Читать книгу Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch - Страница 12
Ursachen der Expansion
ОглавлениеEuropas Expansion nach Übersee hatte im 15. Jahrhundert mit wagemutigen Forschungsreisenden wie Vasco da GamaGama, Vasco da begonnen. Portugiesische und spanische Seefahrer machten den Anfang, später kamen niederländische, britische und französische hinzu. Diese erste Welle des Kolonialismus beschränkte sich im Großen und Ganzen auf Küstengebiete und war kommerziell motiviert; private Firmen mit besonderen Konzessionen wie die Niederländische Ostindien-Kompanie trieben sie voran. Hauptsächlich ging es um Edelmetalle wie etwa Silber, die in Europa knapp wurden, oder um Gewürze, Tee und Kaffee, die in der Heimat nicht wuchsen. Ein großer Teil handelte mit unfreiwilliger Arbeit; Menschen wurden zu Sklaven gemacht, weil man billige Kräfte für die Bodenbewirtschaftung in Plantagen auf den karibischen Inseln und dem amerikanischen Kontinent brauchte. In den gastlicheren Regionen Nordamerikas und AustraliensAustralien, deren Klima gemäßigt war und in denen es keine Seuchen wie Malaria gab, entwickelten sich auch Siedlerkolonien, die religiöse Dissidenten, landhungrige Bauern und kriminelle Outlaws anzogen.1 Dieser frühe Kolonialismus errichtete riesige transozeanische Imperien; aber als etwa im ersten Drittel der 19. Jahrhunderts der Freihandel aufkam und mit Sklaven keine Geschäfte mehr gemacht werden durften, war seine Energie weitgehend verbraucht.
Seit den 1870ern entwickelte sich ein neuer Imperialismus, getragen von der Dynamik der europäischen Modernisierung. Er baute zwar auf früheren Trends auf, doch intensivierte er das territoriale Vordringen und den Herrschaftsanspruch. Der Terminus »Imperialismus« war ursprünglich geprägt worden, um die abenteuerliche Politik Napoleons III. Napoleon III.zu kritisieren, dessen Großmachtgebaren sich im Bau des SuezkanalsSuezkanal äußerte. Kaum war aber der verkürzte Seeweg nach IndienIndien eine »Lebensader des britischen Weltreichs« geworden, bekam das Wort einen positiveren Klang. Während des nun einsetzenden »Wettlaufs um Afrika« teilten die europäischen Mächte den Kontinent untereinander auf; den Verlauf der Grenzen legten sie in der BerlinerBerlin Kongo-Konferenz 1884/85 fest. Der neue Imperialismus, der sich dabei formierte, sollte sich vom Kolonialismus älteren Musters unterscheiden. Zwar trieben auch ihn Wissenschaftler, Missionare und Handelsleute als Pioniere voran, doch wurde er sehr rasch von Regierungen für ihre Zwecke übernommen. Entsprechend erhoben sie Ansprüche auf ganze Territorien, statt sich wie zuvor mit den Küstenlinien zu begnügen, weshalb sie weit ins Landesinnere vorstießen und militärische Sicherheits- und bürokratische Herrschaftsapparate errichteten. Diese eher invasive Form der Machtausübung erlaubte es Plantagenbesitzern, Bergbauunternehmen, Finanzinvestoren und Schifffahrtsgesellschaften, ihren Profit künftig im Rahmen der europäischen Hegemonie zu erwerben.2
In den 1920ern versucht der amerikanische Politologe Parker T. MoonMoon, Parker T. das Wesen dieses »neuen Imperialismus« näher zu bestimmen, indem er dessen politische Aspekte hervorhebt. Er definiert ihn als »Ausdehnung der politischen oder ökonomischen Kontrollmacht eines Staates auf einen anderen, in Kultur oder Rasse vom ersteren verschiedenen, mit Hilfe eines Ideenkorpus, der diesen Schritt rechtfertigen soll«. Jene klassische Definition hält also nicht die ökonomische Ausbeutung für den Hauptfaktor, sondern betont, dass zum neuen Imperialismus eine direkte oder indirekte Form von Herrschaft, kulturelle und rassische Unterschiede sowie eine die Expansion propagandistisch stützende Rhetorik gehörten. Eine jüngere Definition malt ein komplexeres Bild: »Charakteristische Merkmale eines Imperiums waren enorme Größe, ethnische Diversität, das Bestehen aus vielen Einzelterritorien als Ergebnis in der Vergangenheit erfolgter Abtretungen oder Eroberungen, besondere Formen übernationaler Macht, veränderliche Grenzen, ein Fluktuieren der Landeshoheit in den Randgebieten und schließlich ein Geflecht aus interaktiven Beziehungen zwischen den imperialen Zentren und den Peripherien«. Diese Beschreibung hat den Vorteil, dass sie nicht nur die maritimen Imperien wie das Großbritanniens umfasst, sondern auch die landgestützten autoritären Imperien Russlands, des Osmanischen Reichs und Österreich-Ungarns.3
Dass Europa seine Expansion nach Übersee und seine Praxis der territorialen Eroberungen wieder aufgriff, wurde durch mehrere komplementäre Aspekte der Moderne beschleunigt. Ein oft übersehenes Motiv war wissenschaftliche Neugier. Man wollte die Geografie unbekannter Regionen erkunden – denken wir an David LivingstonesLivingstone, David Versuche, die Quellen des Nils zu entdecken – und die dort vorhandenen Ressourcen kartografieren, um sie dann ausbeuten zu können. Ingenieure reizte die Herausforderung, in schwierigem Gelände Häfen, Brücken, Bahngleise, Telegrafenleitungen und Kanäle zu errichten, kurz: die widerspenstige Natur zu zähmen. Den Europäern sollte so ermöglicht werden, ihre neuerworbenen Gebiete auch zu durchdringen und von ihnen zu profitieren.4 Ferner entwickelte sich eine neue wissenschaftliche Disziplin, die Ethnologie. Anhand repräsentativer Objekte und Subjekte studierte man fremde Kulturen, die man für »primitiver« hielt als die eigene; man beschrieb ihre seltsamen Gebräuche und sammelte ihre religiösen und weltlichen Artefakte. Diese Anthropologen brachten Produkte und manchmal sogar Menschen aus exotischen Ländern mit nach Hause und zeigten sie in eigens dafür etablierten neuen Museen. Die europäischen Besucher konnten sie und ihre seltsamen Gebräuche dort bestaunen – und sich ihnen überlegen fühlen.5
Ökonomische Interessen spielten zweifellos auch eine wichtige Rolle. Sie trieben Abenteurer in fremde Länder, wo sie ein Vermögen zu machen hofften. Als die Massenproduktion aufkam, suchten Branchen wie die Textilindustrie neue Märkte außerhalb Europas, denn die kargen Löhne, die man den Arbeitern daheim zahlte, hielten den Konsum niedrig. Neue technologische Entwicklungen wie die Elektrizität und das Automobil erforderten außerdem Rohstoffe, die man auf dem Alten Kontinent nicht bekam, etwa Kupfer für Kabel oder Kautschuk für Fahrzeugreifen. Außerdem vermehrte die Verbreitung des Wohlstands das verfügbare Kapital der Spekulanten, die fest entschlossen waren, dort zu investieren, wo die Rendite das Doppelte oder Dreifache dessen betragen konnte, das sich zu Hause erzielen ließ, auch wenn dies ein erheblich größeres Wagnis darstellte. Solche Anreize motivierten Geschäftsleute, Plantagen oder Bergwerke einzurichten, in denen Weiße die Aufsicht führten und Einheimische rücksichtslos um des Profits willen ausgebeutet wurden. Für die Verbraucher in den europäischen Metropolen lagen nun Importgüter wie Kaffee, Tee, Bananen, Orangen und Kakao als »Kolonialwaren« zum Kauf bereit.6 Da der Aufbau der notwendigen Infrastruktur teuer war, operierten die meisten Kolonien mit öffentlichen Geldern, um privaten Gewinn zu fördern.
Etwas weniger klar ist, wie die soziale Dynamik des »Aufstiegs der Massen« mit dem Imperialismus zusammenhing. Einerseits fürchtete man sich vor der Überbevölkerung, bedingt durch den rapiden Bevölkerungszuwachs während der letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts, den Hans GrimmsGrimm, Hans Roman Volk ohne Raum (1926) recht dramatisch darstellt. Nicht wenige glaubten, ein besseres Leben zu erlangen, indem sie in die Kolonien emigrierten. Häufig wurden diese Hoffnungen jedoch enttäuscht, da ein solcher Wechsel mit beträchtlichen Härten verbunden war. Und so erfüllten sich die Erwartungen der Regierungen Europas, mit ihren einheimischen Slums per Imperialismus aufzuräumen, nur selten. Andererseits wirkte die Propaganda bestimmter pressure groups wie der Kolonialbünde und Flottenvereine, die Wirtschaftskreise mit bestimmten kommerziellen Interessen finanzierten, etwa Schifffahrtsunternehmen oder Kolonialimporteure. In Plakaten, Pamphleten und Vorträgen malten sie ein leuchtend helles Bild von den Chancen, die das Imperium dem Einzelnen eröffne – er müsse nur zugreifen.7 Und dann nutzten manche europäische Eliten die imperiale Expansion auch noch, um den Druck umzulenken, der von unten auf soziale Reformen sowie politische Partizipation drängte. So konnten sie einem schlichten Proletarier das Gefühl eingeben, mehr wert zu sein als ein fremdländischer Fürst.
Der kulturelle Impetus des neuen Imperialismus war das paradoxe Projekt mit Namen mission civilatrice, »zivilisierende Mission«. Darunter wurden das Recht und die Pflicht verstanden, minderbedarfte Völker auf den europäischen Standard zu heben. Ursprünglich beinhaltete dieses Motiv noch das missionarische Ziel, den Heiden die Segnungen des Christentums zu bringen, damit auch sie eine Chance auf Erlösung erhielten. Die säkulare Version dieses Konzepts, die sich während der Aufklärung herangebildet hatte, schloss zusätzlich die Verbreitung einer vernunftbestimmten Lebensweise ein, für die Europäer der Gipfelpunkt der menschlichen Entwicklung. In seinem Gedicht »The White Man’s Burden« (»Die Bürde des weißen Mannes«) formuliert der britische Autor Rudyard KiplingKipling, Rudyard die klassische ethische Fundierung dieses Bestrebens: Er ruft die jungen Leute unter den Kolonisatoren auf, »den Bedürfnissen eurer Gefangenen zu dienen«. Doch indem er die kolonisierten Völker »halb Teufel und halb Kind« nennt, verrät er tiefsitzende Arroganz und Rassismus. Das widerspricht dem altruistischen Geist des Poems, worin er etwa fordert, man möge die sogenannten Wilden »aus ihrer Knechtschaft« befreien, indem man ihnen Wissen, Gesundheit und Zivilisation bringe. Das Zivilisierungsethos gab zwar vor, eine humanitäre Vision der Moderne zu propagieren. Doch in Wahrheit diente es nur dazu, ein problemloses Funktionieren der Kolonisierten innerhalb des imperialen Systems zu gewährleisten; volle Gleichberechtigung blieb ihnen versagt.8
Noch ein letztes Bündel von Ursachen für den neuen Imperialismus sei genannt. Die Rivalität zwischen den Großmächten trieb bestimmte Länder dazu, mit den anderen um die Wette Kolonien zu erobern und auszubeuten, da sie fürchteten, sie würden sonst abgehängt. Aus der sozialdarwinistischen Sichtweise jener Jahre war die internationale Politik ein Überlebenskampf, der die Regierungen zwinge, jeden vermutbaren Macht- oder Landgewinn eines Nachbarn durch eigene Zuwächse auszugleichen. War ein Imperium einmal installiert, bestand auch die strategische Notwendigkeit der geopolitischen Verteidigung des eigenen Besitzes. Das erforderte Bekohlungsanlagen für die Dampfschiffe der Marine oder die Okkupation weiterer Ländereien, um eine Grenze militärisch abzusichern. 1890 formulierte der amerikanische Admiral Alfred T. MahanMahan, Alfred T. ein überzeugendes Credo zur eminenten Wichtigkeit von »Seemacht«: Imperien wie das britische, argumentierte er, verdankten ihre weltweite Macht ihrer Überlegenheit auf den Ozeanen. Er vertrat somit einen »Navalismus«, der sich bestens in den Imperialismus einpassen ließ. Solche Haltungen verschmolzen zu einer sozialdarwinistischen Vorstellung der nationalen Vitalität, die mit biologischen Metaphern dartat, dass die Zukunft den jungen und wachsenden Nationen gehöre, wogegen die alten und verfallenden das Nachsehen hätten.9
Der Aufstieg des neuen Imperialismus in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts resultierte also aus der Dynamik der europäischen Moderne, die zu weitestmöglicher Expansion drängte. Viele der dabei wirkenden Motive – etwa wissenschaftliche Neugierde, kapitalistische Habsucht und Massenpolitik – waren treibende Kräfte der Modernisierung. Auch waren die meisten Werkzeuge der Herrschaftsergreifung – etwa Dampfer, Eisenbahnen, Telegrafen und Maschinengewehre – neue technische Erfindungen, welche die europäischen Länder schlagkräftiger machten. Dank ihrer See- und Landarmeen konnten sie neue Territorien erobern und dort bürokratische Verwaltungsapparate errichten, die ihnen die Machtausübung sicherten. Die humanitäre Vision einer »Zivilisierung« der Welt war ebenso eine europäische Erfindung, um den ganzen Erdball nach dem eigenen »progressiven« Bild zu formen. Alles in allem machten diese Kräfte den neuen Imperialismus so unaufhaltsam, dass er selbst störrische Traditionalisten wie Fürst Otto von BismarckBismarck, Otto von überrollte. Letzterer hatte zwar geschworen: »Solange ich Reichskanzler bin, betreiben wir keine Kolonialpolitik«.10 Doch das Ergebnis war das Gerangel, das Afrika und den Rest der noch-nicht-modernisierten Welt zerteilen sollte.