Читать книгу Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch - Страница 18
Ein Frieden bricht zusammen
ОглавлениеDas Attentat auf Franz Ferdinand und Sophie,Franz Ferdinand 1914
Am 28. Juni 1914 ermordete der serbische Terrorist Gavrilo PrincipPrincip, Gavrilo den österreichischen Thronfolger Franz FerdinandFranz Ferdinand und dessen Gattin Sophie von HohenbergSophie von Hohenberg. Trotz Warnungen hatte sich das Erzherzogspaar in die bosnische Hauptstadt SarajevoSarajevo begeben, und das ausgerechnet am serbischen Nationalfeiertag, der an die Schlacht gegen die Osmanen auf dem Amselfeld 1389 erinnert. Als die offene Limousine, in der Franz FerdinandFranz Ferdinand und SophieSophie von Hohenberg saßen, langsam durch die belebten Straßen der Innenstadt fuhr, explodierte plötzlich eine Bombe hinter ihnen und verletzte mehrere Begleitpersonen sowie einige Schaulustige. Nach einer zornigen Rede im Rathaus bestand der ThronfolgerFranz Ferdinand darauf, die verwundeten Offiziere im Garnisonsspital zu besuchen, aber der Chauffeur missverstand die Anweisung des ErzherzogsFranz Ferdinand und folgte zunächst der ursprünglich festgelegten Route. Als er dann doch noch zum Wenden ansetzte, zog der 19-jährige Abiturient PrincipPrincip, Gavrilo seine Pistole und schoss; er traf SophieSophie von Hohenberg in den Unterleib und Franz FerdinandFranz Ferdinand in den Hals, bevor empörte Passanten ihn überwältigen konnten. Obwohl der Wagen nun in großer Hast zurückraste, kam jede medizinische Hilfe zu spät; beide Opfer hatten schon zu viel Blut verloren.1 Der Schock über diesen nationalistischen Anschlag auf den österreichischen ThronfolgerFranz Ferdinand löste eine internationale Krise aus, die schließlich in den Ersten Weltkrieg eskalierte.
Die terroristische Attacke serbischer Nationalisten zerriss die vielfältigen Friedensbande in Europa. Modernität schien zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Synonym für internationale Kooperation zu sein. Optimisten glaubten an den Traum eines friedlichen Fortschritts und meinten zu beobachten, dass sich die Welt, dank des gegenseitigen Austauschs auf unzähligen Gebieten, kontinuierlich in Richtung Harmonie und Wohlstand entwickle. Diese hoffnungsvolle Sicht rechtfertigte man damit, dass zwischen den großen Nationen ein Netzwerk aus Verbindungen bestehe, das einen Krieg immer undenkbarer und auch undurchführbarer mache. Viele Aspekte der Modernisierung – etwa wissenschaftliche Kooperationen, multilaterale Handelsbeziehungen, individuelle Migration und internationales Recht – festigten ja die Verbundenheit zwischen den Nationen. Nicht nur Pazifisten wie der britische Schriftsteller Norman AngellAngell, Norman und die österreichische Romanautorin Bertha von SuttnerSuttner, Berta von, beide Träger des Friedensnobelpreises, glaubten, dass die immer häufigeren Kontakte unter den Gelehrten verschiedener Länder, das steigende Handelsvolumen, ausgebaute Verkehrs- und Kommunikationswege und die wachsende Mobilität über die Grenzen hinweg ein Netz aus rechtlichen Beziehungen wöben. Wenn sich das gegenseitige Verständnis derart intensiviere, könne es unmöglich zu neuerlichen militärischen Kämpfen kommen.2
Skeptische Beobachter indes betonten, in der Moderne obwalteten negative Kräfte, die das Konfliktrisiko erhöhten. Pessimisten wiesen schon seit einiger Zeit darauf hin, dass bestimmte Faktoren der Modernisierung – lautstarke Nationalismen, bürokratische Reglementierung, ungezügelter Militarismus und Rivalitäten zwischen den Großmächten – für mehr Feindseligkeit sorgten und dadurch Kompromisse erschwerten. Die Boulevardpresse schuf ständig neue Feindbilder, politische Repressionsmaßnahmen gegen Unabhängigkeitsbewegungen schürten den Groll der Unterworfenen, und viele Nationen traten in Rüstungswettläufe zu Lande und zu Wasser ein, sodass die internationalen Spannungen stiegen und sich ein weiterer Krieg bereits abzeichnete. All dies lieferte Anlass für eine dunklere, dystopische Vision der internationalen Lage, die geprägt sei vom Konkurrenzdenken und dem Kampf ums Überleben, in dem nur die stärkste Nation gewinnen könne. Manche Theoretiker der internationalen Beziehungen – etwa Kurt RiezlerRiezler, Kurt, der Berater des deutschen Reichskanzlers – glaubten, dass die traditionelle Pentarchie, also die Vorherrschaft von fünf Nationalstaaten, bald enden werde zugunsten einer Ordnung, in der nur noch zwei oder drei »Weltmächte« das Sagen hätten: Länder, die über genügend Ressourcen, Bevölkerung und Territorien verfügten, um globalpolitische Ziele zu verfolgen.3 Die Morde von SarajevoSarajevo ließen das ohnehin längst labile Gleichgewicht zwischen den vielen rivalisierenden Nationen kippen; dies lenkte die Entwicklung in Richtung Krieg. Es wurde ein Waffengang, der Europa und die Welt in den bisher blutigsten Konflikt ihrer gesamten Geschichte stürzte.
Nach dessen Ende entbrannte unter Politikern und Historikern eine große Kontroverse zur »Kriegsschuldfrage«, in der man bis heute darüber streitet, wer für den Ausbruch des Krieges verantwortlich gewesen sei. Die Debatte verkannte und verkennt freilich, dass dem Prozess, der zum bewaffneten Konflikt führte, der eben geschilderte Perspektivwechsel zugrunde lag, und den hatten seinerzeit alle rivalisierenden Nationen vollzogen. In Artikel 231 des Versailler Vertrages ließen die siegreichen Alliierten keinen Zweifel daran, wie sie die Frage betrachteten:
Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an, dass Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben.
Diese juristische Rechtfertigung der deutschen Reparationszahlungen entfachte zwischen Revisionisten hier und Verteidigern des Vertrages dort eine hitzige Diskussion um die Kriegsschuld, in deren Verlauf diplomatische Dokumente publiziert wurden, die Deutschland entweder belasteten oder exkulpierten. Eine Generation später verstärkte HitlersHitler, Adolf unleugbare Verantwortung für das Entfesseln des Zweiten Weltkriegs den Eindruck, Deutschland sei auch am Ersten Weltkrieg schuld gewesen. Auch längere Zeit nach 1945 kamen kritische Historiker zu dem Ergebnis, in erster Linie habe der wilhelminische Expansionismus das blutige Ereignis ausgelöst.4 Da solch emotionale Involviertheit einen Konsens darüber verhinderte, welches Land genau wie viel Verantwortung trage, blieben die sterilen Argumente der gegenseitigen Schuldzuweisung in einem legalistischen Moralismus gefangen.
Die »krasse Modernität«, die sich in der Julikrise offenbart, legt eher nahe, die Frage umzukehren, d. h. schwerpunktmäßig nicht mehr zu untersuchen, warum der Krieg ausbrach, sondern, weshalb der Frieden zusammenbrach. Zwar hatte friedliche Kooperation gewisse Bindungen geschaffen, doch als diese im Sommer 1914 durch eine schwere Konfrontation auf die Probe gestellt wurden, erwiesen sie sich als zu schwach, um Europa einen Krieg zu ersparen. Die bellizistischen Tendenzen gewannen schließlich die Oberhand, weil die wachsende Feindseligkeit zwischen den Nationen die kooperativen Perspektiven verdrängte. Stattdessen legitimierte man lieber den Kampf um bestimmter Ziele willen, die nur mit militärischer Gewalt erreicht werden konnten. Eine Reihe immer heftigerer internationaler Krisen hatte zwischen dem Dreibund und der Entente das Bewusstsein eines so krassen Antagonismus geschaffen, dass den Beteiligten Kompromissbereitschaft als ein Zeichen von Schwäche erscheinen musste. Und so trafen die Führer der Großmächte eine Reihe desaströser Entscheidungen, die eine lokale Querele auf dem BalkanBalkan in mehreren Stufen eskalieren ließen: erst ein serbisch gesteuertes Attentat, dann eine österreichische Strafaktion und am Ende ein kontinentaler Krieg zwischen Deutschland, Russland und Frankreich, der schließlich auch noch England, die Türkei und JapanJapan in den Konflikt mit hineinzog.5 Statt einen Fortschritt in Frieden zu garantieren, entwickelte die Moderne eine negative Dynamik und trug dazu bei, einen Weltkrieg zu entfesseln.