Читать книгу Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch - Страница 17

Europäische Hegemonie

Оглавление

Es ist gar nicht so einfach, sich heute rückblickend zu vergegenwärtigen, wie weit Europas Herrschaft über die Welt einmal gereicht hat, weil sie seither bis auf wenige Spuren zerstört worden ist. Doch um 1900 konnte jedes Schulkind, das eine Weltkarte betrachtete, sofort sehen, dass der Globus unterschiedlich eingefärbt war. Praktisch alle Territorien in Afrika, Asien und Australien standen unter der Kontrolle irgendeiner Macht; sogar ChinaChina sah man in Einflusssphären gegliedert. Während britische, französische, deutsche, belgische und italienische Kinder Namen und Hauptstädte ferner Dependancen auswendig lernen mussten, schwelgten Portugiesen und Spanier in Erinnerungen an ihre früheren Imperien. In IstanbulIstanbul, Sankt PetersburgSankt Petersburg (Leningrad, Petrograd) und WienWien wurden die Schüler stattdessen angehalten, entlegene Provinzen aufzulisten, Landstriche, in denen verschiedene ethnische Gruppen lebten und seltsame religiöse Praktiken ausübten.1 Das sensationelle Gefühl, sich immer neue Territorien anzueignen, riss selbst Nachzügler, namentlich die Vereinigten StaatenVereinigte Staaten und JapanJapan, in den Wettlauf mit. So entstand rings um den Globus ein System konkurrierender Imperien, deren Zentrum in europäischen Staaten lag und die gleichzeitig nationalen wie imperialen Status hatten.


Die Ausdehnung des europäischen Imperialismus bis 1914

Die dynamische Kraft, die diesen neuen Imperialismus antrieb, indem sie die psychologischen, technischen und organisatorischen Voraussetzungen für die Expansion schuf, war die europäische Modernisierung. Wissenschaftliche Neugier stachelte die Forscher zu Entdeckungen an, und technologischer Erfindergeist entwickelte das Dampfschiff, den Telegrafen und das Maschinengewehr, was Verkehr, Kommunikation und Herrschaftsausübung über weite Strecken ermöglichte. Die Hoffnung auf Profite motivierte Investitionen im Ausland, und die Akkumulation von Kapital finanzierte waghalsige imperiale Unternehmungen. Streben nach Beförderung motivierte Einzelne, in den Kolonien zu dienen oder auf Dauer auszuwandern; Gesetze garantierten dort die weiße Überlegenheit. Dass eine effiziente Form gouvernementaler Organisation entstand, als die der Nationalstaat galt, war von entscheidender Bedeutung für die politische Umsetzung imperialer Träume. Schlagkräftiges Militär mit neuen technischen Waffensystemen wurde gebraucht, um Territorien zu erobern und zu halten, während eine effiziente Bürokratie die imperialen Gebiete verwaltete. Blieben auch die symbolischen Insignien und der äußere Dekor des Imperialismus neofeudal – die Quellen der Wirkmacht des Metropolitanen waren eindeutig modern.2

Die sich nun anschließende Europäisierung der Welt war daher eine ungleiche Form von Modernisierung, da sie mit einer Mischung aus Zwang und Anreizen die Kolonien transformierte. Wissenschaftliche Vorstöße, ökonomische Ausbeutung, koloniale Besiedelung und politische Kontrolle – all dies erforderte eine Infrastruktur, zu der Häfen, Eisenbahnlinien, Plantagen, Bergwerke und Märkte ebenso gehörten wie Verwaltungszentren nach europäischem Vorbild. Ferner verlangte die Ausbeutung der lokalen Arbeitskräfte eine soziale und kulturelle Transformation der indigenen Bevölkerung. Man vermittelte den Einheimischen Grundkenntnisse in Lesen und Schreiben, aber ebenso Arbeitsdisziplin, verbreitete Hygienebewusstsein unter ihnen und predigte ihnen nicht zuletzt das Christentum. In diesem Zusammenhang attackierte die westliche Moderne gleich auf mehreren Ebenen, was zur Folge hatte, dass traditionelle Weltsichten wie Verhaltensformen verdrängt, bestehende soziale Gebräuche und Hierarchien aufgelöst sowie die kolonisierten Völker zutiefst irritiert wurden. Denn die Moderne kam gewaltsam und repressiv daher; sie ließ ihnen kaum eine andere Wahl, als sich zu fügen. Doch einige der importierten Veränderungen boten ihnen auch den Zugang zu Wissen und Kultur der Europäer; so lernten sie Ideologien und Techniken kennen, deren frustrierte koloniale Intellektuelle sich später bedienen sollten, um gegen die metropolitane Herrschaft vorzugehen.3

Auch Europa selbst wurde durch den Imperialismus gründlich transformiert. Dort schien es sich freilich eher um eine segensreiche Form der Modernisierung zu handeln, die neuen Wohlstand, neue Institutionen und neue Verfahrensweisen auf vielen Gebieten brachte. LondonLondon, ParisParis und BerlinBerlin erlebten die Einrichtung neuer Kolonialämter oder -ministerien, wissenschaftlicher Institutionen, Missionshauptquartiere, Schiffsspeditionen und Landverwaltungsbehörden, deren Aufgabe es war, die Verbindung zum Imperium zu halten. Zoos voller seltsamer Tiere wie z. B. Elefanten, botanische Gärten voller exotischer Pflanzen, etwa Orchideen, und völkerkundliche Museen mit eigenartigen Artefakten boten den Europäern Impressionen einer fremden Welt, in die sie nun nicht mehr selbst fahren mussten. Gesellschaften gaben an der Börse Aktien auf koloniale Unternehmungen aus und erwirtschafteten jene großen Reichtümer, die sich in imposanten viktorianischen Villen und Stadtpalais manifestierten. Kaufhäuser boten kostbare Edelsteine und Genussmittel aus den Kolonien an. Nun konnten die Bürger Europas sich imperiale Objekte in die Wohnungen stellen und neue Konsumgewohnheiten entwickeln, etwa das Trinken von Kaffee, Tee und Kakao. In den belebten Straßen drängten sich Menschen verschiedener Hautfarbe, die verschiedene Religionen praktizierten und verschiedene Sprachen redeten; in den Hotels sah man Gäste ungewohnten Anblicks, die indische Saris oder chinesische Seidengewänder trugen.4 Verblichene Fotos in alten zerfallenden Zeitungen legen den Schluss nahe, dass der Imperialismus die europäische Gesellschaft ganz beträchtlich durchdrungen hatte.

Durch die ihm innewohnende Brutalität schürte der Imperialismus freilich auch die in der Moderne angelegten destruktiven Spannungen, die letztendlich Verderben über ihn bringen sollten. International führte der Wettlauf um Auslandsgebiete zu einer Reihe schwerer Krisen zwischen den Großmächten, während in den Kolonien der Groll der unterjochten Völker eine Kette übler Kolonialkriege auslöste. Daheim förderte die Begeisterung über das jeweilige Imperium ein Klima von Chauvinismus und Rassismus, das europäische Länder gegeneinander aufbrachte und Hass unter den Angehörigen verschiedener ethnischer oder religiöser Gruppen verbreitete. In den landbasierten Imperien bemühten sich die Herrschenden, ihre multiethnisch besiedelten Gebiete in homogenere Nationalstaaten zu transformieren. Gerade diese Versuche veranlassten allerdings die unterworfenen Gruppen, nationale Befreiungsbewegungen zu bilden, die Autonomie für die eigene Ethnie reklamierten. In den Überseekolonien brachte die Diskrepanz zwischen den gepredigten zivilisatorischen Werten und den repressiven Praktiken der Kolonisatoren die Intellektuellen vor Ort dazu, für die Unabhängigkeit von europäischer Dominanz zu agitieren. Gerade als das Bauwerk des Imperialismus besonders imposant aussah, zeigten sich in ihm jene Risse, die zuerst die landgestützten und schließlich dann auch die Überseeimperien zum Einsturz bringen sollten.5

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

Подняться наверх