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Die Provisorische Regierung

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Der Zusammenbruch der alten Ordnung bot eine Chance für die liberale Modernisierung Russlands. Aber die Mittelschichten mussten nun den viel weiterreichenden Forderungen der sowjetgelenkten Massen gerecht werden. Zwar war die soziale Basis der Provisorischen Regierung relativ begrenzt, aber offiziell zumindest hielt sie die Zügel der Macht in den Händen, denn den Deputierten der Arbeiter und Soldaten fehlte praktische Erfahrung, mochten sie auch eine höhere revolutionäre Legitimität besitzen. Schließlich einigten sich beide Gruppen Anfang März auf eine informelle Koalition, um jene Ziele zu realisieren, die sie teilten: So wollten beide die alten politischen Zwänge abschaffen, Rede- und Versammlungsfreiheit garantieren, politische Gefangene befreien, eine Verfassung erstellen, Diskriminierung beenden und die Allmacht der Polizei wie der Bürokratie begrenzen. Im ersten Interview, das er als Premierminister gab, verkündete Fürst LwowLwow, Georgi optimistisch: »Ich glaube an das große Herz des russischen Volkes, und ich bin überzeugt, dass es die Grundlage unserer Freiheit, Gerechtigkeit und Wahrheit ist.«1 Die Provisorische Regierung hatte erfahrene Leute in ihren Reihen und verfügte obendrein über internationale Unterstützung – dass sie am Ende dennoch scheiterte, kam für die Beobachter in den Hauptstädten der Alliierten überraschend.

Das neue Kabinett entfernte sich mit seinem Personal, dessen Selbstdarstellung und politischer Orientierung allmählich vom Zarismus, wagte aber keinen radikalen Bruch mit der verhassten Autokratie. Premierminister LwowLwow, Georgi, Außenminister MiljukowMiljukow, Pawel und Verteidigungsminister GutschkowGutschkow, Alexander hatten reichlich Parlamentserfahrung und waren es gewohnt, Reden zu halten, Gesetze zu entwerfen und Kompromisse auszuhandeln. Betrachten wir offizielle Fotografien des Kabinetts, sehen wir Herren (keine Dame dabei!) in dunklen Anzügen, respektable Repräsentanten, wohlhabend, gebildet und mit gravitätischer Haltung, als sollte man ihnen ansehen, wie sehr sie ihrer Verantwortung bewusst waren. Politisch kamen sie aus der Mitte und aus der gemäßigten Rechten; die Einschränkungen bei den Wahlen zur Duma hatten zur Folge, dass darin nur wenige Vertreter der unteren Klassen saßen. Der luxuriöse Lebensstil jener Minister isolierte sie von den Leiden der russischen Massen; sie lebten in Landvillen oder noblen Stadtwohnungen und hatten Bedienstete. Ihr politisches Projekt bestand darin, ihr Land zu verwestlichen, eine republikanische Verfassung zu schreiben, die ökonomische Entwicklung zu beschleunigen, die Alphabetisierung voranzutreiben und die Wissenschaften zu fördern – kurz: aus den Russen moderne Europäer zu machen.2 Solchen Führern mochte man einen graduellen Übergang zum Neuen hin zutrauen, aber keine dramatische Revolution.

Im Gegensatz dazu waren die Deputierten des Revolutionsrates Repräsentanten der aktuellen Massenstimmung; ihnen fehlte schlicht die Erfahrung, die man haben sollte, wenn man ein riesiges Land regieren will, noch dazu während eines Krieges. Selbst die Leitriege des Zentralen Exekutivkomitees im Petrograder Sowjet kannte kaum einer; das gilt sogar für Politiker wie Nikolos TschcheidseTschcheidse, Nikolos (Menschewiki) und Alexander KerenskiKerenski, Alexander (SR), immerhin führende Vertreter ihrer Parteien, und bei den Bolschewiki sah es nicht besser aus. Schnappschüsse aus der Zeit zeigen diese Leute mit vor Aufregung aufgerissenen Augen, wie sie in Lastwagen herumfahren oder auf Volksmengen einreden, wobei sie Arbeiterblusen oder Uniformröcke tragen und Gewehre in den Händen halten als Zeichen für ihre neuerrungene Macht. Nicht wenige von ihnen hatten Bildung und einen gewissen Rang erworben – Gewerkschaftsführer etwa oder Unteroffizier –, und doch standen sie dem Volk näher, denn sie hatten wie dieses Kälte, Hunger und Unrecht erlitten. Ihr »Befehl Nummer eins« ordnete die Einrichtung von Soldatenräten an, forderte politische Kontrolle über die Armee und schaffte einige exzessive Härten der militärischen Disziplin ab. Ihre politischen Ideale neigten zu einer egalitären Demokratie mit verbesserten Arbeitsbedingungen, genügend Lebensmitteln für alle und einer Rückkehr zum Frieden – all dies implizierte nicht nur eine politische, sondern auch eine soziale Revolution.3

Der zwischen der Provisorischen Regierung und den Sowjets umstrittenste Punkt war, ob der Krieg fortgesetzt werden solle. In ihm spiegelte sich das Gegeneinander von patriotischen Offizieren und defätistischen Rekruten. In den westlichen Hauptstädten wurde die Februarrevolution mit großem Enthusiasmus begrüßt, denn nun konnte man dort noch leichter und glaubwürdiger propagieren, es stehe eine Front demokratischer Länder gegen die autoritären Mittelmächte. Als bürgerlicher Liberaler wollte Außenminister MiljukowMiljukow, Pawel durchhalten, bis ein »Entscheidungssieg« errungen sei. Dabei werde man, versprach er, die Verpflichtungen gegenüber den Alliierten unbedingt einhalten, wobei ihn freilich auch die Hoffnung umtrieb, die alten expansionistischen Ziele doch noch zu realisieren. Der kriegsmüde Petrograder Sowjet war empört: Er sah keinen Grund, einen Konflikt, den Russland ohnehin verlieren würde, um den Preis weiterer Menschenleben zu verlängern. Die Moderateren in den Sowjets fürchteten nun, dass die Antikriegsdemonstrationen sich zu einem Bürgerkrieg auswachsen würden, und schlugen als Mittelweg den »revolutionären Defensismus« vor: Man solle das Vaterland weiter militärisch verteidigen, die deutschen Invasoren vom russischen Boden fernhalten, gleichzeitig aber auf einen Kompromissfrieden hinarbeiten. Die Krise fand schließlich eine Lösung, die man »Koalition der Vernunft« betitelte: Sechs Angehörige des Sowjets – sämtlich aus den Reihen der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre, darunter KerenskiKerenski, Alexander – traten mit einem Programm der radikalen Demokratisierung ins Kabinett der Provisorischen Regierung ein.4

Gerade als es den Anschein hatte, dass sich die Regierung durch diese Verbreiterung ihrer politischen Basis stabilisierte, begannen die emigrierten Radikalen zurückzukehren, die einen pazifistischeren Kurs befürworteten. Die im Exil lebenden revolutionären Führer hatten die Februarrevolution mit Begeisterung verfolgt, aber auch mit Betrübnis, denn sie hätten so gern an ihr teilgenommen. Inzwischen verfiel man in Berlin auf die Idee, einen der mächtigeren Feinde auszuschalten, indem man für Unruhe an dessen Heimatfront sorgte. Die deutsche Reichsregierung ging dabei so weit, dass sie LeninLenin, Wladimir I. und dreißig seiner Gefolgsleute in einem plombierten Zug aus der Schweiz nach Schweden schmuggelte. Von dort aus konnten sie leicht nach Russland gelangen, wo sie ihre defätistischen Positionen verbreiteten. Anderen, etwa dem Sozialrevolutionär Viktor TschernowTschernow, Viktor, dem Menschewiken MartowMartow, Julius und dem Bolschewiken Trotzki,Trotzki, Leo gelang die Heimkunft ohne fremde Hilfe; wieder andere, so Lew KamenewKamenew, Lew und Josef StalinStalin, Josef, kehrten nun aus der sibirischen Verbannung zurück. Vom russischen Patriotismus abgeschnitten, hatten sich die meisten Exilanten dem linken Flügel der Zweiten Internationale angeschlossen, der den Krieg ablehnte. Ihre Rückkehr nach Russland bescherte den kriegsmüden Massen eine intellektuelle und organisatorische Führung, die sich bemühte, die Räte vom Defensismus abzubringen.5 Während die Mittelschicht den Krieg weiterhin unterstützte, hatten Soldaten, Arbeiter und Bauern jetzt neue Argumente gegen ihn.

Um dem Zerfall der Armee entgegenzuwirken und das Selbstvertrauen der Russen wiederzubeleben, autorisierte der ehrgeizige neue Verteidigungsminister KerenskiKerenski, Alexander eine weitere Offensive. Als moderater Sozialist und Mitglied des Petrograder Sowjets unterstützte er eine Charta der Soldatenrechte; gleichzeitig aber wollte er die Autorität des Offizierskorps wiederherstellen. Mehr noch, er unternahm eine Propagandareise an die Front, und die eloquenten Plädoyers, die er dort für die Fortsetzung des Kampfes hielt, wurden mit Applaus quittiert. KerenskiKerenski, Alexander feuerte auch den bisherigen Oberbefehlshaber und ersetzte ihn durch General Alexej BrussilowBrussilow, Alexej, der als Kommandeur erfolgreicher gewirkt hatte. Am 16. Juni 1917 begann die russische Armee ihren letzten Großangriff in Galizien gegen österreichische Truppen; sie gewann dreißig Kilometer – und das war es. Am 6. Juli starteten vereinte Kräfte der Mittelmächte eine Konterattacke und brachen durch, woraufhin in wilder Hast floh, was nur fliehen konnte. Die russischen Linien lösten sich auf; viele Soldaten, sogar ganze Einheiten desertierten und sahen zu, dass sie nach Hause kamen.6 Statt das Land durch eine revolutionäre levée en masse zu retten, beschleunigte KerenskiKerenski, Alexander eine militärische Niederlage, die die Provisorische Regierung mit zu Boden riss.

Das Kabinett kam nämlich auch in den heimischen Belangen nicht recht voran, denn die Positionen der liberalen und der sozialistischen Deputierten waren prinzipiell unvereinbar. Während die Minister aus der Mittelschicht auf der Respektierung privaten Eigentums bestanden, wollten die Repräsentanten des revolutionären Sowjets die Unternehmerfreiheit beschränkende Schutzrechte für die Arbeiter und Land für die Bauern. In den Fabriken forderten Gewerkschaftssprecher den Achtstundentag, bessere Bezahlung und Mitbestimmung der Arbeiter. Auf dem Lande begannen Bauernräte, den Adeligen Boden, Vieh und Gerät wegzunehmen. An den Rändern des Imperiums erklärten ganze Völkerschaften wie die Finnen, Ukrainer und Balten ihre Unabhängigkeit, von deutschem Militär nach Kräften unterstützt. Da eine der größeren bürgerlichen Fraktionen, die Konstitutionell-Demokratische Partei – informell »die Kadetten« genannt –, die Linksdrift der Regierung missbilligte, traten ihre Mitglieder von ihren Ämtern zurück. Diese erneute Krise wurde erst beigelegt, als KerenskiKerenski, Alexander Premierminister wurde und ein Kabinett um sich scharte, in dem noch mehr Minister aus dem Petrograder Sowjet stammten. Bei den Wahlen zum Petrograder Stadtrat verlor die Kadettenpartei stark und holte nur noch 21 Prozent, die moderaten Sozialisten – Sozialrevolutionäre und Menschewiki – gewannen zusammen 44 Prozent der Stimmen. Ominöserweise legten aber auch die radikalen Bolschewiki zu, die auf 21 Prozent anwuchsen.7

Gegen Mitte des Sommers mehrten sich die Anzeichen, dass die Provisorische Regierung im Begriffe war zu scheitern, und zwar sowohl aus strukturellen als auch aus politischen Gründen. Unkooperative Konservative bremsten sie von oben, unzufriedene Radikale attackierten sie von unten; angesichts dieser Bedrängnis war die russische Mittelklasse einfach nicht groß und mächtig genug, um eine liberale Modernisierung eines so chaotischen Landes allein durchzusetzen. Zwar weigerten sich die Räte zunächst, sich an der Macht zu beteiligen, wobei ideologische Motive ebenso eine Rolle spielten wie das Wissen um die eigene Unerfahrenheit. Und doch wetteiferten sie – keineswegs erfolglos – mit der Regierung um die Gunst des Volkes, indem sie Programme einbrachten, die drastischere Veränderungen vorsahen. Zu den der »Doppelherrschaft« inhärenten Problemen kamen grundlegende politische Fehler. Der gewichtigste war die Entscheidung, den Krieg mit einer weiteren Offensive fortzusetzen, ein verzweifeltes Wagnis, das den Verfall der militärischen Autorität nur beschleunigte, und dies zu einem Zeitpunkt, da die zivile Ordnung zu schwinden begann. Nicht minder bedeutsam jedoch war der Konflikt zwischen den wirtschaftlichen Interessen der Bourgeoisie und denen der Massen: Wollte diese unbedingt das Privateigentum gewahrt sehen, wünschten sich jene ökonomische Erleichterungen durch soziale Reformen.8 Indem sie nicht verstand, dass Brot und Frieden jetzt dringlicher gebraucht wurden als eine neue Verfassung, verspielte die Provisorische Regierung die Chance auf eine demokratische Entwicklung.

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

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