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Roter Oktober

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Da die bolschewistische Machtergreifung aus dem Nichts zu kommen schien, sind die Gründe für ihren überraschenden Erfolg bis heute heiß umstritten. Zweifellos hat die verfehlte Politik der Provisorischen Regierung die sich immer weiter steigernde Radikalisierung begünstigt; in dieser Hinsicht folgte die Entwicklung dem Muster der Französischen Revolution eineinviertel Jahrhunderte zuvor. Doch seltsamerweise half die Enttäuschung, die KerenskiKerenski, Alexander dem Volke bereitete, nicht den Sozialrevolutionären und Menschewiki, sondern stärkte vielmehr die Bolschewiki. Eine traditionelle These macht das unterschiedliche Abschneiden der linken Gruppierungen wesentlich an LeninLenin, Wladimir I. fest, der klarsichtiger und skrupelloser geführt habe als seine Konkurrenten. Sowjetische Apologeten meinten dagegen, die bolschewistische Programmatik – ›Brot, Land und Frieden‹ – habe eben mehr und mehr Anklang im Volke gefunden. Dadurch sei ihrer Machtübernahme eine Aura der Legitimität erwachsen, die den anderen fehlte.1 Im Gegensatz dazu betonen postsowjetische Kritiker des untergegangenen Systems, die kommunistische Machtergreifung sei eigentlich das Ergebnis eines Staatsstreichs gewesen. War die »Glorreiche Oktoberrevolution« also ein Triumph der Graswurzeldemokratie – oder der Putsch einer radikalen Minderheit, der zwangsläufig zur Diktatur führte?

Es ist schwierig, den Beitrag von Lenins Führerschaft zum Gelingen der Revolution genau zu bemessen, denn der Kult um seine Person hat ihn zu einer überlebensgroßen Figur mit außergewöhnlichem Charisma stilisiert. Unter dem Namen Wladimir I. UljanowLenin, Wladimir I. in eine liberale Lehrerfamilie hineingeboren, schien er prädestiniert für eine vielversprechende juristische Laufbahn. Doch als sein älterer Bruder wegen Beteiligung an einem terroristischen Attentat hingerichtet wurde, gelobte WladimirLenin, Wladimir I., Revolutionär zu werden, und schloss sich dem radikalen Flügel der Arbeiterbewegung an. Um sich seinen zaristischen Verfolgern und einer möglichen Verbannung nach Sibirien zu entziehen, emigrierte er in die Schweiz, wo er sich eine theoretische Position erarbeitete. Konkret versuchte er, die marxistischen Strukturanalysen auf das rückständige Russland anzuwenden. Während jener Jahre legte er sich das Pseudonym »Lenin« zu, gewöhnte sich einen spartanischen Lebensstil an und wurde der Prototyp dessen, was er in seinen Schriften »Berufsrevolutionär« nannte. Er publizierte zahlreiche Pamphlete, darunter Was tun? (1902), die ihm einen Ruf als brillanter Theoretiker einbrachten; viele attestierten ihm eine imposante Fähigkeit, sozialistische Ideen auf konkrete politische Situationen zu übertragen. Den Ersten Weltkrieg brandmarkte er als einen imperialistischen Kampf. LeninLenin, Wladimir I. beeindruckte seine Genossen mit seinem eisernen Willen und seiner totalen Hingabe an die Sache, aber er hatte weiterhin Schwierigkeiten, sie von jenen seiner Erkenntnisse zu überzeugen, die das Taktische betrafen.2

Genauso wichtig war freilich, dass die bolschewistische Partei dank ihrer kompromisslosen Gegnerschaft zum Krieg und ihrer Brot-und-Land-Versprechen immer mehr an Attraktivität gewann. Im Untergrund hatte die Partei eine ganze Schar talentierter Individuen angezogen, so Leo TrotzkiTrotzki, Leo, Josef StalinStalin, Josef, Lew KamenewKamenew, Lew und Nikolai BucharinBucharin, Nikolai. Als diese Organisatoren nun ungehindert agieren konnten, transformierten sie die Bolschewiki von einem revolutionären Kaderverband in eine Massenorganisation, stark genug, die Macht zu übernehmen. Im Gegensatz zu den Sozialrevolutionären und Menschewiki, die sich durch ihre Teilnahme an der Provisorischen Regierung kompromittiert hatten, profitierte LeninsLenin, Wladimir I. Partei von ihrer strikten Verweigerung jeder Kooperation; und so wuchsen ihre Reihen bis Mittsommer 1917 von ein paar tausend auf eine Viertelmillion. Im Ersten Allrussischen Sowjetkongress, der im Juni 1917 tagte, bekamen die Bolschewiki nur 105 Sitze – zum Vergleich: Die Sozialrevolutionäre hatten 285, die Menschewiki 248. Aber die enttäuschten Arbeiter, Soldaten und Bauern liefen in wachsenden Scharen zu ihnen über; bei den Wahlen zum PetrograderSankt Petersburg (Leningrad, Petrograd) Stadtrat im August gaben sie den Bolschewiki ein Drittel der Stimmen, und beim Urnengang in Moskau Ende September erhielten sie die Hälfte der Sitze.3

Ein weiterer entscheidender Faktor war die Unfähigkeit der Provisorischen Regierung, die Sowjets unter Kontrolle zu bekommen und die militärische Disziplin aufrechtzuerhalten. Als Anfang Juli ein Maschinengewehrregiment zur Front befohlen wurde, fanden sich Arbeiter und Soldaten zu einem Massenprotest zusammen, marschierten in die PetrograderSankt Petersburg (Leningrad, Petrograd) Innenstadt und riefen: »Alle Macht den Sowjets!« Mit einer spontanen Revolte konfrontiert, warnte LeninLenin, Wladimir I.: »Wenn wir jetzt die Macht ergreifen, wäre es naiv zu glauben, wir könnten sie behalten.« Da die Bolschewiki nur eine kleine Minderheit seien, sollten sie warten, bis sie mehr Rückhalt gewonnen hätten. Ihre Weigerung, sich an die Spitze der Menge zu stellen, rettete die Provisorische Regierung – vorerst. KerenskiKerenski, Alexander wurde freilich auch von rechts bedroht. Im August überredeten verängstigte bürgerliche Parlamentarier und zaristische Offiziere General Lawr G. KornilowKornilow, Lawr G., mit seinen Truppen einzugreifen: Er solle Recht und Ordnung wiederherstellen und so das Land vor der drohenden Katastrophe bewahren. Als KerenskiKerenski, Alexander Gerüchte hörte, das Militär sei bereit, die Macht zu übernehmen, musste er ausgerechnet an die Arbeiter und Soldaten appellieren, sie mögen die Truppen stoppen, noch bevor diese PetrogradSankt Petersburg (Leningrad, Petrograd) erreichten. Solche Krisen demonstrierten, dass die Regierung zwischen den politischen Extremen zerrieben wurde.4

Mitte September schien LeninLenin, Wladimir I. die Zeit reif für einen Aufstand unter bolschewistischer Ägide. Aus seinem sicheren Exil in Finnland mahnte er seine Gefolgsleute: »Die Bolschewiki haben in den Arbeiter- und Soldatenräten beider Hauptstädte die Mehrheit. Jetzt können und müssen sie die Macht in ihre eigenen Hände nehmen.« Da er befürchtete, KerenskiKerenski, Alexander könnte, wenn die Konstituierende Versammlung eine demokratische Verfassung beschlösse, eine dadurch legitimierte Regierung bilden, bevorzugte LeninLenin, Wladimir I. ein Mandat durch das Volk: »Die Mehrheit des Volkes ist auf unserer Seite«. Ohne Rücksicht auf demokratische Formalitäten befürwortete er, mit einer »bewaffneten Erhebung in PetrogradSankt Petersburg (Leningrad, Petrograd) und MoskauMoskau« das parlamentarische Regime zu stürzen: »Die Geschichte verzeiht uns nie, wenn wir jetzt nicht die Macht ergreifen.« »Nein, tausendmal nein«, hielt KamenewKamenew, Lew dagegen, denn ein verfrühter Putsch, so seine Sorge, würde die Revolution vereiteln. Aber nach einer heftigen Debatte überzeugte LeninLenin, Wladimir I. auch ihn, ebenso wie andere störrische Parteiführer, und es begannen die Vorbereitungen für die Machtergreifung.5 Dieses Wagnis beruhte auf dem Kalkül, die Bolschewiki könnten die neuen revolutionären Militärkomitees dominieren, die inzwischen sämtliche Truppenbewegungen in der Hauptstadt und um diese herum kontrollierten.

Ironischerweise lieferte die Provisorische Regierung selber Ende Oktober den Vorwand für die Erhebung. Nachdem er gehört hatte, dass etwas im Gange war, befahl KerenskiKerenski, Alexander die Schließung zweier bolschewistischer Zeitungen und wollte außerdem die Führer des Petrograder Militärischen Revolutionskomitees verhaften lassen. Die Bolschewiki gaben die Parole aus: »PetrogradSankt Petersburg (Leningrad, Petrograd) ist in Gefahr! Die Revolution ist in Gefahr! Das Volk ist in Gefahr!« Damit appellierten sie an die Sowjets, sich der drohenden Konterrevolution entgegenzustellen. Am Abend des 24. Oktober 1917 drängte LeninLenin, Wladimir I. seine Partei in dramatischem Ton: »Die Regierung wankt. Man muss ihr den Gnadenstoß versetzen, koste es was es wolle. Jede Verzögerung bedeutet den Tod«. Unter dem Oberbefehl TrotzkisTrotzki, Leo setzte das Petrograder Militärische Revolutionskomitee die Roten Garden in Bewegung. Diese paramilitärische Organisation bolschewistischer Freiwilliger okkupierte die Bahnhöfe, die Post- und Telegrafenämter, das Elektrizitätswerk, die Staatsbank und strategisch wichtige Straßen und Brücken. Als KerenskiKerenski, Alexander in einem Wagen der amerikanischen Botschaft floh, war der Aufstand schon erfolgreich beendet – und ohne Blutvergießen. Kein Wunder, denn die Provisorische Regierung besaß keine Truppen mehr, die sie hätte anweisen können, ihn niederzuwerfen. Entgegen der späteren Legende ergaben sich die anderen Minister im Winterpalais kampflos.6

Die Bolschewiken verloren keine Zeit und nutzten ihren Sieg, indem sie sich beim Zweiten Allrussischen Sowjetkongress sofort zur bestimmenden Kraft aufschwangen. Am Morgen des 25. Oktober verkündete ein Flugblatt, unterzeichnet vom PetrograderSankt Petersburg (Leningrad, Petrograd) Militärischen Revolutionskomitee, die Provisorische Regierung sei gestürzt: »Die staatliche Gewalt ist übergegangen in die Hände der Organe des Rates der Petrograder Arbeiter- und Soldatendeputierten.« Zur Rechtfertigung ihres Vorgehens behaupteten die Revolutionäre: »Die Ziele, für die das Volk gekämpft hat: sofortiger Abschluss eines demokratischen Friedens, Beseitigung des Eigentumsrechtes der Gutsbesitzer auf Land, Kontrolle der Arbeiter über die Produktion, Bildung einer Sowjetregierung – all dies ist gesichert«. Stürmischer Applaus empfing LeninLenin, Wladimir I., als er das Hauptquartier des Petrograder Sowjets betrat. Dort erklärte er, dies sei nun »die dritte russische Revolution« gewesen, die schließlich »zum Sieg des Sozialismus« führen werde. Obwohl die Bolschewiki nur 338 von 739 Sitzen im Allrussischen Kongress innehatten, billigte eine klare Mehrheit der Deputierten die Einrichtung einer Sowjetregierung. Im freudigen Überschwang verhöhnte TrotzkiTrotzki, Leo die unterlegenen Menschewiki: »Gehen Sie, wohin Sie gehören – auf den Müllhaufen der Geschichte!«7

Der Rote Oktober entwuchs also dem Staatsstreich einer Minderheit, der als eine Revolution des Volkes, ein Aufstand von unten inszeniert wurde. Im Gegensatz zu den Erhebungen von 1905 und Februar 1917 war die bolschewistische Machtergreifung keine spontane Graswurzelrevolte, sondern der sorgfältig geplante und geschickt ausgeführte Putsch einer radikalen Partei. Zwar konnte LeninLenin, Wladimir I. auf Anzeichen eines wachsenden öffentlichen Zuspruchs verweisen, dem die Bewegung verdankte, dass die Stimme des Bolschewismus innerhalb der Revolutionsräte überall in Russland jetzt lauter klang. Mit der Forderung »Frieden, Brot und Land« sympathisierten eben viele, weshalb sie LeninsLenin, Wladimir I. Leuten ja auch Mehrheiten in den Militärischen Revolutionskomitees beschert hatte, welche die Truppen um PetrogradSankt Petersburg (Leningrad, Petrograd) und MoskauMoskau kontrollierten. Aber nach klassischem Demokratieverständnis war die bolschewistische Machtübernahme keine Revolution durch, sondern für das Volk. LeninLenin, Wladimir I. und seine Partei mochten sich nicht mit den formalen demokratischen Mechanismen abgeben, denn sie glaubten in rousseauistischer Manier, dass sie schon wüssten, was für das russische Volk das Richtige sei; deswegen waren sie auch bereit, es in ihre Gefolgschaft zu zwingen.8 Während der bolschewistische Coup im Inland wilde Turbulenzen auslöste und seine Gewaltsamkeit die Mittelklassen in ganz Europa erschreckte, sahen Russlands kriegsmüde Soldaten und Arbeiter die Oktoberrevolution als Fanal der Hoffnung auf Frieden und Gleichheit.

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

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