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Muster der Machtgewinnung

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Im Nachhinein erscheint immer noch erstaunlich, dass ein paar wenige Europäer es schafften, ihnen zahlenmäßig weit überlegene Völker und riesige Territorien zu unterwerfen, indem sie schlicht die Vorteile nutzten, welche die Moderne ihnen beschert hatte. Gewöhnlich erweiterten sie lediglich das Eindringverfahren, dessen sich bisher die Forscher, Händler und Missionare bedient hatten, sodass sie auch politische Herrschaft erringen konnten, und zwar, indem sie sich in lokale Konflikte einmischten. In IndienIndien gelang es etwa hunderttausend Engländern, einen ganzen Subkontinent, bevölkert von Abermillionen Menschen, unter ihre Kontrolle zu bringen. Zu diesem Zweck kombinierten die britischen Raj politische Kontaktpflege zu lokalen Prinzen oder Eliten mit dem gelegentlichen Einsatz militärischer Gewalt gegen ihre Feinde. In Deutsch-OstafrikaDeutsch-Ostafrika unterwarfen sich wenige tausend Soldaten und Administratoren erfolgreich ein beträchtliches, von mehreren Millionen Stammesleuten bewohntes Areal, indem sie Allianzen mit Angehörigen zuvor besiegter Stämme eingingen. Gab es hier und da Rückschläge, sandte die Metropole zusätzliche Ressourcen oder Soldaten, um den Druck zu verstärken. Einmal an der Macht, setzten die Europäer darauf, als übergeordnete Organisation Frieden zwischen den Stämmen zu stiften; mit ökonomischen Anreizen und symbolischen Belohnungen wollte man die Kolonisierten daran gewöhnen, dass Fremde sie beherrschten.1

Eine andere Methode war der rücksichtslose Einsatz von Militär, der sich zu jener exzessiven Gewalt der Kolonialkriege steigerte, in der Technik und Organisation strategische Unzulänglichkeiten kompensieren mussten. So schlugen am 2. September 1898 in der Schlacht bei OmdurmanOmdurman 8000 reguläre britische Soldaten, unterstützt von 17 000 lokalen Hilfskräften, fast 50 000 Derwische in die Flucht, um Englands Kontrolle über den Oberlauf des Nils wiederherzustellen. Während dem General der Eroberer, Sir Herbert KitchenerKitchener, Herbert, leistungsstarke Waffen zur Verfügung standen – Artillerie, Maschinengewehre und Kanonenboote –, waren Kalif AbdullahsKalif Abdullah numerisch überlegene Truppen nur mit Speeren, Säbeln und Vorderladerflinten ausgerüstet. Infolgedessen wurden rund 10 000 seiner Leute getötet, 13 000 verwundet und anschließend ermordet sowie 5000 gefangen genommen. Dagegen erlitten die Briten bescheidene Verluste: 47 fielen, 382 wurden verwundet. Dank der europäischen Überlegenheit war jener Kampf »keine Schlacht, sondern eine Exekution«. So berichtete der junge ChurchillChurchill, Winston über jenen vernichtenden Sieg, der zur sich selbst verstärkenden Legende des Imperiums wurde. Brutalität gegen die Urbevölkerung war daher wesentlich, um mit numerisch begrenzten Kräften eine hohe Überzahl von Einheimischen in Schach zu halten.2

Eine weitere Strategie bestand darin, dem Handel neue Gewinnmöglichkeiten über die lokale Ebene hinaus zu eröffnen. Man errichtete eine neue Infrastruktur, um die kolonialen Ressourcen besser ausbeuten zu können. Damit Dampfschiffe anlegen konnten, wurden Häfen gebaggert wie San JuanSan Juan in Puerto RicoPuerto Rico; Kais, Kräne und Zollhäuser wurden gebaut, um den Transfer von Massengütern zu erleichtern. Gleichzeitig machte man das Landesinnere zugänglich: Aus Pfaden wurden Straßen, auf denen Lastkraftwagen fahren konnten; man konstruierte Eisenbahnen, mit denen sich mehr Menschen und Produkte über weitere Entfernungen transportieren ließen. Entlang dieser Route wurden Handelsstationen eingerichtet, um die weißen Siedler zu versorgen und in Massenproduktion hergestellte Güter an die Einheimischen zu verkaufen. Im KongoKongo ersetzte die Überschusswirtschaft auf Plantagen die bisherige Subsistenzwirtschaft. Kaffee und Bananen sollten in so großen Mengen zur Verfügung stehen, dass sich die Ausfuhr per Schiff auch lohnte. In SüdafrikaSüdafrika grub man Bergwerke verschiedenster Art, um Diamanten oder Metalle wie Kupfer und Silber aus dem Boden zu holen.3 Solche Innovationen intensivierten die Ausbeutung der Ressourcen und verbanden die koloniale Produktion mit den Weltmärkten; und sie brachten auch den Kolonisierten – zumindest einigen – einen Hauch des europäischen Lebensstils.

Dieses imperiale System beruhte darauf, dass die sozialen Schichten einer Kolonialgesellschaft streng nach Rassen sortiert waren; es stand eindeutig fest, wer die Herren waren und wer die Beherrschten. Im Prinzip teilte sich die Kolonialgesellschaft wie folgt: Oben stand die herrschende weiße Klasse, auf Zwischenhöhe eine Gruppe subalterner Helfer, und schließlich, ganz unten, die ausgebeuteten lokalen Arbeitskräfte. Die Wirklichkeit war natürlich oft komplexer, denn es existierte ja eine parallele einheimische Hierarchie, die sich den neuen Machtverhältnissen anpassen musste. Entweder wurde sie fundamental umgeformt oder schrittweise aufgelöst. Gelegentlich mischten sich jedoch die beiden Sphären, was das Aufrechterhalten scharfer Abgrenzung erschwerte. Einige Europäer wurden zwangsläufig »Einheimische«; umgekehrt wollten die Söhne der lokalen Elite, nachdem sie europäische Universitäten besucht hatten, nicht länger untergeordnete Rollen spielen. Aber mochten auch einige Weiße sich von der Landschaft faszinieren lassen oder Zuneigung zur lokalen Bevölkerung entwickeln – manche Memoirenliteratur hat diesen Vorgang romantisiert, etwa Karen BlixensBlixen, Karen autobiografischer Roman Out of Africa (dt. Jenseits von Afrika) –, blieb das grundlegende Verhältnis zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten nichtsdestoweniger das einer krassen Ungleichheit.4 Zudem sorgte ein ganzes Bündel an Umständen – verschiedene Sitten und Gebräuche, Apartheid-Gesetze, Einsatz physischer Gewalt – dafür, dass die beiden Welten generell doch getrennt blieben.

In der festen Gewissheit, den Fortschritt zu bringen, stülpten die Europäer ihre eigenen Institutionen den unterworfenen Völkern über. Dies manifestierte sich anschaulich in kolonialen Gebäuden, die eine kuriose Mixtur aus mutterländischen und lokalen Stilen zeigten. Den Mittelpunkt einer kolonialen Verwaltungshauptstadt bildete gewöhnlich ein Gouverneurspalast wie etwa der in WindhoekWindhoek: eine strahlend weiße Konstruktion mit Verandas und Gartenanlagen, die sich für Administration und Repräsentation gleichermaßen eignete. Ebenso brauchten die neuen Herren Kasernen, denn man musste ja Militär und Polizei unterbringen, derer man zur Aufrechterhaltung der Ordnung bedurfte. Da die Kolonisatoren oft krank wurden, mussten sie Hospitäler bauen lassen, ausgestattet mit weißen Ärzten, denen schwarze Schwestern zur Hand gingen. Ferner gab es Kirchen, die sowohl die Kolonisatoren als auch die Frischkonvertierten seelsorgerisch zu betreuen hatten. Auch Schulen nach europäischem Muster wurden geschaffen, Lehranstalten aller Stufen, vom Primar- bis zum Sekundarbereich. Schließlich entstanden in gesundheitlich besonders unbedenklichen Gegenden Villen mit viel Grün drumherum; in ihnen wohnten die Weißen samt ihrer Dienerschar. Abseits des Trubels jener Städte, in denen die Einheimischen hausten, bildeten diese repräsentativen Bauten, Denkmäler des europäischen Lebensstils, eine Parallelwelt, in der sich Kolonisatoren und Kolonisierte kaum je begegneten.5

Wie weit den Europäern der Zugriff gelang, hing von zweierlei ab: erstens vom Druck der imperialen Modernisierung, zweitens vom Entwicklungsstadium der lokalen Kultur. Gab es nur einige indigene Stämme, gelang den Kolonisatoren problemlos die komplette Inbesitznahme, und Versuche einer Rebellion wurden rasch zerschlagen. Eine solche »vollständige Abhängigkeit« charakterisierte Kolonien reinsten Wassers wie den belgischen KongoKongo und das portugiesische AngolaAngola. Wo höher entwickelte lokale Kulturen existierten, komplexere Religionen und stärker ausgebildete Formen politischer Organisation, war der europäische Einfluss begrenzter, sodass lokale Strukturen überlebten. Solche »halbautonomen« Regime oder Protektorate gab es in ÄgyptenÄgypten und MarokkoMarokko, obwohl sie formell zum britischen bzw. französischen Imperium gehörten. Wenn die indigene Bevölkerung eine lange Tradition der Unabhängigkeit und eine Kultur hohen Niveaus besaß, so hielten diese Faktoren die Kolonisateure davon ab, den ganzen Staat zu annektieren. Die Imperialisten konnten dann nur Landeköpfe an der Küste einrichten oder politischen Druck ausüben. Typische Beispiele eines solchen extrem lockeren imperialen Regiments waren ChinaChina und das Osmanische Reich.

Die europäische Herrschaft fußte also auf einer komplexen Mischung aus imperialistischer Macht und lokaler Mitwirkung. Natürlich war militärische Stärke wichtig, namentlich zu Beginn, als man Eroberungen tätigte, und auch später, als man Revolten niederschlug – wichtig ja, aber nicht hinreichend, denn die Kolonien waren zu groß und die Besatzer zu wenige. Ihr Erfolg beruhte wohl hauptsächlich darauf, dass die europäischen Generäle, Administratoren und Pflanzer sich in bestehende Strukturen einfügten, vorherige Herrscher ersetzten oder für die neue Ordnung vereinnahmten, wobei sie die unteren Ebenen der Gesellschaft weitgehend unangetastet ließen. Dazu nutzten die Kolonisatoren auch Anreize: So vergaben sie Orden und Titel und teilten ein paar ihrer finanziellen Gewinne mit Einheimischen, um sie kooperationsbereiter zu machen. Wollte man militärische Sicherheit, administrative Kontrolle und ertragreiche ökonomische Nutzung der Kolonie, brauchte man lokale Arbeitskräfte auf den niederen Rängen, und die mussten in europäischen Verfahrensweisen geschult werden, damit sie effizient funktionierten. Die entstehende Kolonialgesellschaft war daher ein hybrides Reich, in dem Ausbeutung und rassische Ungleichheit herrschten, das aber gleichzeitig modernisierende europäische Einflüsse mit verbleibenden indigenen Traditionen verschmolz.

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

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