Читать книгу Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch - Страница 14
Imperiale Visionen
ОглавлениеÜber diese strukturellen Ähnlichkeiten hinaus entwickelten die großen europäischen Mächte konkurrierende imperiale Visionen. Wie die im Einzelnen ausfielen, hing ab von der Vergangenheit, der Politik und den Ressourcen des jeweiligen Landes. Das britische Empire, erfolgreich als Seemacht, besaß zu jener Zeit die ausgedehntesten Gebiete, denn es hatte schon im 17. Jahrhundert begonnen, sich Flächen anzueignen. Zwar erlebte es mit der amerikanischen Unabhängigkeit ein Debakel, holte sich aber immerhin die Kontrolle über Kanada zurück. Zudem konnte London neue Siedlungskolonien in Australien und Neuseeland eröffnen. Doch das »Kronjuwel« des Empire war der indische SubkontinentIndien – wegen seines ungeheuren Reichtums und der immens hohen Bevölkerungszahl winkten den Kolonisatoren dort große Profite. Um die imperialen Verkehrsverbindungen zu sichern, bemächtigte sich England in den 1880ern des SuezkanalsSuezkanal und warf die islamische Mahdi-Rebellion im SudanSusan nieder. Im »Wettlauf um Afrika« trieb London die »Kap-Kairo«-Vision voran: Von KapstadtKapstadt nach KairoKairo sollte eine Eisenbahnlinie gebaut werden, die durch aneinandergrenzende britische Besitztümer geführt und eine Nord-Süd-Achse gebildet hätte. Das Projekt wurde allerdings von den Portugiesen, Belgiern und Deutschen blockiert. Diese paradoxe Melange, in der ökonomische Ausbeutung, Rassenhochmut und humanitäre Rhetorik miteinander verschmolzen, trug trotz gewisser Widersprüche recht weit. Einerseits schaffte man den Sklavenhandel ab, andererseits betrieb man erfolgreich Eroberung und Unterwerfung – bis man in Territorien geriet, die schon Konkurrenten besetzt hielten.1
In seiner Art, persönlichen Profit mit imperialen Ambitionen zu verbinden, war Cecil RhodesRhodes, Cecil ein typischer britischer Imperialist. Geboren 1853 in HertfordshireHertfordshire als Sohn eines Pfarrers, wurde er seiner schwachen Gesundheit wegen 1870 in die britische Kolonie NatalNatal (Südafrika) gesandt. Während seines späteren unregelmäßigen Studiums an der Universität Oxford verinnerlichte er gründlich das dort verbreitete Ethos des Empire. Zuerst war er recht erfolgreich als Obstfarmer tätig, doch sein eigentlicher Durchbruch kam mit der Gründung der Bergbaufirma De Beers Mining Company, die schließlich, unterstützt von der Familie Rothschild, den Diamantenmarkt beherrschen sollte. Als einer der wohlhabendsten englischen Geschäftsleute in Afrika wurde er Premierminister der Kapkolonie, in der er rassistische Gesetze einführte, die es ermöglichten, Schwarzen ihr Land wegzunehmen. Um die Herrschaft Großbritanniens über den ganzen Süden Afrikas auszudehnen, förderte er die Burenkriege, die das Empire gegen niederländische Siedlerrepubliken in TransvaalTransvaal führte; RhodesRhodes, Cecil’ Eingreifen beschleunigte deren Unterliegen. Immer das Geschäftliche mit dem Politischen verbindend, rückte seine British South Africa Company nordwärts vor, erschloss das Sambesibecken und schuf eine weitere Kolonie, benannt nach dem Gründer der Company: Rhodesien. Schließlich rief RhodesRhodes, Cecil, der sich wünschte, dass Britannien die ganze Welt beherrsche, Stiftungen ins Leben, die hochbegabten Amerikanern und Deutschen ein Studienstipendium in OxfordOxford finanzierten. So wollte er diese jungen Leute locken, sich seinem Eroberungszug anzuschließen, denn an jener Universität, erwartete er, würden sie das gleiche imperiale Ethos absorbieren, das ihn einst inspiriert hatte. Als RhodesRhodes, Cecil 1902 starb, wurde er gleichermaßen bewundert und geschmäht.2
Die Franzosen waren die Hauptrivalen der Briten beim Kampf um die Kolonien, denn ihre Unternehmungen in dieser Sache hatten eine ähnlich lange Geschichte und eine ähnliche geografische Größenordnung. Zwar verloren sie ihre nordamerikanischen Besitzungen im Siebenjährigen Krieg an die Briten, und LouisianaLouisiana mussten sie an die Vereinigten Staaten verkaufen, doch immerhin behielten sie ihre karibischen Inseln. Aber der Widerspruch zwischen der aufklärerischen Theorie der Menschenrechte und der profitablen Praxis der Sklaverei in den Zuckerrohrfeldern spitzte sich zu, als die Schwarzen auf HaitiHaiti unter ihrem General Toussaint-LouvertureToussaint-Louverture, François-Dominique revoltierten. Nach diesem Rückschlag konzentrierten die Franzosen ihre Anstrengungen auf »mediterrane Nahgebiete« und bemächtigten sich 1830 Algeriens. Während der Dritten Republik eroberte Frankreich eine ganze Reihe nord- und zentralafrikanischer Territorien und setzte sich auf MadagaskarMadagaskar und in IndochinaIndochina fest. Anders als die Briten, die scharenweise in mehreren Regionen ihres Empires auch ihren Wohnsitz nahmen, siedelte sich eine größere Zahl Franzosen nur in AlgerienAlgerien an. Die anderen Kolonien und Protektorate überließen sie der Herrschaft einer dünnen Schicht von Soldaten und Administratoren. Apologeten der Kolonisierung wie Jules FerryFerry, Jules glaubten ernsthaft an deren zivilisatorische Mission, die französische Sprache und Kultur im Herrschaftsbereich Frankreichs unter allen Menschen jeglicher Hautfarbe zu verbreiten.3 An dem Versprechen fanden einige indigene Intellektuelle sogar Gefallen; die Praxis blieb freilich weit hinter den Erwartungen zurück.
Ein Imperium zu haben erschien derart verlockend, dass bald Neulinge auf den Plan traten und ebenfalls Besitztümer in Übersee akkumulieren wollten. Während im Niedergang befindliche Länder wie Spanien und Portugal die Reste ihrer einst so extensiven Imperien zu halten versuchten, bemühten sich aufsteigende Nationen wie das erst 1871 vereinte Deutsche Kaiserreich zu erhaschen, was noch übrig war. Zunächst griffen sich die Deutschen Ost-Ostafrika und WestafrikaWestafrika, TogoTogo, KamerunKamerun und ein paar kleinere Gebiete im Pazifik. Da auf dem Schwarzen Kontinent bestimmte einheimische Stämme, die Maji-Maji und die Herero, sie in blutige Kriege verwickelten, wandte sich Berlin dem BalkanBalkan und der Türkei zu und versuchte dort seinen Einfluss zu stärken, im Osmanischen Reich etwa durch den Bau der Bagdadbahn.4 Der neue italienische Staat unternahm ebenfalls einiges zur Gebietserweiterung; schließlich hoffte er, die Glorie des Imperium Romanum wiederzuerlangen. Folglich versuchte er 1895/96 AbessinienAbessinien (Äthiopien) zu erobern, was misslang, und 1911 LibyenLibyen, was glückte. Über ihre kontinentalen Eroberungen hinaus vorstoßend und ihrer manifest destiny (der »offensichtlichen Bestimmung«) folgend, wagten sich die Vereinigten Staaten nun ebenso in die Karibik und auf die PhilippinenPhilippinen vor. Schließlich mochte auch das sich rasch modernisierende JapanJapan nicht hintanstehen. Selbst erst gerade der Fremdherrschaft entkommen, versuchte es sein eigenes Imperium in Asien zu errichten. Es setzte sich in KoreaKorea und der MandschureiMandschurei fest und forderte 1905 gar Russland heraus.
Die großen Landimperien Osteuropas entstanden durch Ausdehnung auf Nachbargebiete, aber sie ähnelten doch in mehrfacher Hinsicht den Imperien mit Übersee-Besitztümern. Zwar spielte hier das Militär die zentrale Rolle, und die Verschiedenheit zwischen den imperiumbauenden und den unterworfenen Völkern war oft geringer, aber die Strukturen der Annexion, Ausbeutung und der zentralen Kontrolle ähnelten doch dem Überseemuster. Das älteste und verwundbarste der östlichen Imperien war das Osmanische Reich, auch bekannt als »der kranke Mann Europas«, denn ab etwa 1900 verlor es eine Besitzung nach der anderen. In ihrer Glanzzeit waren die Osmanen eine hochentwickelte Militärmacht gewesen: Immerhin hatten sie 1453 Konstantinopel erobert und Territorien vom BalkanBalkan über den Nahen Osten bis nach Nordwestafrika, dem MaghrebMaghreb, unterworfen. Obwohl muslimischen Glaubens, tolerierten sie die Andersgläubigen unter den Besiegten – solange diese Steuern zahlten und dem Sultan Söhne für dessen Elitekampfkorps lieferten. Im 19. Jahrhundert gerieten die Osmanen dann zunehmend unter Druck: Auf dem BalkanBalkan erhoben sich wiederholt die Christen, anderswo die Araber. Daher versuchten ab 1908 die Jungtürken, angeführt von Mustafa Kemal, genannt AtatürkKemal, Mustafa (Atatürk), den kleinasiatischen Staat zu modernisieren, indem sie eine konstitutionelle Monarchie einführten.5
Das noch größere Russische Kaiserreich dehnte sich von WarschauWarschau im Westen bis nach WladiwostokWladiwostok im Osten und von Finnland im Norden bis zum Kaukasusgebirge im Süden. Die Expansion hatte die üblichen Beweggründe: ökonomische Interessen, die mehr Ressourcen erforderten; eine sichere Verteidigung der Grenzen; die schwache Organisation der benachbarten Territorien. Da es sich um ein landgestütztes Imperium handelte, wurden die neu eroberten Gebiete schlicht dem bereits bestehenden Russischen Reich einverleibt, das ein allmächtiger Zar mit Hilfe einer imperialen Bürokratie und einer riesigen Armee autokratisch regierte. Die russische Kernethnie war von einer Art Auserwähltheitsideologie beseelt, die auf dem griechisch-orthodoxen Christentum beruhte und Russland als das »dritte Rom« begriff. In Wahrheit war jenes Imperium ein schwacher Riese, denn seine Einwohner – die Bauern hatte man gerade erst aus der Leibeigenschaft entlassen – blieben weitgehend auf Landwirtschaft ausgerichtet, und seine Aristokratie konnte sich, was die europäische Modernisierung betraf, nicht recht entscheiden: Sollte man sich ihr anschließen oder sie, ihrer subversiven Tendenzen wegen, verwerfen?6 Die Mittelschicht erhoffte sich dringlich mehr Teilhabe an politischen Entscheidungen, während eine allmählich lauter auftretende Intelligenzija Autokratie, Orthodoxie und Hierarchie von innen her attackierte.
Das oft unterschätzte zentraleuropäische Imperium der Habsburger stellte eine Melange aus verschiedenen ethnischen Gruppen dar, innerhalb derer es keine klare Mehrheit gab. Das Habsburgerreich entstand 1526 durch die Vereinigung der österreichischen, böhmischen und ungarischen Kronländer. So formiert, gelang es ihm, die diversen Angriffe der Osmanen auf dem BalkanBalkan zurückzudrängen. Während der Gegenreformation unterdrückten die katholischen Kaiser den Protestantismus brutal in ihren eigenen Ländern, und auch in den anderen deutschen Staaten wollten sie ihn während des Dreißigjährigen Krieges niederwerfen. Um 1900 hielten folgende Faktoren das Reich noch zusammen: die Zuneigung der Untertanen zu ihrem altgedienten Kaiser Franz JosephFranz Joseph I. (Österreich-Ungarn), eine multilinguale Armee, eine zentrale Bürokratie und eine Mittelklasse aus Kaufleuten, die über die ethnischen Differenzen hinweg zusammenarbeiteten. Mit den unabhängigkeitsbeseelten Ungarn ließ sich 1867 immerhin ein Kompromiss schließen, der die Doppelmonarchie noch einmal restrukturierte, aber es regten sich auch der deutsche und der tschechische Nationalismus, deren Aufkommen für die Zukunft nichts Gutes verhieß. Wien wurde einerseits bekannt als Hauptstadt des Jugendstils und der Psychoanalyse; andererseits war es auch eine Brutstätte des Antisemitismus. Was seine Politik auf dem BalkanBalkan betraf, wusste Österreich-Ungarn nicht recht, ob es sich aggressiv oder defensiv gebärden sollte.7
Die europäische Dominanz war also kein Gemeinschaftswerk, sondern eher ein Wettbewerb, in dem Kriege nur durch internationale Konferenzen vermieden wurden, die konfligierende Ansprüche im Sinne einer gütlichen Einigung regelten. Generell waren die westlichen Länder mit Überseeimperien moderner (d. h. ökonomisch weiter entwickelt sowie politisch liberaler) und besaßen eine stärkere Mittelschicht. Freilich handelte es sich bei ihnen um ehemalige Sklavenhaltergesellschaften, und diese Altlast schuf einen tiefen Widerspruch zwischen dem sozialdarwinistischen Rassismus gegenüber den Kolonisierten und der Einführung der Bürgerrechte innerhalb der eigenen Bevölkerung. Im Kontrast dazu waren die östlichen Imperien, die nur über eine riesige zusammenhängende Territorialmasse geboten, nicht aber über transozeanische Regionen, weniger industrialisiert und autokratischer; bezeichnenderweise arbeiteten die meisten Einwohner immer noch auf dem Lande. Gleichwohl sahen sich auch diese Reiche vor die Notwendigkeit der Modernisierung gestellt. Daraus entstand ein Konflikt zwischen den Wünschen ihrer eigenen Bürger nach politischer Teilhabe und den Forderungen der vom jeweiligen Reich unterjochten ethnischen wie religiösen Gruppen nach Selbstbestimmung. Zwar sah das Gebäude des Imperialismus um die Jahrhundertwende noch imposant aus, doch sollten die stetig wachsenden antiimperialistischen und nationalistischen Unabhängigkeitsbewegungen es schließlich zum Einsturz bringen.8