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Kriegsgründe

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Da die Einwirkung der Modernität auf die Transformation der internationalen Beziehungen theoretisch noch nicht genügend reflektiert wurde, stoßen die meisten Erklärungen für den Kriegsausbruch 1914 nicht zu den tieferen Ursachen vor. Adam SmithsSmith, Adam Postulat des äußeren Friedens, das wertvolle Hinweise liefern könnte, scheint die Modernisierungstheorie unserer Zeit vergessen zu haben. Sie stützt sich hauptsächlich auf innenpolitische Faktoren, etwa wirtschaftliche Entwicklung, soziale Mobilisierung, Experimente in Kultur und Lebensstil und Demokratisierung, wohingegen von Zustand und Fortgang der internationalen Ordnung seltener die Rede ist. Aber wird diese Dimension erforscht, stehen sich zwei Denkschulen gegenüber: Historisch orientierte Juristen betonen häufig die Rolle des internationalen Rechts als »sanfter Zivilisator«. Als Mittel, um die Kooperation zwischen den Nationen auszubauen, regele es deren Interaktion mit bindenden Vereinbarungen und schlichte Konflikte durch Schiedssprüche.1 Neorealistische Theoretiker der internationalen Beziehungen zeigen sich jedoch skeptisch, was die Chancen des Friedens angeht, da souveräne Staaten beim Verfolgen ihrer Interessen innerhalb eines Wettbewerbssystems den Einsatz von Gewalt nicht scheuen würden – jedenfalls, solange eine zentrale, übergreifende Autorität fehle. Beide Ansätze können, jeder auf seine Weise, Licht in die Frage bringen, warum der Erste Weltkrieg ausbrach.2

Vor 1914 hatte die Entwicklung des internationalen Rechts durchaus einige Fortschritte gemacht, aber dieses Mehr an Kooperation erwies sich als noch zu schwach, um die Großmächte vom Griff zu den Waffen abzuhalten. Doch immerhin: Wenn Staaten gemeinsame Interessen hatten, wie bei der Post- und Telegrammzustellung, erleichterten ihnen internationale Vereinbarungen die Kommunikation. Stellten sich transnationale Probleme ein, etwa die Versorgung von Verwundeten auf einem Schlachtfeld, leisteten Organisationen wie das Rote Kreuz ihre Dienste ohne Ansehen der Nationalität. Trotz aller Skepsis, die ihnen entgegenschlug, gelang es den an den Haager Konferenzen Beteiligten, Regeln für den Krieg zu Lande und zur See aufzustellen. Wurde der Gebrauch von Gewalt begrenzt, diente das schließlich allen Parteien eines bewaffneten Konflikts.3 Letzten Endes aber glaubten die Nationen, der Frieden könne nur gewahrt werden, indem man potenzielle Gegner von einem Angriff abschreckte und sich der Hilfe mächtiger Verbündeter versicherte. Allianzen stabilisierten zwar kurzfristig das System, langfristig bewirkten sie aber, dass schlicht noch mehr Länder in einen Konflikt hineingezogen wurden. Es erwies sich, dass die Instrumente der diplomatischen Verhandlungen, der Vermittlung und Konfliktlösung durch internationale Konferenzen noch nicht stark genug waren, um die Kooperation am Leben zu halten.

So betrachtet agierten die europäischen Staatsmänner 1914 eher gemäß der neorealistischen Sichtweise, denn sie handelten eigennützig nur im Interesse des Landes, das sie regierten, und scherten sich wenig um das Wohl des Ganzen. Die Ideologie des Nationalismus stellte das Voranbringen der eigenen Sache über alles und teilte die Welt in gefährliche Feinde, die man bekämpfen, und potente Freunde, die man umwerben musste. Gleichzeitig betrachteten die militaristischen Denker den Krieg nicht nur als legitimes Mittel der Politik, sondern auch als zum Verfolgen der eigenen Ziele notwendiges Instrument. In allen Ländern frönten die Generäle einem »Kult der Offensive«, denn sie glaubten – und überzeugten auch die zivile Führung davon –, dass, wer den Sieg wolle, Angriffsstrategien brauche, und sei es nur, um sich wirksam verteidigen zu können. Schließlich erklärte das weitverbreitete Konzept des Sozialdarwinismus internationale Beziehungen zu einem Kampf, in dem die starken Nationen überleben und die schwachen zertreten werden würden.4 Mit solchen »stillschweigenden Voraussetzungen« im Hinterkopf waren damalige Staatsmänner zur Kooperation nur bereit, wenn sie ihre Interessen beförderte, und sie empfanden wenig Verantwortung für den Kontinent im Ganzen.

Im Gegensatz zu früheren Konfrontationen konnte die Julikrise nicht mehr gewaltlos beigelegt werden, weil alle involvierten Regierungen den Krieg bewusst riskierten. Jahrzehntelang hatte Frieden geherrscht, und die Gefahr, dass man einander angreifen werde, mutete so gering an, dass es keiner Seite notwendig erschienen war, zugunsten der Kooperation Opfer zu bringen. Jede Nation hegte Ziele – betrafen sie nun Landesverteidigung, politische Vergeltung oder territoriale Gewinne –, die sie nur erreichen konnte, wenn sie ihre Feinde einschüchterte und ihnen mit Angriff drohte. Alle Staaten hatten Angst nachzugeben, denn das wäre von ihren vermutlichen Feinden als Zeichen der Schwäche gedeutet worden – und von ihren eigenen Untertanen ebenfalls.5 Da England und Deutschland nun auf zwei verschiedenen Seiten standen, waren zudem keine Akteure mehr übrig, die erstens neutral, zweitens vermittlungsbereit und drittens stark genug gewesen wären, um den Streithähnen ihre Verhandlungslösung zu oktroyieren. Als es zur finalen Entscheidung kam, hielten die europäischen Staatsmänner und Generäle die Vorteile, die ihnen der Krieg bieten könnte, für bedeutsamer als die Verluste, die sie in einem solchen Konflikt erleiden müssten. Diese engstirnige Konzentration auf nationale Interessen bewirkte zusammen mit der Bequemlichkeit und Selbstgefälligkeit, die Jahrzehnte des Friedens in ihnen herangezüchtet hatten, dass den politischen Führungsfiguren letztlich der Wille zum Kompromiss fehlte.

Eine erschreckend destruktive Seite der Moderne wurde offenbar: Statt den Fortschritt der Zivilisation weiterzutreiben, setzten die Entscheidungen von Juli 1914 die Dämonen des Krieges frei. Die nationalistische Ausrichtung der Führungsleute verkehrte wohltätige Entwicklungen in ihr genaues Gegenteil. Technische Innovationen lieferten noch tödlichere Waffen fürs Schlachtfeld; ökonomische Entwicklungen erzeugten noch mehr Ressourcen für die Kämpfe; die soziale Mobilität drängte den Individualismus zurück und presste den Einzelnen unters Joch der Massenmobilisierung; und die gewachsenen Möglichkeiten politischer Teilhabe förderten feindselige Propaganda und deren begierige Rezeption. Nur die eigensüchtige Hoffnung im Blick, sich neue Besitztümer auf dem Kontinent aneignen zu können, wollten die Nationalstaaten Europas einander mit Hilfe ihrer kolonialen Besitztümer bezwingen. Eine effiziente Bürokratie brachte die für den Waffengang notwendigen Ressourcen auf den Weg, und ein modernes Militär arbeitete Mobilisierungspläne und Strategiekonzepte aus, die einen leichten Sieg versprachen.6 Zurückhaltungsgebote verhallten, weil kein übergreifendes System existierte, das sie hätte durchsetzen können. Folglich versank Europa in einen gegenseitigen Vernichtungskrieg, der beinahe den ganzen Kontinent zerstört hätte.

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

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