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Polarisierende Krisen

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Noch war die internationale Kooperation nicht institutionalisiert. Daher erstaunt es nicht, dass eine Serie diplomatischer Krisen zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Faktoren, die für Feindseligkeiten sorgten, verschärften. Bisher hatte ein System des Gleichgewichts der Kräfte das Ärgste verhindert, und man betrachtete solche Konfrontationen als normalen Teil internationaler Beziehungen: Staaten verfolgten nun einmal konfligierende Interessen durch Verhandlung oder Gewalt, bis sie auf hinreichenden Widerstand stießen – so weit, so üblich. Doch Ziele durchzudrücken, indem man Konflikte riskierte, barg ernsthafte Gefahren, wie nun immer deutlicher wurde. Ungut war, wenn man während einer Krise tüchtig polterte und schwadronierte, das Ergebnis das Publikum dann aber enttäuschte; in dem Fall blieb nämlich selbst noch nach dem Erreichen einer Lösung ein Quantum an Feindseligkeit zurück, das die Bereitschaft der Kontrahenten minderte, sich beim nächsten Mal wieder auf einen Kompromiss einzulassen. Außerdem bedurfte eine Vereinbarung eines mediatorischen Mechanismus, sei es eine internationale Konferenz oder die Vermittlung durch eine oder mehrere unbeteiligte Mächte. Derlei Verhandlungen brachen jedoch zusammen, wenn eine Partei sich weigerte, ins Gespräch zu treten, oder wenn die potenziellen Vermittler selbst in den Konflikt verwickelt waren. Die Häufung der Krisen, die sich in den letzten Jahren vor dem Kriege entwickelten, trug wesentlich dazu bei, dass zwei antagonistische internationale Allianzen entstanden und sich die Fronten zwischen ihnen verhärteten.1

Das imperiale Deutschland rückte nun ab von Bismarcks kompliziertem diplomatischen System und vollführte überstürzt eine »diplomatische Revolution«, die es am Ende isolieren sollte. Bedacht, als Teilnehmer eines Zusammenspiels von fünf Großmächten immer Teil eines Trios zu sein, hatte der Eiserne KanzlerBismarck, Otto von den Zweibund mit Österreich-Ungarn durch ein Geheimabkommen mit Russland ergänzt. Mit diesem sogenannten Rückversicherungsvertrag hoffte er, das nach Vergeltung strebende Frankreich in Schach zu halten, während sich England seiner splendid isolation erfreute. Der junge Kaiser Wilhelm II. Wilhelm II.wollte sich der Vormundschaft dieses vorsichtigen, freilich nicht immer ehrlichen Staatsmanns entwinden und eine »Weltpolitik« auf See betreiben. Der neue Kanzler wiederum, Georg Leo Graf von CapriviCaprivi, Georg Leo von, strebte einen kontinentalen Handelsblock unter Ausschluss des Russischen Reiches an. Das französische Kabinett witterte eine Chance: In der Hoffnung, das verlorene Elsass-Lothringen wiederzubekommen, bot es der zaristischen Regierung ein Bündnis an. Dass Letzterer der Sinn danach stand, ließ sich vermuten, denn es hatte Russland tief getroffen, dass Deutschland den genannten Pakt nicht verlängern mochte. Das Zarenreich war zudem zornig darüber, dass es auf dem BalkanBalkan von Österreich blockiert wurde. 1892 gebar diese eigenartige Zweckehe dann die Französisch-Russische Allianz, was wiederum Zwietracht in den Kontinent brachte.2

Dass 1904 England und Frankreich die dramatische Faschoda-Krise beilegten, indem sie die Entente cordiale gründeten, war ein weiterer Schritt hin zur Polarisierung. Blicken wir zurück: September 1898 gerieten der französische Major Jean-Baptiste MarchandMarchand, Jean-Baptiste und sein kleines Truppenkontingent nahe der Stadt FaschodaFaschoda, gelegen am Oberlauf des Nils im SudanSudan, mit einer kampfkräftigen Flottille britischer Kanonenboote aneinander, die Sir Herbert KitchenerKitchener, Herbert befehligte. Hintergrund des Zusammenstoßes war, dass sich in Afrika die Expansionspläne der beiden Nationen ins Gehege kamen. Frankreich wollte einen kohärenten West-Ost-Gürtel von SenegalSenegal bis SomaliaSomalia, doch das kollidierte mit dem britischen Vorhaben eines kolonialen Süd-Nord-Gürtels vom KapKap der guten Hoffnung bis KairoKairo, wie SüdafrikasSüdafrika Premierminister Cecil RhodesRhodes, Cecil ihn propagierte. Kaum wurde die Konfrontation bekannt, heulte in beiden Ländern die Presse laut auf, französische und britische Politiker beschimpften sich wüst; LondonLondon und ParisParis gerieten an den Rand eines Krieges. Aber um den britischen Beistand gegen Deutschland zu gewinnen, gab Außenminister Théophile DelcasséDelcassé, Théophile bestimmte französische Ansprüche auf und begann Verhandlungen über die kolonialen Streitigkeiten. Die schließlich erzielte Vereinbarung gab den Briten freie Hand in ÄgyptenÄgypten, und MarokkoMarokko ging an Frankreich über. Dadurch änderte sich die »geistige Haltung« der beiden Länder zueinander grundlegend.3

Die Erste Marokkokrise 1905/06 zementierte die Frontenstellung Entente vs. Zweibund in Europa. Verstimmt darüber, dass Frankreich dieses Land einfach klammheimlich annektiert hatte, protestierte Berlin und forderte, für die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands müsse es dort weiterhin eine »offene Tür« geben. Um herauszufinden, ob die englisch-französische Kooperation wirklich schon eine starke Bindung sei, sandte Reichskanzler Bernhard von BülowBülow, Bernhard von Kaiser Wilhelm II. Wilhelm II.nach TangerTanger. Dort hielt der deutsche Monarch eine Rede, in der er für die Unabhängigkeit MarokkosMarokko eintrat. Diese demonstrative Provokation verärgerte die Öffentlichkeit in ParisParis und in BerlinBerlin so sehr, dass beide Kontrahenten zum Krieg mobilmachten. Die Situation entspannte sich schließlich, als die französische Führung den überforschen DelcasséDelcassé, Théophile zwang, sein Außerministeramt niederzulegen, und einer internationalen Konferenz in Algeciras zustimmte. Doch dank der wirksamen Diplomatie Frankreichs fand sich Deutschland unter den Teilnehmern isoliert; allein Österreich-Ungarn stellte sich auf seine Seite. BerlinBerlin musste daher einen gesichtswahrenden Kompromiss akzeptieren: Nicht ganz MarokkoMarokko, sondern nur die marokkanische Polizei solle unabhängig bleiben.4 Das deutsche Muskelspiel erwies sich als gescheitert, denn es festigte die englisch-französische Kooperation, ja mehr noch: Es motivierte Russland, seine kolonialen Unstimmigkeiten mit den Briten vertraglich aus der Welt zu schaffen und 1907 der Entente beizutreten.

Die Annexion Bosnien-Herzegowinas durch Österreich am 6. Oktober 1908 spannte die internationale Situation weiter an. Der Berliner Vertrag von 1878 hatte WienWien zwar erlaubt, diese osmanische Provinz zu besetzen – als Gegenleistung dafür, dass es im Russisch-Türkischen Krieg neutral geblieben war. Doch brachte 1903 ein Staatsstreich in BelgradBelgrad eine nationalistische Dynastie an die Macht, die mit russischer Unterstützung für ein Groß-Serbien agitierte. Um die Spannungen beizulegen, schloss der russische Außenminister Alexander IswolskiIswolski, Alexander eine vorläufige Übereinkunft mit dem österreichischen Außenminister Graf Alois von AehrenthalAehrenthal, Alois von: WienWien dürfe das Territorium annektieren und Bulgarien seine Unabhängigkeit erklären. Im Gegenzug werde Österreich Russland bei dessen Bestreben unterstützen, ein exklusives Recht auf Durchfahrt durch die maritime Ausgangspforte des Schwarzen Meeres, den Bosporus, zu erhalten. Letzteres konnte aber nicht in die Tat umgesetzt werden, weshalb Russland seine Zustimmung zur Annexion zurückzog, Österreich indes beharrte auf der Einverleibung, was nun zu massiver öffentlicher Erregung in Russland und Serbien führte. Um die Spannungen zu beenden, richtete das Deutsche Reich eine kaum verblümte Drohung an Sankt Petersburg Sankt Petersburg (Leningrad, Petrograd): Akzeptiere Russland den fait accompli nicht, würden die Dinge ihren Lauf nehmen; Deutschland, so das bekannte Diktum des Kanzlers von BülowBülow, Bernhard von, stehe in »Nibelungentreue« zu Österreich.5 Sankt PetersburgSankt Petersburg (Leningrad, Petrograd) sah sich zum Nachgeben gezwungen, was die Beziehungen zwischen ihm und den Regierungen in BerlinBerlin bzw. WienWien dauerhaft verschlechterte.

Der Kaiser wiederum unternahm einen Versuch, die englisch-deutschen Beziehungen zu verbessern, der ironischerweise gerade das Gegenteil bewirkte. Ende Oktober 1908 erschien im LondonerLondon Daily Telegraph ein Interview mit Wilhelm II. Wilhelm II., das der britische Journalist Stuart WortleyWortley, Stuart aus mehreren privaten Gesprächen mit dem Kaiser zusammengestellt hatte. WilhelmWilhelm II. ließ sich die Version vorab aushändigen und leitete sie an Kanzler von BülowBülow, Bernhard von zum Gegenlesen weiter. Wir wissen bis heute nicht, ob Letzterer, der gerade an der NordseeNordsee urlaubte, den Text vor der Freigabe wirklich gelesen hat. Die britische Öffentlichkeit reagierte jedenfalls anders als erhofft. Befremdet und empört nahm sie zur Kenntnis, wie der KaiserWilhelm II. seine Freundschaft gegenüber England betonte, wie er damit prahlte, im Burenkrieg erfolgreich vermittelt zu haben, und wie er behauptete, der forcierte deutsche Flottenbau richte sich keineswegs gegen die Royal Navy. Nun entluden sich all die Friktionen, die sich über die Jahre zwischen den beiden Nationen angesammelt hatten, auf englischer Seite in einem Sturm des Protestes. Auf deutscher wiederum war die Öffentlichkeit erzürnt, dass ihr MonarchWilhelm II. so wenig diplomatisches Taktgefühl besaß, und der ReichskanzlerBülow, Bernhard von drohte mit Rücktritt. Der geläuterte KaiserWilhelm II. mischte sich danach zwar seltener in die Außenpolitik ein, aber die englisch-deutschen Beziehungen waren nun einmal beschädigt.6

Die Zweite Marokkokrise von 1911 isolierte Deutschland weiter. BerlinsBerlin Gepolter drängte LondonLondon in noch engere Kooperation mit ParisParis, und die Lösung der Krise enttäuschte den kriegsversessenen Teil der heimischen Öffentlichkeit. Den äußeren Anlass der Zuspitzung lieferte die französische Inbesitznahme von FezFez und RabatRabat, die vorgeblich dem Sultan Hilfestellung gegen lokale Rebellen leisten sollte. BerlinBerlin hatte eigene Interessen in und an MarokkoMarokko, und um diese wenigstens in anderen Teilen des afrikanischen Landes zu sichern, sandte die deutsche Regierung das Kanonenboot »Panther« nach AgadirAgadir. Dadurch befeuerte BerlinBerlin wiederum britische Ängste, die Deutschen könnten eine Flottenbasis im Atlantik errichten. LondonLondon war die französische Invasion in MarokkoMarokko zwar auch nicht recht, doch die deutschen Aktivitäten irritierten England stärker. Und so warnte der britische Premier David Lloyd GeorgeLloyd George, David BerlinBerlin unverblümt, ein Frieden um den Preis einer Beschädigung der Interessen und der Ehre der Nation »wäre eine Demütigung, die ein großes Land wie das unsere nicht ertragen könnte«. Die Diplomaten Alfred von Kiderlen-WaechterKiderlen-Waechter, Alfred von und Jules CambonCambon, Jules verhandelten, und schließlich vereinbarte man, dass Frankreich MarokkoMarokko unter sein Protektorat nehmen dürfe und Deutschland dafür ein Stück ÄquatorialafrikaÄquatorialafrika erhalte, das seiner Kolonie KamerunKamerun zugeschlagen werde.7 Während die deutsche Öffentlichkeit die Einigung als diplomatische Niederlage empfand, dehnte die britische Marine ihren Schutzbereich auf die französische Seite des Ärmelkanals aus.

Die Balkankriege 1912/13 stellten das internationale Ordnungsgefüge auf eine harte Probe, doch blieben sie auf Südosteuropa beschränkt, weil die Großmächte beschlossen hatten, nicht direkt zu intervenieren. Im ersten Konflikt besiegte der Balkanbund, bestehend aus Bulgarien, Serbien, Griechenland und Montenegro, das Osmanische Reich. Mit dem Londoner Vertrag endete nun die jahrhundertelange Herrschaft der Türken über die BalkanhalbinselBalkan. In der zweiten Auseinandersetzung attackierte Bulgarien seine bisherigen Verbündeten, zog aber den Kürzeren, zumal Rumänen und Osmanen den Angegriffenen zu Hilfe kamen. Im Friedensvertrag von Bukarest verlor Bulgarien alle Landgewinne, die ihm der Erste Balkankrieg eingebracht hatte. Die Feuersbrunst verbreitete sich nicht bis in die größeren europäischen Länder, denn die waren noch nicht kriegsbereit, und den LondonerLondon Botschafterkonferenzen gelang es beide Male, Kompromisse auszuhandeln.8 Der Wunsch der Russen nach freier Fahrt durch den Bosporus erfüllte sich nicht, es blieb ihnen nur die Unterstützung des expansionistischen Serbiens. Die Österreicher blockierten Belgrads Zugang zur AdriaküsteAdria, indem sie die Gründung eines unabhängigen Albaniens förderten, während die Bulgaren und Osmanen sich nunmehr Deutschland zuwandten. Ein größerer Krieg war nun zwar abgewendet, doch zeichneten sich schon künftige Frontverläufe ab.

Während die Feindseligkeit wuchs, entwarfen die Generalstäbe aller Großmächte offensive Kriegspläne gegen ihre mutmaßlichen Feinde – Pläne, die ihnen ihr Handeln im Juli 1914 praktisch diktierten. Die Österreicher etwa erwarteten eine Provokation vonseiten der Serben und bereiteten sich auf einen Krieg mit deren russischen Protektoren vor. Da Deutschland mit einem Zweifrontenkrieg rechnete, plante Graf Alfred von SchlieffenSchlieffen, Alfred von, zunächst Frankreich zu besiegen. Dafür sollten deutsche Heeresgruppen erst das neutrale Belgien passieren und dann weitschweifende Bögen durch Frankreich ziehen, um die französischen Festungen zu umgehen und der gegnerischen Armee in den Rücken zu fallen. War dies erledigt, sollten die deutschen Streitkräfte sich dem wohl etwas langsameren Vormarsch der Russen entgegenwerfen. Frankreich selbst ging es primär darum, seine verlorenen Provinzen wiederzuerlangen. Sein strategisches Konzept, genannt »Plan XVII«, sah eine Generaloffensive nach SüddeutschlandSüddeutschland vor. Ein Angriff ohne Rücksichten sollte das werden, der, so die Erwartung der Führung, den Kampfgeist der Truppe heben würde. Um seinen Verbündeten sofort zu Hilfe kommen zu können, konzipierte Russland eine schnellere Mobilisierung als ursprünglich vorgesehen, einem Feldzug zuliebe, den es nicht nur gegen WienWien, sondern auch gegen BerlinBerlin führen wollte. MoskauMoskau plante, in OstpreußenOstpreußen und GalizienGalizien einzumarschieren. Auch Großbritannien fand sich schließlich in den Krieg hineingezogen: Gespräche zwischen den Generalstäben beider Länder bewirkten, dass England sich immer tiefer verpflichtet fühlte, sich an der Verteidigung Frankreichs zu beteiligen, obwohl es offiziell verkündete, neutral bleiben zu wollen.9 Bisher hatte sich noch für jede Krise eine friedliche Lösung gefunden – und doch zeigte sich Europa aus den genannten Gründen im Sommer 1914 in zwei große Allianzen geteilt, die bereit waren, gegeneinander Krieg zu führen.

Als letzte in einer Reihe von immer feindseligeren Auseinandersetzungen ähnelte die Julikrise den vorherigen Konfrontationen, aber in ihrem wichtigsten Aspekt unterschied sie sich – im Ergebnis. Alles begann mit der Ermordung Franz FerdinandsFranz Ferdinand und hätte eine lokale Streitigkeit zwischen der Habsburgermonarchie und der serbischen Nationalistenbewegung bleiben können, wären da nicht die Bündnissysteme gewesen: Rasch – und vorhersehbar – fand sich Russland als BelgradsBelgrad Schutzpatron in die Händel verwickelt, was wiederum Deutschland als Österreichs Alliierten und Frankreich als Russlands Freund hinzuzog. Anders als bei den bisherigen Balkankriegen brachte sich in dieser Krise eine der Großmächte gegen den Klientelstaat einer zweiten Großmacht in Stellung. Eine überhitzte öffentliche Meinung, von einer verantwortungslosen Presse befeuert, machte Kompromisse äußerst schwierig, und diplomatische Entscheidungen sahen sich eingeengt durch die technischen Notwendigkeiten, die Kriegsvorbereitungen und Mobilisierungszeitpläne mit sich bringen. Als Großbritannien seine splendid isolation aufgab, um Frankreich zu Hilfe zu kommen, war keine europäische Großmacht mehr übrig, die in der Lage gewesen wäre zu vermitteln. Da Deutschland an keiner weiteren Konferenz teilnehmen mochte, um nicht abermals gedemütigt zu werden, fehlte dem Beziehungssystem der modernen Staaten ein Mechanismus, der die Katastrophe noch hätte aufhalten können.10

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

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