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Bande des Friedens

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Inspiriert von Immanuel Kant,Kant, Immanuel konnten um das Jahr 1900 Optimisten, die an den Fortschritt der Zivilisation glaubten, auf den wachsenden Internationalismus verweisen, der die europäischen Länder immer enger zusammenführte. Dass man beispielsweise Eisenbahnlinien errichtet und Telegrafenleitungen gespannt hatte, erleichterte das Reisen und das Kommunizieren von Nation zu Nation. Die größeren Städte des Kontinents hatten intensiveren Kontakt als je zuvor. Gleichzeitig wurden Maße und Gewichte standardisiert. Fast weltweit übernahm man das Meter, das Kilogramm und die Celsius-Skala. Auch die Zeitmessung erfuhr eine Neuordnung, denn nun galt die Mittlere Greenwich-Zeit als Richtschnur – all diese Maßnahmen schufen einen gemeinsamen Nenner der Zivilisation. Ferner entstanden internationale Organisationen mit nationalen Unterabteilungen wie das Rote Kreuz, die es erlaubten, spezifische Probleme über Ländergrenzen hinweg anzugehen. Diese Bemühungen betrafen die gesamte zivilisierte Welt, ihre Basis lag aber hauptsächlich in Europa, teilweise auch in den Vereinigten StaatenVereinigte Staaten. Ausgeschlossen blieben freilich die Kolonien.1 Hoffnungsvollen Beobachtern mochte es daher scheinen, dass die Modernisierung den Kontinent in hoher Geschwindigkeit zusammenwachsen lasse.

Traditionelle Verflechtungen gab es auch während der letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts dadurch, dass die europäischen Monarchen eng miteinander verwandt waren. Für die kontinentale Aristokratie hatte es nichts Ungewöhnliches, Souveränen verschiedener Nationalitäten zu dienen, das taten sie seit jeher. Gekrönte Häupter wiederum neigten dazu, untereinander zu heiraten. Als Enkel Königin VictoriasVictoria I sehnte sich der deutsche Kaiser Wilhelm II. Wilhelm II.geradezu nach sozialer Anerkennung seitens seiner britischen Verwandten. War eine neue Monarchie zu etablieren, etwa in Griechenland, fand sich stets ein unbedeutender deutscher Prinz, der gern die Krone übernahm. Als sich die Politik aber immer nationalistischer ausrichtete, was sich in der neu aufgekommenen Massenpresse niederschlug, mussten die königlichen Familien sich quasi nationalisieren, z. B. indem sie die Landessprache lernten oder gar ihren ursprünglichen Namen änderten. So wurde aus Sachsen-Coburg-Gotha etwa Windsor. Familientreffen und Staatsbesuche boten den Monarchen reichlich Gelegenheit, nicht nur Höflichkeiten auszutauschen, sondern auch substanzielle politische Probleme zu besprechen, sehr zum Kummer ihrer Berater. Während die östlichen Höfe das gemeinsame Anliegen verband, die autokratische Herrschaft zu verteidigen, begannen die divergierenden geopolitischen Interessen ihre praktische Kooperation zu erschweren.2

Das explosive Wachstum des internationalen Handels baute eine weitere Brücke zwischen den europäischen Ländern. Während des ganzen 19. Jahrhunderts vergrößerte sich das Volumen des Welthandels um das 43fache; allein in den zwei Jahrzehnten vor dem Krieg verdoppelte es sich! Diese atemberaubende Expansion lag an der Industrialisierung, die vom Vereinigten Königreich auf den Kontinent übergriff und die Warenproduktion zwischen 1800 und 1900 um das 33fache steigen ließ. Anders als die imperialistische Propaganda verhieß, fand der Handel mit Massenprodukten aber zu über 75 Prozent zwischen den entwickelten Ländern statt, nicht zwischen den Metropolregionen und deren Kolonien.3 Um Transaktionen zu erleichtern, schufen Kaufleute Verbindungen über Grenzen hinweg, indem sie etwa ihre Söhne ins Ausland schickten, wo sie neue Geschäftsmethoden lernen sollten, oder dort Filialen ihrer Firma gründeten. Besonders erfolgreich mit einer solchen Verflechtungsstrategie war das Haus Rothschild, das von einer jüdischen Bankiersfamilie aus FrankfurtFrankfurt am Main zu einem führenden Finanznetzwerk mit weiteren Sitzen in Paris und London aufstieg.4 Solche Kontakte schufen eine transnationale Geschäftswelt, die in europäischen oder gar in globalen Maßstäben dachte.

Die erfolgreiche Entwicklung des Handels machte internationale Kooperation auch auf einem anderen Gebiet notwendig, nämlich bei der Einrichtung eines rechtlichen und organisatorischen Rahmens für transnationale Aktivitäten. So engagierten sich die Europäer besonders, als Weltpostverein und Internationaler Telegrafenverein gegründet wurden; dank ihnen konnten Briefe und Telegramme nun über die Grenzen gehen. Nach komplizierten Verhandlungen vereinbarten die kontinentalen Regierungen außerdem, die Unantastbarkeit kommerzieller Verträge zu respektieren, da diese lebenswichtig für den Handel waren. Ebenso bemühten sie sich um den Schutz des geistigen Eigentums und beschlossen Copyrightregelungen, aufgrund derer nun auch Bücher international verkauft werden konnten. Andere Vereinbarungen betrafen die Migration: Man wollte Leute mit Vermögen hereinlassen, unerwünschte Arme jedoch fernhalten. Also drängten die Regierungen auf ein internationales Passwesen und auf die Formulierung von Niederlassungsrechten und -pflichten für Ausländer. Auch das Benutzen von Seen, Flüssen und Kanälen fanden sie regelungsbedürftig und beriefen entsprechende Kommissionen ein.5 Für diese praktischen Angelegenheiten entwickelten die europäischen Staaten einen Korpus internationalen Rechts, der den friedlichen Austausch erleichterte.

Daneben entstand, eher spontan, eine Bruderschaft der Künste, gebildet aus Malern und Komponisten, die in Europa eine kulturelle Avantgarde formierten. Da die Sprachen der Kunst und der Musik universell zugänglich waren, spielten nationale Schranken keine Rolle. Die Freiheit und die stimulierende Atmosphäre der metropolitanen Zentren zogen Künstler aus dem ganzen Kontinent an. Beispielsweise ging der spanische Maler Pablo PicassoPicasso, Pablo nach ParisParis und der böhmische Komponist Gustav MahlerMahler, Gustav nach WienWien. »Kunst kennt kein Vaterland«, glaubten die kreativen Innovatoren jener Jahre, und so nutzten sie die Gelegenheit, neue Stile, etwa abstrakte Malerei oder Zwölftonmusik, von einer Hauptstadt zur anderen weiterzureichen. Offizielle, aber auch unabhängig organisierte Ausstellungen, Darbietungen in etablierten Konzerthallen oder an unautorisierten Orten hielten sowohl die Fachwelt als auch das große Publikum auf dem Laufenden. Kritiken in Zeitungen schufen ebenfalls eine internationale Debatte, bei der die Herkunft der besprochenen Werke und Urheber keine Relevanz besaß. Ein internationaler Kunstmarkt und internationale Konzertagenturen organisierten diesen Austausch. Viele der Künstler und Musiker, die ihren Durchbruch noch nicht geschafft hatten, führten zudem ein Bohème-Leben, für das die Nationalität gleichgültig war.6

Ein weiterer Bereich wachsender transnationaler Kooperation zwischen den Ländern Europas war die wissenschaftliche Forschung. Zwar wollten Institutionen wie das Deutsche Museum in MünchenMünchen auch nationale Leistungen präsentieren, doch um den Wert wissenschaftlicher Entdeckungen und technischer Innovationen zu beurteilen, war man auf internationale Begutachtung angewiesen. Dank disziplinärer Spezialisierung und akademischer Professionalisierung entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine internationale Gelehrtengemeinschaft, die eifrig bestrebt war, Informationen auszutauschen. Die Bildung nationaler Forschungsgesellschaften mit eigenen Zeitschriften und Tagungen zog nach sich, dass internationale Körperschaften, Organisationen und Kongresse ins Leben gerufen wurden. Dort konnten Wissenschaftler sich zusammenfinden und ihre Resultate einer größeren Öffentlichkeit präsentieren. Obwohl die finanzielle Förderung solcher Institutionen aus staatlichen oder philanthropischen Mitteln national blieb, zogen die hervorragendsten Einrichtungen Gelehrte vom ganzen Kontinent an. So kam es etwa, dass Albert EinsteinEinstein, Albert aus einem Schweizer Patentamt an die Berliner Universität wechselte.7 Internationale Preise wie jene, die der Schwede Alfred NobelNobel, Alfred 1900 stiftete, leisteten solcher Internationalisierung weiteren Vorschub.

Die Pazifisten engagierten sich besonders nachdrücklich für die Erhaltung des Friedens. 21 einschlägige Kongresse veranstalteten sie vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam zum religiösen Impuls der Quäker für die Gewaltfreiheit die weltlichere Überzeugung hinzu, dass »Krieg unter zivilisierten Menschen ein Verbrechen« sei. In Frankreich wollten einige radikale Republikaner an das universalistische Erbe der Französischen Revolution anknüpfen, indem sie Institutionen einer internationalen Konfliktregelung forderten, während andere sogar der europäischen Integration das Wort redeten. Im deutschsprachigen Bereich profilierte sich auf diesem Gebiet namentlich die mutige Freifrau Bertha von SuttnerSuttner, Berta von, die in ihrem Bestseller Die Waffen nieder! sich der Militarisierung der Gesellschaft entgegenzuwerfen versuchte, indem sie die furchtbaren Folgen des Krieges für die Zivilbevölkerung aus weiblicher Sicht schilderte. In England äußerte der Publizist Norman AngellAngell, Norman sich ähnlich. Seine Studie The Great Illusion kommt gar zu dem Schluss, Krieg sei selbst für den potenziellen Sieger zerstörerisch und sollte daher als irrational betrachtet werden. Solche Appelle erregten zwar viel Aufmerksamkeit, Unterstützung fanden sie aber nur bei einer engagierten Minderheit – und doch trugen sie dazu bei, dass einschlägige internationale Konventionen unterzeichnet wurden, so die Haager Landkriegsordnung.8

Die Zweite Internationale der Arbeiterbewegung stellte sich ebenfalls gegen den Krieg, getreu Karl Marx'Marx, Karl Diktum: »Die Arbeiter haben kein Vaterland«. Anfangs widmeten die Sozialisten einen Gutteil ihrer Energie der Überwindung der Feindschaft zwischen Frankreich und Deutschland, da die Gewerkschaften und die eigenen Parteien in diesen Ländern strukturell wie organisatorisch am besten entwickelt waren. Auf mehreren internationalen Kongressen diskutierten die politischen Führer und die theoretischen Köpfe der Bewegung – darunter Karl KautskyKautsky, Karl, Jean JaurèsJaurès, Jean, Rosa LuxemburgLuxemburg, Rosa und Wladimir I. Uljanow alias LeninLenin, Wladimir I. ihre künftige Strategie: Sollte man Revolution oder Evolution anstreben? Wozu die einzelnen Vertreter neigten, hing von der Heftigkeit der Repression in ihrem Lande ab. Man debattierte intensiv per Brief, in Theoriejournalen wie der Neuen Zeit und bei persönlichen Begegnungen, um eine marxistische Analyse der Entwicklung des Kapitalismus zu erstellen sowie auf dieser Grundlage Möglichkeiten eines gemeinsamen Handelns zu eruieren. Die Millionen, die den Gewerkschaften und den sozialdemokratischen Parteien anhingen, mochten sich jedoch nicht so recht aus ihren nationalen Kontexten herausbewegen.9 Eine ähnliche Stimme, die sich für Veränderungen zum Frieden hin einsetzte, war die internationale Frauenbewegung, die während der letzten Jahrzehnte vor dem Großen Krieg rasch anwuchs.10

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

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