben steht.

»Das ist mein Platz«, erklärt Viktoria und deutet auf einen Schreibtisch, der nicht anders ist als alle anderen.

»Und hier sitzt du«, fährt sie fort und zeigt auf den Schreibtisch direkt neben ihrem, wo einzig ein großer Bildschirm steht. Anschließend stellt sie mich ein paar Leuten vor, die in der näheren Umgebung sitzen. Da sind Leute aus Russland, den USA, Spanien, Italien und natürlich Deutschland. Schnell wird mir klar, dass die meisten noch weit unter dreißig sind und ich komme mir vor wie eine Oma.

Neben dem Marketing-Team sitzt hinter einer Schrankwand das Finance-Team.

»Wir finden es praktisch, dass Marketing und Finance so nah beieinander sitzen«, erklärt mir Viktoria. »Wir wollen immer Geld ausgeben, Finance achtet darauf, dass wir damit nicht übertreiben.«

Sie lacht, als hätte sie einen Witz gemacht, und etwas unsicher lächele ich auch.

»Das Finance-Team hat montags morgens immer sein Teammeeting, deswegen ist jetzt niemand da«, fährt meine neue Chefin fort.

Wir gehen weiter.

»Auf der anderen Seite von Finance findest du das Category Management«, geht meine Führung weiter. »Wir fassen da den Einkauf und die Qualitätssicherung in einem Team zusammen. Das hier ist Patricks Schreibtisch. Patrick leitet das Category Management, ist aber vermutlich im Moment bei Lieferanten.«

Mein Blick fällt auf den Playmate Calendar 2019, der unübersehbar neben Patricks Schreibtisch an der Wand hängt.

»Solltest du je Lust haben, den Playboy zu lesen, frag Patrick«, sagt Viktoria trocken, als sie meinen Blick sieht.

»Wenn ich meine Probezeit bestanden habe, werde ich darüber nachdenken«, sage ich, und auf Viktorias Gesicht erscheint wieder dieses verhohlene Grinsen, das ich schon aus dem Interview kenne.

Die im Category Management anwesenden Kollegen stellen sich vor, erklären mir, was sie bei Fair^Made tun, und heißen mich willkommen.

»Ah, da ist ja auch Anna!«, sagt Viktoria plötzlich. »Hey Anna, kann ich dir jemanden vorstellen?«

Eine junge Frau mit dunklem Haar kommt mit wogendem Busen auf uns zu.

»Clara, dies ist Anna. Anna ist Patricks Executive Assistant. Sie leistet großartige Arbeit«, sagt Viktoria und schenkt der jungen Frau ein warmes Lächeln. »Anna hat mich überzeugt, dass wir auch im Marketing jemanden wie sie brauchen könnten. Anna, dies ist Clara. Unsere neue ExAs.«

Ich schüttele Anna die Hand und komme nicht umhin zu bemerken, dass wir wohl kaum unterschiedlicher sein könnten. Anna ist allerhöchstens fünfundzwanzig, ihr Gesicht ist weich, ihre Kleidung teuer und ihre Absätze sind so hoch, dass ich nicht darauf laufen könnte. Mir zwingt sich der Eindruck auf, dass sie aus einem gut betuchten Elternhaus kommen muss und die Blase des Wohlstands, die sich auch im modernen Berlin immer mehr ausbreitet, noch nie verlassen hat. Kurz: Ich wette, dass sie das echte Leben – oder zumindest das, was ich als solches bezeichne – nicht kennt.

»Willkommen im Team!«, sagt Anna mit sanfter Stimme und lächelt mich freundlich an. »Gut, dass du da bist. Es wird Zeit, dass Vicky jemand unter die Arme greift.«

Wir besuchen das Design Team, ein Team, das sich mit Business Intelligence befasst – auch wenn ich nicht verstehe, was diese Leute tun – und schließlich das Human Resources Team, wo mich Viktoria an Valentina Alonso übergibt.

Nachdem wir ein paar Formalitäten erledigt haben, stellt mir Valentina im Detail die Mitarbeiter-Benefits von Fair^Made vor. Anschließend begeben wir uns zum IT-Helpdesk.

»Oli will help you with your equipment«, stellt Valentina mich einem jungen Mann vor, der als erster Mitarbeiter von Fair^Made wie ein waschechter Berliner aussieht. Die Seiten seines Schädels sind rasiert, er trägt einen Ring in der Nase, unter dem schwarzen T-Shirt lugen tätowierte Arme hervor und er lächelt nicht, als er mich sieht.

»Moin«, sagt er stattdessen in einem Ton, der bestenfalls als gleichgültig bezeichnet werden könnte. Er ist mir sofort sympathisch.

»Hi«, erwidere ich und lächle. »Ich bin Clara.«

»Haste ooch ‘n Nachname?«

»Nussbaum. Clara Nussbaum.«

»Na, wat nu? Nussbaum oder Clara Nussbaum?«

»Ich bin sicher, das kriegst du raus«, entgegne ich. Mit solchen Leuten kann ich umgehen.

»Schon jut. Also, ‘n Computer willste? Ach, und ‘n Telefon ooch, steht hier. Bist wohl ‘ne janz Wichtige, wie?«

Das glaube ich kaum, denke ich.

»Muss wohl so sein«, sage ich.

»Na jut«, meint Oli. »Also, hier steht, empfohlen: MacBook Pro, aber wenne unbedingt ‘ne Windows-Maschine willst, jeht dit ooch.«

Ein MacBook Pro??

»Also?«, fragt er.

»Das MacBook ist in Ordnung«, erwidere ich.

»Jute Wahl. Und dazu ‘n iPhone oder lieber Android? Da hätt’ ick im Moment nur ‘n Sony. Is’ aber ‘n jutet Jerät.«

»Was empfiehlst du mir denn?«, frage ich und sehe ihm an, dass er sich geschmeichelt fühlt, dass mich seine Empfehlung interessiert.

»Also, ick denk’ du solltest dit iPhone nehmen«, sagt er, nachdem er mich einen Moment lang gemustert hat.

»Dann nehm’ ich das Sony«, entgegne ich und lächle unschuldig.

Und da verzieht sich auch sein Gesicht zu einem Grinsen.

In den nächsten zwanzig Minuten richtet Oli mir auf dem Computer und dem Smartphone mein Fair^Made-E-Mail-Postfach ein, installiert auf dem Sony irgendwelche Apps und erzählt von Verschlüsselungen, wovon ich kaum etwas verstehe.

»Noch Fragen?«, will Oli schließlich wissen.

Ich schüttele den Kopf, um mir jetzt noch keine Blöße zu geben.

»Jut. Dann bekomm’ ick hier und hier ‘n Autogramm«, sagt er und legt mir zwei Formulare hin.

Ich unterschreibe.

»Allet klar, dann jehört deen Auto jetzt also mir.«

»Was?«

»Junge Frau«, sagt er, und ich muss innerlich lachen. Die Anrede wird bei Fair^Made wohl Seltenheitswert behalten. »So schnell kannste dit jar nich’ jelesen haben. Man sollte immer lesen, wat man unterschreebt.«

»Ich habe aber gar kein Auto«, entgegne ich.

»Ach«, meint er ärgerlich, »viel Humor wohl ooch nich’.«

Und in seinem normalen Tonfall fügt er hinzu: »Also jut. Dit sind nu’ deine Jeräte, OK? Damit kannste machen, watte willst. Aber die werden von Fair^Made jemanagt, klar? Will sagen, wenn de uff dit Smartphone paar Spiele installieren willst ...«, er unterbricht sich, mustert mich erneut und fährt dann fort, »na, machste wahrscheinlich eh nich’. Wär’ aber OK. Aber uff dit Computer Pornos angucken, würd’ ick ...« Wieder starrt er mich an. »Ach, verjiss et.«

... nicht empfehlen, wollte er seinen Satz vermutlich beenden, doch er scheint mir nicht zuzutrauen, dass ich überhaupt auf den Gedanken kommen könnte. Obwohl er damit absolut recht hat, versetzt die Erkenntnis mir einen kleinen Stich.

»Danke«, sage ich.

»Und falls irjendwat is’, ick bin hier«, sagt Oli noch.

Valentina, die zwischenzeitlich furios auf ihrem Laptop – keinem MacBook Pro – herumgehackt hat, bringt mich zurück zu meinem Arbeitsplatz, wo sie mich alleinlässt. Es ist zwölf; ich habe eine halbe Stunde vor dem Mittagessen mit meiner neuen Chefin. Vorsichtig öffne ich den edlen Computer. Zu meiner Überraschung habe ich bereits sechs ungelesene Nachrichten. Eine ist die Einladung zum heutigen Lunch mit Viktoria, zwei weitere sind ebenfalls Einladungen zu irgendwelchen Terminen in den kommenden Tagen, die ich annehme. Dann ist da eine E-Mail mit dem Betreff »Test« von einem gewissen Oliver Bender – Oli aus der IT –, eine Nachricht mit Betreff »Welcome to Fair^Made« von einem mir bisher unbekannten Peter Sauer, die ich vorerst ignoriere, um zuerst die »Your Onboarding« betitelte Nachricht von viktoria.koenig@fair-s-made.com zu öffnen. In dieser finde ich erneut herzliche Willkommensgrüße, ein paar praktische Hinweise und vor allem eine Menge Links zu »a few useful resources for your first months at Fair^Made«.

Weil ich die Namen vieler der heute getroffenen Kollegen längst wieder vergessen habe, öffne ich eine Intranetseite mit Organigrammen, die die obersten drei Hierarchieebenen aller Abteilungen abbilden. Bis 12.30 Uhr verbringe ich damit, durch die unterschiedlichen Teams zu surfen. Das Erste, was ich erfahre, ist, dass Peter Sauer einer von zwei Geschäftsführern ist. Er ist CEO und damit Viktorias Chef.

Wow! Der CEO höchstpersönlich hat mir eine Willkommensnachricht geschrieben, stelle ich fest.

Peter Pratt ist der Finanzchef. Der Chef des Category Managements mit dem Playmate-Kalender heißt Patrick Landsberger. Patrick, der Playboy. Ich bin gespannt, wie er wohl ist. Ich bin angenehm überrascht, dass alle weiteren Rollen im Führungsteam von Frauen besetzt sind. Da ist eine Lena Persson – Chief Innovation Officer (CIO) und Chief Operations Office (COO) in einer Person. Sie kenne ich von meinen Recherchen zu Fair^Made. Sie ist Mitgründerin des Unternehmens und die zweite Geschäftsführerin. Unter ihr hängen Annapurna Khan – Head of Operations – und Yukiko Osaka – Head of Innovation & Design. Chief People Officer (CPO) ist Natalya Koulakova, die Valentinas Chefin zu sein scheint. Ein sehr internationales Team.

Viktoria erscheint pünktlich um 12.30 Uhr.

»Ah, du hast den Mac genommen«, stellt sie fest. »Gute Wahl. Wollen wir?«

»Ist es dir recht, wenn wir Italienisch essen?«, fragt mich Viktoria, als wir das Gebäude verlassen.

»Gern«, antworte ich. Mir ist alles recht. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal zum Mittagessen in einem Restaurant war.

»Wie fühlst du dich bisher?«, will Viktoria wissen, während wir durch ein paar kleine Straßen schlendern.

»Super«, sage ich wahrheitsgemäß. »Natürlich sind es viele Leute, viele Namen, aber alle scheinen mir sehr nett und hilfsbereit.«

Viktoria nickt. »Das ist unsere Kultur«, erklärt sie. »Hilfsbereitschaft ist uns sehr wichtig. Die meisten von uns sind recht jung; kaum jemand hat zehn Jahre Erfahrung in dem, was er tut. Wenn wir uns nicht gegenseitig helfen würden, stünden wir auf verlorenem Posten. Ich ermutige dich, davon auch Gebrauch zu machen. Wenn du Fragen hast, frag. Egal wen.«

»OK«, sage ich.

»Ich wollte dir in groben Zügen erklären, wie Fair^Made funktioniert«, beginnt Viktoria, nachdem wir bestellt haben. »Mir ist sehr wichtig, dass du das verstehst. Erstens legen wir bei Fair^Made viel Wert darauf, dass jeder weiß, was er oder sie zum großen Ganzen beisteuert. Die meisten von uns brauchen eine Purpose, um mit dem, was sie tun, glücklich zu sein.«

Dieser Gedanke ist mir noch nicht gekommen. Mir geht es hauptsächlich darum, ein deutlich komfortableres finanzielles Auskommen zu haben, als es in den letzten Jahren der Fall war. Ich würde für fünfzigtausend Euro plus Bonus und dreißig Tage Urlaub im Jahr auch vierzig Stunden in der Woche Briefe sortieren oder Fotokopien machen. Doch ich nicke. Wenn es bei Fair^Made so ist, wie Viktoria beschreibt, ist es mir recht.

»Zweitens – und dies ist ein deutlich egoistischerer Grund«, fährt sie mit einem Lächeln fort, »bin ich überzeugt, dass du einen deutlich besseren Job machen können wirst, wenn du Fair^Made verstehst. Und je besser du deinen Job machst, desto besser für mich.«

»Das ist auch in meinem Interesse«, beeile ich mich zu sagen.

»Gut«, findet sie. Und dann legt sie los.

Sie erzählt, dass Fair^Made im Jahr 2012 in Berlin von Lena Persson und David König gegründet wurde. Das hatte ich schon gelesen, als ich mich auf das Interview vorbereitet habe. Lena Persson habe ich in dem Organigramm gesehen. David König taucht da jedoch nicht auf. Obwohl Viktoria mich noch vor wenigen Minuten ermutigt hat zu fragen, wenn ich etwas nicht weiß, tue ich dies nicht. Mein Gefühl sagt mir, dass ich wissen sollte, was aus David König geworden ist, und ich will mich nicht am ersten Tag blamieren – zumal er denselben Nachnamen trägt wie Viktoria. Nicht dass es da irgendein Fettnäpfchen gibt.

Viktoria kommt kurz auf die Vision Fair^Mades zu sprechen, durch nachhaltige Mode – wenn auch nur eine kleine Nische im Modemarkt – die Welt ein kleines bisschen besser zu machen. Sie erinnert daran, dass wir uns darüber bereits im Bewerbungsgespräch ausgiebig unterhalten haben, und kommt schnell zu anderen Themen. Ich erfahre, dass Fair^Made einen Teil der Produkte nur designt – Lena Perssons Fachgebiet –, und dann von Zulieferern einkauft – Patrick Landsbergers Verantwortung. Dabei wird nicht nur darauf geachtet, dass die Lieferanten den hohen Nachhaltigkeitsstandards von Fair^Made genügen, sondern auch, dass CO2-Emissionen während des Produktionsprozesses und der Transportwege möglichst niedrig sind. Die meisten Zulieferer befinden sich daher in Europa. Da Fair^Made zu Beginn hauptsächlich extern produzieren ließ, waren Qualitätskontrolle und Marketing, um die Marke zu gestalten, besonders wichtig. Seit einigen Jahren bemüht sich Fair^Made verstärkt, eine eigene Produktion aufzubauen. Dies scheint ganz gut zu funktionieren, dauert aber. Auch dafür ist Gründerin Lena Persson verantwortlich. Verkauft werden Fair^Made-Produkte über alle üblichen Kanäle: Stationären Handel, Online-Händler und einen eigenen Online-Shop, der jedoch hauptsächlich ein Marketinginstrument ist, um Innovationen und neue Produkte zu präsentieren und die Marke zu schärfen. Der Umsatz des Online-Shops ist vernachlässigbar.

Während sie erzählt, fallen zahllose Begriffe, die ich nicht verstehe. Viktoria redet von Performance Marketing, Merchandising, Brand Awareness, Marketingkanälen, der Herausforderung einer effizienten Budgetallokation, sie redet von Marktstudien und unterschiedlichen Kundensegmenten, die es auf möglichst personalisierte Weise zu targeten gilt. Diese Kundensegmente haben lustige Namen: Da sind zum Beispiel die Caring Housewives, die Bernie Sanders Ecos oder die Fashionable Bohemians, eine Gruppe, die ich besonders spannend finde, weil ich darunter die wachsende Gruppe wohlhabender und tendenziell recht junger Berliner verstehe, die stets Bio kaufen und sich oft vegetarisch oder sogar vegan ernähren. Ich verdächtige auch meine neue Chefin, in diese Gruppe zu fallen – nicht nur, weil sie einen eindeutig veganen Salat bestellt hat. Je mehr sie jedenfalls erzählt, desto mehr festigt sich mein Eindruck, dass Viktoria sehr genau versteht, wovon sie redet.

Als das Essen serviert wird, bekomme ich eine Pause, um das Gehörte zu verarbeiten. Nachdem sie das letzte Salatblatt verspeist hat und ihr Besteck säuberlich auf den Teller gelegt hat, fährt Viktoria fort:

»Ich weiß, dass das alles sehr viel für dich ist. Es ist unmöglich, dass du alles behältst oder sogar verstehst. Mir ist es nicht anders gegangen, als ich vor fünf Jahren hier angefangen habe – und damals war Fair^Made noch deutlich kleiner! Aber du wirst sehen, das kommt mit der Zeit. Ich kann dich nur immer wieder ermutigen, zuzuhören und Fragen zu stellen. OK?«

Als wir wieder im Büro sind, setzen wir uns gemeinsam an meinen Computer.

»Pass auf«, sagt Viktoria, »jetzt zeige ich dir das Wichtigste. Wir werden dir auf deinem Computer auch mein E-Mail-Postfach einrichten. Damit bekommst du Zugang zu all meinen Mails und vor allem meinem Kalender. Ich erwarte nicht, dass du alle meine E-Mails liest, dazu wirst du auch gar keine Zeit haben. Darfst du aber schon.«

Sie lächelt. »Deswegen ist das Thema Vertraulichkeit so wichtig. Über das, was du in meinen E-Mails liest, darfst du mit niemandem außer mir reden. Solltest du bemerken, dass ich potenziell wichtige E-Mails nicht öffne oder beantworte, bin ich dir dankbar, wenn du mich darauf aufmerksam machst. Es kann durchaus sein, dass mir hin und wieder mal was durchrutscht. Aber dein Hauptaugenmerk sollte auf meinem Kalender liegen. Ich werde auch weiterhin einige Termine selbst erstellen – aber die Organisation aller größeren Termine, ob intern oder extern, ist ab sofort deine Verantwortung. Das mag sich leicht anhören, ist es aber nicht immer, denn ich habe zu viele Termine. Außerdem ist mir sehr wichtig, dass ich jeden Tag dreißig Minuten für eine Mittagspause habe – nicht vor zwölf und nicht nach zwei – und keine Meetings vor 8 Uhr und nach 20 Uhr. Das Allerwichtigste ist, dass ich jeden Tag zwei Stunden ohne Meetings habe, um selbst produktiv zu sein. Ausnahmen sind Tage, an denen ich auf Dienstreise bin oder Ganztagesworkshops habe. Es wird immer wieder Leute geben, die unbedingt sofort Zeit mit mir brauchen. Selbst wenn das Peter ist – wenn ich keine Zeit habe, bitte ich dich, keine Termine zuzulassen, ohne mit mir Rücksprache gehalten zu haben. Alles klar?«

Ich nicke.

»Gut«, fährt sie fort. »Reisen. Sobald eine Reise feststeht, solltest du dich um die Organisation kümmern. Dabei ist erste Priorität Nachhaltigkeit. Nur wenn eine Zugreise aufgrund der Entfernung nicht möglich ist, fliege ich. Im Zug fahre ich zweiter Klasse, geflogen wird nur Economy.«

Wieder nicke ich.

»Es gibt jede Woche zwei wichtige Meetings«, kommt Viktoria zum nächsten Thema. »Erstens: das Marketing-Team-Meeting jeden Mittwoch um 10 Uhr. In dem Meeting sehen wir auf die Geschäftszahlen der vergangenen Woche und kommentieren sie, außerdem werden Updates zu wichtigen Projekten oder Kampagnen gegeben. Hin und wieder wird auch die ein oder andere persönliche Ankündigung gemacht. Du solltest unbedingt teilnehmen und ich ermutige dich, dies aktiv zu tun. Das zweite wichtige Meeting ist das Executive Leadership Meeting, ELM. Mittwochabend 18 Uhr bis 19 Uhr. Dieses Meeting ist für dich nicht relevant, aber es darf auf keinen Fall etwas anderes parallel liegen. Ausnahmen sind Urlaub oder Dienstreisen, die ich selbst entscheide.«

»Selbstverständlich«, sage ich.

»Gut. Für den Rest des Tages empfehle ich dir, dich mit all diesen Themen so vertraut wie möglich zu machen. Morgen hast du eine Einführung zum Arbeiten bei Fair^Made mit Lena. Wir legen sehr viel Wert darauf, dass bei Fair^Made jeder Mitarbeiter – oder ›Fair^Maker‹, wie wir uns nennen – weiß, welche Werte wir haben, welche Verhaltensweisen wir schätzen und welche nicht. Letztendlich sind wir alle ein großes Team. Wir verfolgen unsere Mission gemeinsam. Deswegen lässt es sich Lena auch nicht nehmen, diese Trainings selbst zu machen. Es ist auch eine Gelegenheit, unsere Gründerin persönlich kennenzulernen. Das hat daher allerhöchste Priorität. OK?«

Ich nicke.

»Noch ein grundsätzlicher Tipp«, sagt Viktoria. »Hilfsbereitschaft ist zwar eins der obersten Gebote für jeden Fair^Maker – dennoch, je besser du im Unternehmen verdrahtet bist, desto leichter wird dir Vieles fallen. Sei also offen für andere und nimm dir Zeit, um ein Netzwerk zu bauen. Auch über das Marketing hinaus. Organisier dir gelegentlich ein Lunch oder eine Kaffeepause mit Kollegen. Fast alle hier sind auch sehr nett.«

Sie lächelt, und ich nicke erneut.

Es ist 18 Uhr, als Viktoria von diversen Terminen zurückkehrt.

»Du bist immer noch da«, stellt sie fest und schenkt mir ein Lächeln. »Du solltest nach Hause gehen. An den ersten Tagen sind es immer so viele Eindrücke, da braucht man Pausen und auch Zeit, alles zu verarbeiten.«

»Es ist sehr nett, dass du das sagst«, erwidere ich. »Danke. Es sind wirklich viele Informationen, aber ich bin froh, hier zu sein.«

»Ich bin sicher, wir werden sehr gut zusammenarbeiten«, meint Viktoria.

Woher sie das wissen will, weiß ich nicht. Und auch wenn der erste Tag gar nicht so schlecht war, habe ich meine Zweifel. Ob ich dem allen hier gewachsen bin, muss sich erst noch zeigen.

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