Читать книгу Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch - Страница 29

Äußerste Eskalation

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Nachdem sich abzeichnete, dass weder der Eintritt Bulgariens noch der Rumäniens eine neue Entscheidung brachte, zog die totalisierende Logik des modernen Krieges schließlich auch die Vereinigten StaatenVereinigte Staaten in den Konflikt hinein, die einzig verbliebene Nation, die das Gleichgewicht noch kippen konnte. Doch Amerika zeigte sich gespalten; weite Kreise gerade der Progressive Reform Coalition hielten George WashingtonsWashington, George Warnung hoch, die USAVereinigte Staaten dürften sich nie in europäische Händel verstricken lassen. Insbesondere im Mittleren Westen und Westen waren viele Bürger, namentlich solche irischer und deutscher Herkunft, gegen die Teilnahme an einem Kampf, der ihnen so blutig wie sinnlos erschien. Die Eliten an der Ostküste indes empfanden eine kulturelle Affinität zu Großbritannien und Frankreich. Geschäftsleute machten dort viel Geld durch Lieferungen an die Entente, und Bankiers legten Anleihen auf, um einschlägige Bestellungen zu finanzieren. Englands Herrschaft über die Meere und das Telegrafenwesen tat das Ihre dazu, dass Sympathien und materielle Interessen einflussreiche Teile der politischen Klasse und der Presse bewogen, sich auf die Seite der Entente zu schlagen. Präsident Woodrow WilsonWilson, Woodrow und seine Administration waren sich gleichwohl der Stärke des Widerstands seitens der Isolationisten bewusst und suchten zu vermitteln – bis die Aktivität deutscher U-Boote schließlich einen casus belli schuf und die Vereinigten StaatenVereinigte Staaten in den Krieg zwang.1

Anders als die britische Meerblockade war das U-Boot eine neue Art Waffe, deren uneingeschränkter Gebrauch die Regeln des Seekrieges verletzte. Während des Wettbewerbs um die beste Streitkraft zu Wasser hatte Admiral TirpitzTirpitz, Alfred von der Entwicklung der Unterseewaffe noch keinen Dringlichkeitsrang eingeräumt, denn dem Kaiser lag eine konkurrenzfähige Hochseeflotte am Herzen. Das allgemein akzeptierte traditionelle Reglement sah für die Kampfaktion eines U-Bootes Folgendes vor: Wollte es ein feindliches Schiff abschießen, musste es zunächst auftauchen, ihm einen Schuss vor den Bug setzen und es so zum Halten bringen, dann ein Prisenkommando hinübersenden und die gegnerische Crew in die Rettungsboote steigen lassen. Erst dann durfte es das Schiff versenken. Andererseits hatte das potenzielle Opfer auch diverse Abwehrmöglichkeiten: Es konnte, da schneller als das U-Boot, ihm davonfahren, es rammen oder seine verletzliche Hülle mit Feuer aus Maschinengewehren oder leichtkalibrigen Geschützen durchlöchern. Alternativ konnten Schiffe kriegführender Nationen ihren Namen ändern, falsche Schornsteine aufstecken oder neutrale Flaggen hissen, um ihre Herkunft zu verschleiern. Zunächst hatten die U-Boote mit den konventionellen Methoden durchaus einigen Erfolg. Dennoch entschieden sie sich mehr und mehr für die Taktik, das gegnerische Fahrzeug gleich zu torpedieren, sobald es ins Blickfeld kam, von unterhalb der Wasseroberfläche und ohne vorherige Warnung. Auf diese Art blieben das eigene Schiff und die eigene Mannschaft in Sicherheit, während der Feind keine Chance hatte zu entkommen. Auch Handelsschiffe wurden attackiert, weil man die Lieferung von Lebensmitteln und Rohstoffen zu unterbinden suchte, speziell nach England, das beides dringend brauchte.2

In den neutralen Ländern entzündete der uneingeschränkte U-Boot-Krieg mehr moralische Empörung als eine konventionelle Blockade, da Schiff und Crew verloren waren, statt festgesetzt und interniert zu werden. Die Briten dehnten die Regeln für den Seekrieg ziemlich weit aus, indem sie von den neutralen Schiffen verlangten, in ihren Häfen zu bleiben: Ausfahren dürften sie nur, wenn feststehe, dass sie keine Waren für den Transfer in die Länder der Mittelmächte dabeihätten. Die US-Regierung protestierte etwas halbherzig gegen diese Art der Handelsbeschränkung. Wurde jedoch ein Passagierdampfer versenkt, provozierte das schon einen lauteren öffentlichen Aufschrei. Im Falle der »Lusitania« gab es gewaltige Entrüstung, weil mit dem Schiff 128 Bürger der USAVereinigte Staaten in den Fluten verschwanden. Freilich war zuvor ein Hinweis an die Amerikaner ergangen, in der Kriegszone nicht auf einem britischen Schiff zu reisen, das möglicherweise Munition transportierte. Das Torpedieren von Passagierschiffen konnte seitens der USAVereinigte Staaten nicht ohne Antwort bleiben. Präsident WilsonWilson, Woodrow warnte den KaiserWilhelm II. energisch: Sollte die Strategie des uneingeschränkten Versenkens fortgesetzt werden, müsse Amerika in den Krieg eintreten. BerlinBerlin fügte sich – sehr zum Ärger der eigenen Marineführung. Während die britische Blockade langsam tötete, nämlich durch Aushungern, verletzte die Vernichtung von Leben durch U-Boot-Schüsse die Ethik der Zivilisation dramatischer.3

Die Entscheidung der Deutschen vom 9. Januar 1917, den uneingeschränkten U-Boot-Krieg doch wiederaufzunehmen, war daher ein verzweifeltes Wagnis, das den absoluten Sieg erzwingen wollte. Das Scheitern der Friedensofferte BerlinsBerlin, die realistische Verhandlungen hatte ermöglichen sollen, ließ der zivilen Führung um Kanzler Bethmann HollwegBethmann-Hollweg, Theobald von keine andere Alternative als mitzuziehen. Während die Oberste Heeresleitung, an deren Spitze nun HindenburgHindenburg, Paul von und LudendorffLudendorff, Erich standen, für die Westfront eine defensive Strategie vorsah, hoffte sie England mittels ihrer Unterseewaffe aus dem Krieg hinauszujagen: Eine stetig wachsende Zahl von U-Booten sollte die Versorgung der Britischen Inseln mit Kriegsgütern, Rohstoffen und Lebensmitteln verhindern. Erfreut, endlich eine entscheidende Rolle spielen zu können, unterstützte die Marineführung diese Strategie, indem sie fadenscheinige Statistiken fabrizierte, denen zufolge das Vereinigte Königreich binnen sechs Monaten zusammenbrechen werde. Die zivilen Experten, die man heranzog, äußerten sich vorsichtiger, denn sie wussten etwas besser Bescheid über das Potenzial der Vereinigten StaatenVereinigte Staaten. Aber während der entscheidenden Sitzung taxierte die militärische Führung fatalerweise Amerikas Kräfte falsch, indem sie die Kapazitäten seiner Kriegsproduktion ebenso unterschätzte wie seine Fähigkeit, hinreichend Soldaten auszubilden, um den Ausgang der Kämpfe an der Westfront zu beeinflussen.4

Die Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Boot-Krieges bewirkte AmerikasVereinigte Staaten Eintritt in den Ersten Weltkrieg; so wandelte sich die wohlwollende Neutralität gegenüber der Entente in einen veritablen Kombattantenstatus. Die Boulevardpresse hatte die öffentliche Meinung bereits zuvor mit sensationalistischen Stories über deutsche Sabotage und deutsche Spione aufgestachelt, die ein paar törichte Aktionen zu einer allgegenwärtigen Gefahr aufbliesen. US-Nachrichtendienste fingen ein Geheimtelegramm ab, das der deutsche Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Arthur ZimmermannZimmermann, Arthur, an die mexikanische Regierung gesandt hatte. Der Inhalt sorgte für einen weiteren Aufschrei, offerierte BerlinBerlin dem mittelamerikanischen Staat darin doch ein Bündnis. Falls es einwillige, solle MexikoMexiko die Territorien zurückerhalten, die es ein Jahrhundert zuvor an die Vereinigten Staaten habe abtreten müssen. Diese diplomatische Intrige nach der Methode »sei nett zum Feinde deines Feindes« verletzte die Monroe-Doktrin und lieferte Präsident WilsonWilson, Woodrow endlich den gewünschten öffentlichen Vorwand, sich den Alliierten anzuschließen. Man vollziehe den Schritt in der Hoffnung, hieß es, so eine neue, friedliche Weltordnung zu schaffen. Der Affront, den das Reich durch das schlichte Ignorieren rechtzeitiger Warnungen AmerikaVereinigte Staaten zugefügt hatte, trug entscheidend dazu bei, dass beide Häuser des Kongresses mit überwältigender Mehrheit für den Eintritt in den Konflikt votierten. Unter Berufung darauf, dass »die deutsche Regierung wiederholt kriegerische Akte gegen die Regierung und das Volk der Vereinigten Staaten begangen« habe, erklärte WashingtonWashington am 6. April 1917 BerlinBerlin den Krieg.5

Militärisch hatte der amerikanische Eintritt zunächst nur begrenzte Wirkung; immerhin aber bestärkte schon die formale Rückendeckung die Entschlossenheit der Entente, weiterzukämpfen. Da sie bisher lediglich in lokalen und imperialen Feldzügen, an Orten wie KubaKuba, den PhilippinenPhilippinen und MexikoMexiko eingesetzt worden war, galt die U. S. Army lediglich als Kolonialstreitkraft, während sich die Navy bereits in raschem Wachstum befand. Obwohl Präsident WilsonWilson, Woodrow auf einer Sonderrolle AmerikasVereinigte Staaten als »assoziierte Macht« beharrte, damit es von den Geheimverträgen innerhalb der Entente unberührt blieb, bedeutete seine Beteiligung, dass den Alliierten die gesamte industrielle und finanzielle Potenz der Vereinigten Staaten zur Verfügung stand. Nun konnte die Navy ganz offen gemeinsam mit anderen Marineverbänden ein Konvoisystem quer über den Atlantik organisieren; Handelsfahrzeuge waren durch Kriegsschiffe geschützt, die Sonar und Wasserbomben an Bord hatten, was die U-Boot-Waffe wirkungsloser werden ließ. Schließlich begann auch die Army ein ehrgeiziges Expansionsprogramm, das ihr erlauben sollte, Zehntausende frischer Rekruten auszubilden und die erschöpften Personalreserven der Entente durch junge Männer aufzustocken, die noch bereit waren, ihr Leben in einer Attacke zu riskieren.6 Auch wenn seine Schlagwirkung anfangs bescheiden blieb, verwandelte der Eintritt der USA den Krieg in einen echten globalen Konflikt.

Da der Großteil der Gefechte in Europa stattfand, lancierte die US-Regierung eine Propagandakampagne, um die eigene gespaltene Bevölkerung hinter den Kriegsanstrengungen zu versammeln. Präsident WilsonWilson, Woodrow versuchte den Konflikt mit einem höheren Sinn aufzuladen, indem er verkündete, dieser Waffengang werde »ein Krieg [sein], der alle Kriege beendet«, und diene dem Zweck, »die Welt sicher genug für die Demokratie zu machen«. Außerdem schuf seine Regierung ein Committee on Public Information, an dessen Spitze George CreelCreel, George stand. Der engagierte Journalist prangerte den preußischen Militarismus an und nannte »Kaiser Bill« spöttisch »den Hunnen«. Damit nahm Creel Bezug auf eine unüberlegte Äußerung Kaiser Wilhelms II. Wilhelm II.: Der hatte 1900, als ein internationales Expeditionskorps nach ChinaChina aufbrach, um dort die antichristliche Revolte der Boxer niederzuwerfen, deutschen Soldaten aus diesem Einsatzkommando zugerufen, sie mögen so furchterregend dreinschlagen wie »vor tausend Jahren die Hunnen«. Diese diplomatische Fehlleistung ging als »Hunnenrede« in die Geschichte ein. CreelsCreel, George Bemühungen, unterstützt von einer blindwütigen Massenpresse, schürte eine regelrechte »Kriegshysterie«. Es war nunmehr verboten, in der Öffentlichkeit deutsch zu sprechen; nicht nur Straßennamen wurden patriotisch umbenannt, sondern auch harmlose Esswaren: Sauerkraut etwa hieß jetzt victory cabbage (›Siegeskohl‹). Die nationalistische Raserei forderte sogar einige Menschenleben, beispielsweise wurde in East St. Louis / Illinois East St. Louisein unglücklicher Deutsch-Amerikaner gelyncht.7 Die Propaganda überhöhte den Krieg zu einem Kampf zwischen der »westlichen Zivilisation« und dem deutschen Barbarentum.

Obwohl sich nun der Kreis der Kombattanten um einen erweitert hatte, blieb der Ausgang des Krieges bis Frühling 1917 unentschieden. Die Briten setzten ihre Massenoffensiven in Frankreich und Belgien fort: Unermüdlich rannten sie gegen jene Kette aus schwer befestigten deutschen Positionen an der Westfront an, die den Namen »Siegfriedstellung« trug (die Alliierten nannten sie »Hindenburglinie«); immer wieder eroberten sie kleine Areale verwüsteten Territoriums, und jeden dieser Erfolge bezahlten sie mit einem enormen Blutzoll. Die Deutschen drangen langsam von Polen aus in russisches Gebiet vor. Auch sie erlitten schwere Verluste, doch gelangen ihnen größere Geländegewinne von den baltischen Provinzen im Norden bis zur rumänischen Grenze im Süden. Was den Seekampf betraf, schien noch nicht klar, ob die Konvois oder die U-Boote ihn gewinnen würden. In den Ländern des Westens gab es bald wieder ernstliche Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der militärischen Strategie: Sollte man den Waffengang beenden oder weiterkämpfen? Schließlich setzten sich aber die Befürworter der letzteren Option durch. Deutlich überforderter zeigte sich das zaristische Russland, in dem Hungerrevolten die imperiale Ordnung auf eine harte Probe stellten. Nicht besser erging es dem Habsburgerreich, in dem die Stimmen des separatistischen Nationalismus immer lauter wurden. Am Ende des Krieges standen also zwei Entwicklungen, die den Wettlauf zwischen den Parteien bestimmten: hier der allmähliche Kollaps Russlands, der zum Sieg der Deutschen im Osten führte, dort die Ankunft der amerikanischen Truppen, die der Entente half, den Krieg im Westen zu gewinnen.

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

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