Читать книгу Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch - Страница 27
Kriegsziele und Friedensbemühungen
ОглавлениеDer Erste Weltkrieg zog sich weiter hin, weil beide Seiten Ziele verfolgten, die nur durch einen klaren Sieg erreicht werden konnten. Wer da irgendwelche Friedensfühler ausstreckte, war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Um öffentliche Unterstützung zu mobilisieren, behaupteten Regierungen, sie wollten ihre Länder gegen fremde Aggressoren verteidigen. Entsprechend appellierten sie an den Patriotismus selbst der Arbeiterschichten, die ihnen doch bisher wegen ihres Internationalismus verdächtig waren. Gleichzeitig verlangten Militärstrategen, ökonomische Interessengruppen und chauvinistische Propagandisten handfeste, vorzeigbare Gewinne, denn die brauche man dringend, um all die erlittenen Verluste an materiellen Gütern und Menschenleben wettzumachen. Dabei erhoben sie Ansprüche von gewaltiger Größenordnung, die sich nur erfüllen ließen, wenn die Feinde vollständig geschlagen würden. Hinzu kam, dass diverse Geheimabkommen wie der Vertrag von LondonLondon zwischen der Entente und Italien Gebietsgewinne und andere Belohnungen in Aussicht stellten; manche dieser Zusicherungen widersprachen einander freilich. Welche Ziele man sich steckte und in welchem Umfang, schwankte mit dem jeweiligen Schlachtenglück. Die Erfordernisse der Massenpolitik trieben die Kabinette mehr und mehr in einen Zwiespalt zwischen der Verfolgung begrenzter, aber vielleicht realisierbarer Ziele und der Notwendigkeit, den Enthusiasmus des Publikums durch kompromisslose Rhetorik hochzupeitschen.
Unter den Mittelmächten war Österreich die verwundbarste, denn ihr setzte separatistische Stimmungsmache seitens der Serben und Tschechen zu. Das alte Habsburgerreich, organisatorisch eine Doppelmonarchie, wurde gleichzeitig von WienWien und von BudapestBudapest aus regiert. Ersteres geschah mit der Unterstützung der deutschen Bevölkerung, Letzteres aufgrund der Dominanz der Ungarn im BalkanraumBalkan. Die multiethnische Struktur, gegen die nun die nationalistischen Agitatoren anrannten, wurde zusammengehalten von dem betagten Kaiser Franz JosephFranz Joseph I. (Österreich-Ungarn), einer zentralen Bürokratie, einer imperialen Armee und einer handeltreibenden Mittelschicht, innerhalb derer die Juden eine größere Rolle spielten. Um weiteren Aufruhr zu unterbinden, beschloss die Wiener Regierung, Serbien zwischen Ungarn und Bulgarien aufzuteilen, auch wenn die Magyaren wenig Begeisterung dafür zeigten, dass künftig noch mehr Serben ihr Territorium bevölkern sollten. Da die Polen in GalizienGalizien sich überwiegend loyal zu Habsburgs Krone verhielten, weil sie unter ihr mehr Freiheiten genossen als ihre russisch oder preußisch regierten Brüder und Schwestern, wollte Österreich außerdem nach ZentralpolenZentralpolen expandieren. Welche Ziele es sich auch im Einzelnen setzte – schlussendlich kämpfte Wien um das schiere Überleben des Habsburgerstaates.1 Ganz ähnlich rang das Osmanische Reich mit separatistischen Bewegungen in seinen Gebieten um den Fortbestand seiner Existenz.
Die Kriegsziele der Deutschen waren ein nicht minder paradoxes Amalgam aus der Verteidigung ihrer kontinentalen Position und der Expansion, die sie anstrebten, um ein global player zu werden. Das halbkonstitutionelle System mit dem sprunghaften Kaiser Wilhelm II. Wilhelm II.an der Spitze vermittelte mühsam zwischen zwei Kräften: einem starken Militär hier und einer schwächeren zivilen Führung dort, die auf die Unterstützung des Reichstags angewiesen war. Mitten im ersten Vorstoß der Armee erstellte der Sekretär des Kanzlers Bethmann HollwegBethmann-Hollweg, Theobald von, Kurt RiezlerRiezler, Kurt, ein geheimes Konzept, das sogenannte Septemberprogramm, zur »Sicherung des Deutschen Reiches nach West und Ost auf erdenkliche Zeit«. Indem man Luxemburg, AntwerpenAntwerpen und das lothringische Eisenerzbecken von Logwy-BrieyLogwy-Briey annektierte, wollte man Frankreich schwächen; indem man einen Grenzstreifen in Polen und Vasallenstaaten im Osten schuf, wollte man Russland territorial zurückdrängen; indem man eine mitteleuropäische Handelsunion aufbaute, wollte man die Kontrolle über den Kontinent gewinnen; und indem man ein zusammenhängendes mittelafrikanisches Zentralreich errichtete, das den Einbezug auch der Kolonien anderer europäischer Staaten erforderte, wollte man die deutschen Besitztümer in Übersee sichern und ausbauen. Hier und da gemäß der aktuellen militärischen Situation leicht abgewandelt, wurden diese Ziele von einer Kriegszielbewegung lauthals proklamiert, die die offizielle Lesart Lügen strafte, man kämpfe nur zur Selbstverteidigung. In solcher Atmosphäre hatten Ansätze zu Verhandlungen über einen Separatfrieden keine Chance.2
Die Planungen der Entente waren nicht minder umfassend, denn auch sie zielten auf eine fundamentale Schwächung ihrer Gegner. Das zaristische Russland mit seiner autokratischen Herrschaftsstruktur, nur mäßig relativiert durch die Duma, und seiner ökonomischen Rückständigkeit brachte seine westlichen Verbündeten in Verlegenheit, denn es passte schlecht zu dem propagierten Image, man verteidige gemeinsam die Demokratie. Der russische Außenminister Sergej SasonowSasonow, Sergej erklärte, sein Land habe als »Hauptziel, der Macht Deutschlands entgegenzuwirken und dessen Streben nach wirtschaftlicher und politischer Dominanz zu durchkreuzen«. Konkret bedeutete das die Annexion einiger preußischer Gebiete und die Eroberung ganz Polens, dem Russland aber eine nicht näher bestimmte Autonomie zusagte. Den österreichischen Rivalen wollte man schwächen, indem man bestimmten ethnischen Minderheiten, die derzeit noch unter habsburgischer Oberhoheit lebten, »Freiheit und die Verwirklichung ihrer nationalen Träume« versprach; man dachte hier namentlich an die Tschechen. Vom Osmanischen Reich verlangte die russische Führung die Kontrolle über den Bosporus, um freie Zufahrt zum Mittelmeer zu erhalten; auch beanspruchte sie einige Territorien im Kaukasus.3 PetersburgSankt Petersburg (Leningrad, Petrograd) verfolgte derart ehrgeizige Ziele, dass es alle Initiativen BerlinsBerlin zu einem Separatfrieden zurückwies, obwohl es dadurch die Zukunft seiner Monarchie aufs Spiel setzte.
In Frankreich vereinfachte sich die Debatte um Kriegsziele durch den nationalen Konsens, dass man die nördlichen Departements von den deutschen Invasoren befreien müsse. Obwohl innerhalb der Dritten Republik ein Grundkonflikt bestand zwischen einer nationalistischen Rechten und einer internationalistischen Linken, waren sich alle Parteien einig, dass ein Rückgewinn der »verlorenen Provinzen« Elsass-LothringenElsass-Lothringen anzustreben sei. Damit gehorchte man den Wünschen der dortigen frankophonen Bourgeoisie, wohingegen die Vorbehalte der einfachen Leute, von denen nicht wenige Deutsch sprachen, keine Beachtung fanden. Auch hinsichtlich der Forderungen, dass Belgien wieder unabhängig werden und ein geschlagenes Deutschland Reparationen zahlen müsse, gab es keine Meinungsverschiedenheiten. Gedrängt durch Nationalisten wie Georges ClemenceauClemenceau, Georges, beabsichtigte die französische Regierung insgeheim außerdem, das linke Rheinufer zu annektieren oder, wenn dies nicht gelang, wenigstens einen separaten rheinischen Staat zu schaffen und das Saarbecken zu erobern, obwohl diese Gebiete unbestritten mehrheitlich deutsch bevölkert waren. Ferner entwickelte Paris weitreichende Pläne für eine Teilung des Nahen Ostens mit den Briten, deren Details im geheimen Sykes-Picot-Abkommen festgelegt wurden. Gleichzeitig versicherte man den Russen, man werde ihre Ambitionen hinsichtlich des Bosporus unterstützen, wenn diese ihrerseits die Expansion des französischen Staatsgebiets zum Rhein hin akzeptierten. Festzustehen schien vor allem, dass Frankreichs Sicherheit nur gegen Deutschland zu erreichen war.4
Die Briten gaben sich öffentlich weniger vergeltungssüchtig gegenüber Deutschland, doch hinter den Kulissen verfolgten sie durchaus eigene Interessen und suchten ihre Position wesentlich zu stärken. In einer konstitutionellen Monarchie musste das Kabinett sorgsam Rücksicht nehmen auf das Unterhaus, in dem einige linke Abgeordnete saßen, die für Annexionismus wenig übrighatten. Und doch gab es in einigen Punkten breite Einigkeit: Belgien musste wieder souverän und die kaiserliche Flotte zerstört werden, die Kolonien des Reiches hatten – dies verlangten auch die dominions – an England zu fallen. LondonLondon blieb zurückhaltend, was die Verschiebung von Grenzen auf dem Kontinent und dem BalkanBalkan betraf, wenn es auch rein rhetorisch Sympathie für nationale Befreiungsbewegungen äußern mochte. Handfester engagierten sich die Engländer woanders: Sie verteidigten nach Kräften die ihnen streitig gemachte Schutzherrschaft über den SuezkanalSuezkanal und förderten eine Rebellion arabischer Untertanen gegen das Osmanische Reich, um sich im Nahen Osten durchzusetzen. Auch im Wettbewerb um die Gunst der Juden hatte LondonLondon die Nase vorn, da in seiner Balfour-Deklaration die Schaffung eines israelischen Heimatstaates befürwortet wurde – was sich freilich nicht so recht mit einigen Versprechen vertrug, die man den arabischen Scheichs gegeben hatte.5 Kurz, die Briten wollten Deutschland als Konkurrenten ausschalten, ohne das Gleichgewicht der Kräfte auf dem Kontinent gar zu sehr zu beeinträchtigen.
Angesichts solch extensiver Kriegsziele auf beiden Seiten hatten Versuche der Friedensstiftung von vornherein kaum Erfolgsperspektiven; die Vorstellungen lagen für einen Kompromiss einfach zu weit auseinander. Im LondonerLondon Abkommen hatten die Entente-Führer explizit bekräftigt, kein ihrem Bündnis angehöriges Land werde jemals einen Separatfrieden mit einer Mittelmacht schließen – und genau um einen solchen bemühte sich Berlin in der Folgezeit kontinuierlich, um seine diplomatische »Einkreisung« zu durchbrechen. Amerika sandte Präsident Woodrow WilsonsWilson, Woodrow Vertrauten Colonel Edward HouseHouse, Edward als Vermittler, doch auch sein Vorschlag war zum Scheitern verurteilt. Denn er forderte u. a. die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Belgiens, die Abtretung Elsass-LothringensElsass-Lothringen und den Zugang der Russen zum Mittelmeer, begünstigte also die Entente. Die Mittelmächte fanden die damalige militärische Situation jedoch immer noch derart verheißungsvoll, dass sie lieber unverändert auf den Waffengang setzten. Im Dezember 1916 aber wuchs der heimische Druck auf die deutsche Regierung so stark an, dass sie sich gezwungen sah, selbst ein Friedensangebot zu lancieren. Was die Deklaration der deutschen Reichsleitung anbot bzw. verlangte, war die Rückkehr zu einem im deutschen Sinne verbesserten status quo ante, der jedoch der Entente nicht sonderlich attraktiv erschien. Nun schaltete sich der US-PräsidentWilson, Woodrow ein und auch der PapstBenedikt XV., doch die Antworten beider Parteien wuchsen sich lediglich zu einem Propagandawettbewerb aus, in dem jede Seite nach außen möglichst friedfertig wirken, den Krieg aber munter fortführen wollte.6
Das Scheitern der Friedensbemühungen legte den Schluss nahe, dass der moderne Krieg der Kontrolle der Kabinettsdiplomatie entglitt. War durch Appelle an die Leidenschaften des Volkes erst einmal Massenunterstützung erreicht, ließen sich keine Kompromisse mehr erzielen. Nun müsse es handfeste Gewinne geben, damit sich der hohe Blutzoll auch gelohnt habe, drängten die Chauvinisten und verlangten die unbedingte Unterstützung der Öffentlichkeit, die den Regierungen der kriegführenden Länder effektiv die Hände band. Die annexionistischen Kriegsziele untergruben jedoch zunehmend die Glaubwürdigkeit der Behauptung, man kämpfe um der nationalen Verteidigung willen – die im Sommer 1914 die Bevölkerungen der betroffenen Staaten noch mehrheitlich überzeugt hatte. Angesichts materieller Entbehrungen und des Verlustes von Familienmitgliedern wurden die meisten Europäer jedoch des Gemetzels allmählich müde, denn sie mochten nicht glauben, dass die unklaren, in sich widersprüchlichen Ziele ihrer Eliten weiteres Leiden wert seien. Daher fanden Linkssozialisten und Pazifisten mit ihrer Agitation gegen den Krieg immer mehr Anhänger, und die waren sogar bereit zu streiken, um die sinnlose Schlächterei zu beenden. Statt zur Vorkriegsordnung zurückzukehren, strebten die enttäuschten Regierungen jedoch weiterhin nach dem absoluten Sieg.7