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Die bolschewistische Revolution

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LeninLenin, Wladimir I. als Revolutionär, 1920

Es war der 3. April 1917, Finnischer Bahnhof, PetrogradSankt Petersburg (Leningrad, Petrograd). Kurz vor Mitternacht entstieg Wladimir I. LeninLenin, Wladimir I. dem Zug, der ihn in die russische Hauptstadt gebracht hatte. Gerade aus dem Schweizer Exil zurück, lancierte der noch nicht sehr prominente Revolutionär gleich einen bewegenden Appell zu einer »weltweiten sozialistischen Revolution«. Am nächsten Tag publizierte die bolschewistische Parteizeitung Prawda LeninsLenin, Wladimir I. zehn »Aprilthesen«, in denen er seine radikalen Ideen darlegte. Keine Unterstützung mehr für den Krieg, forderte er darin, und da die bürgerliche Provisorische Regierung ihn fortführen wolle, sei ein Bruch mit ihr unvermeidlich. Es sei nun Zeit, überzugehen »zur zweiten Etappe, die die Macht in die Hände des Proletariats und der armen Schichten der Bauernschaft legen muss«. Da LeninLenin, Wladimir I. sehr wohl wusste, dass seine Kaderpartei nur eine kleine Minderheit innerhalb der breiten revolutionären Bewegung bildete, wies er der Propaganda eine entscheidende Bedeutung zu. Diese solle »Aufklärung der Massen darüber« leisten, »dass die Arbeiterdeputiertenräte die einzig mögliche Form der Revolutionsregierung sind«.1 Mit dem Instinkt eines begabten Politikers versprach er die Abschaffung der verhassten Polizei, des Militärdienstes und des Beamtentums, dazu die Enteignung und Aufteilung des Großgrundbesitzes sowie die Kontrolle der Arbeiter über die industrielle Produktion. Um eine verwirrte Linke in Schwung zu bringen, befürwortete dieses improvisierte Programm eine zweite, radikalere Revolution.

In zahllosen Artikeln und Reden hat LeninLenin, Wladimir I. seine Vision wiederholt und verbreitet. Ihre Attraktivität gewann sie daraus, dass sie die marxistische Theorie fundamental revidierte, indem sie nämlich versprach, der Traum von der klassenlosen Gesellschaft lasse sich sofort realisieren. Die Revolutionäre müssten situationsbezogen umdenken, befand LeninLenin, Wladimir I.: Statt zu warten, bis sich der bürgerliche Kapitalismus voll entwickelt habe, solle man doch geistesgegenwärtig die Anarchie, die dem Zusammenbruch des Zarismus gefolgt sei, für die eigenen Zwecke nutzen. Keineswegs dürfe man mit der liberalen Mittelschicht aus Unternehmern und Freiberuflichen kooperieren, sondern müsse danach trachten, die Macht in die Hände der seit langem leidenden Massen zu legen – der Arbeiter, Bauern und Soldaten –, die nunmehr vertreten würden durch basisdemokratische Räte, die »Sowjets«. Nachdem sie sich gedanklich vom historischen Determinismus befreit hatten, den Karl MarxMarx, Karl und Friedrich EngelsEngels, Friedrich seinerzeit verfochten, konnten wagemutige Revolutionäre wie Leo TrotzkiTrotzki, Leo und Josef StalinStalin, Josef nun den Versuch befürworten, das schwächste Glied in der imperialistischen Kette zu brechen. Dazu müsse man die Widersprüche nutzen, die sich in einem immer noch agrarisch geprägten, sich aber wirtschaftlich und technologisch rasch entwickelnden Staate wie eben Russland auftaten. In heroische Narrative gekleidet, zu denen John ReedsReed, John Erlebnisberichte ebenso beitrugen wie Leo TrotzkisTrotzki, Leo autobiografische Darstellungen und Sergei EisensteinsEisenstein, Sergei Filme, nahm diese voluntaristische Umdeutung einer strukturellen Theorie mythischen Charakter an und inspirierte während der folgenden Jahrzehnte viele Nachahmer auf der ganzen Welt.2

Sie wurde mit gewaltigen Hoffnungen entwickelt, diese revolutionäre Form der marxistischen Modernisierung, aber sie forderte enorme Anstrengungen und ungeheures menschliches Leid. Eigentlich wäre in Russland nun der liberale Kapitalismus an der Reihe gewesen, doch diese Etappe übersprang man komplett – dafür bedurfte es des Einsatzes von viel Zwang und Gewalt, was den emanzipatorischen Intentionen der Bewegung widersprach. Weder die personalen Überbleibsel der zaristischen Autokratie noch die bürgerlichen Reformer würden, das wusste man, freiwillig ihrem Anspruch auf Macht entsagen. Die weitgehend analphabetischen Bauern und die immer noch in halb ländlichen Umständen lebenden Industriearbeiter würden davon überzeugt werden müssen, das marxistische Projekt eines emanzipatorischen Egalitarismus zu unterstützen. Selbst wenn es der Regierung gelänge, ihrer allerschlimmsten Not abzuhelfen, sei dennoch eine fundamentale Neugestaltung der russischen Gesellschaft anzustreben. Unter den Mitgliedern der bolschewistischen Partei wuchs die Zahl derer, die sich darauf freuten, endlich einmal revolutionäre Macht innezuhaben, und die radikale Intelligenzija könnte sich, so die Erwartung, in ein soziales Projekt nie dagewesenen Ausmaßes einbringen. Aber indem man die – hier und da bereits beginnende – Entwicklung hin zu einem Kapitalismus und einer Demokratie westlichen Stils stoppte und damit eine ganze Entwicklungsphase übersprang, drängte eine Minderheit von Berufsrevolutionären ihre theoretische Sichtweise einem widerstrebenden Plebs auf, der auf solch einen drastischen Wandel nicht vorbereitet war.3

Im Laufe des letzten Jahrhunderts erfuhr die Russische Revolution höchst unterschiedliche Bewertungen; nach dem Ende der UdSSR aber, als eine abschließende Einschätzung möglich wurde, wurden ihre Apologeten weitgehend diskreditiert und ihre Kritiker überwiegend gerechtfertigt. Während der Glanzzeiten der Sowjetunion gehörte es zum patriotischen Ritual, die »Große Oktoberrevolution« zu feiern und jenes Kollektiv heroischer Übermenschen zu preisen, das sie unter der Führung LeninsLenin, Wladimir I. vollbracht hatte. Die Oktoberrevolution war der Gründungsmythos, auf den die Kommunisten sich auch später immer wieder zur Legitimation ihres Anspruchs beriefen: Ohne dieses Ereignis hätte es weder die Industrialisierung des Landes noch den Sieg im Zweiten Weltkrieg gegeben. Doch schon damals wiesen Skeptiker auf bedenkliche Phänomene hin: Medien und öffentliche Verlautbarungen zeigten sich nach einer Weile vom Personenkult um StalinStalin, Josef beherrscht; in Ungnade gefallene Altbolschewiken wurden aus Fotografien der Revolutionszeit wegretuschiert. Im Westen waren die Meinungen stets entlang den ideologischen Frontlinien gespalten; hoben Antikommunisten und Emigranten die repressiven Aspekte des Regimes hervor, wobei ihnen sogar antistalinistische Linksradikale zustimmten, waren viele Liberale eher bereit zu konzedieren, dass die Bolschewiken das Land tatsächlich modernisiert hatten, wenn auch mit Gewalt.4 Später stellte dann der Zusammenbruch der Sowjetunion die ursprüngliche Frage neu: War der Kommunismus ein notwendiger Schritt nach vorn oder ein beklagenswerter Irr- und Umweg, der eine zuträglichere Entwicklung verhindert hatte?

Abstrahiert man einmal von den Positionen der einzelnen Parteien, erscheinen die russischen Revolutionen und die Planungen zu diesen weitestgehend als ein Kampf zwischen konkurrierenden Entwürfen der Modernisierung. Während die Slawophilen die alte ländliche Dorfgemeinschaftsordnung bewahren wollten, sah selbst die zaristische Autokratie ein, dass man bestimmte Innovationen aus dem Westen importieren musste, namentlich industrielle Produktion, Sozialreformen und politische Repräsentation, wenn das Land wettbewerbsfähig werden sollte. Das Leid des Großen Krieges offenbarte jedoch, dass jene Umgestaltung nicht weit genug gediehen war, und das erweckte Unmut in breiten Kreisen der Bevölkerung. Die Februarrevolution eröffnete einen Weg zur liberalen Moderne, aber das Ungeschick ihrer Führer, die Russland im Krieg halten wollten, diskreditierte deren Bemühungen, eine neue Verfassung zu erarbeiten. So erweist sich die Oktoberrevolution als paradoxes Gebilde: zu einem Teil ein bolschewistischer Militärcoup, der ein mehr und mehr Richtung Diktatur mutierendes Regime installierte; zum anderen Teil ein aufrichtiger Versuch, den Unterdrückten mehr Macht zu verleihen. Nur weil die autoritäre Transformation von oben her und die Entwicklung der Mittelklasse zur Liberalität hin scheiterten, bekamen die Bolschewiken eine Chance, ihre eigene diktatorische Modernisierung durchzusetzen – von unten her.5

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

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