Читать книгу Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch - Страница 32
Späte Westernisierung
ОглавлениеZu Beginn des 20. Jahrhunderts betrachteten ausländische Reisende, aber auch einheimische Beobachter Russland kritisch als die rückständigste der fünf Großmächte in Europa. Sogar Karl MarxMarx, Karl war skeptisch, was die Chancen einer Revolution in einer unterentwickelten Gesellschaft betraf; erst gegen Ende seines Lebens revidierte er diese Meinung. Tatsächlich rechtfertigten viele Anzeichen solch eine pessimistische Sichtweise. Das riesige Land wurde regiert von einem autokratischen Monarchen, genannt der Zar, den bei diesem Geschäft ein schwerfälliger Beamtenapparat, eine gewaltige Armee und eine unbarmherzige Geheimpolizei unterstützten. Die führende Schicht war die Aristokratie, die sich zum kaiserlichen Hof hin orientierte und von den Erträgen ihrer Ländereien lebte. Die Mehrheit des Volkes wohnte immer noch in Bauerndörfern; dort arbeitete man entweder für den Adel oder bebaute gemeinschaftlichen Bodenbesitz in einer Landkommune, einem sogenannten mir; diese kollektive Agrarform gelangte zu einiger Berühmtheit. Das religiöse Leben beherrschte die orthodoxe Kirche, eine zuverlässige Stütze der traditionellen Hierarchie. In den Mietskasernen der überfüllten Städte vegetierten Massen armer, analphabetischer Menschen vor sich hin, die von Tag zu Tag darum kämpften, irgendwie über die Runden zu kommen.1 Und doch entgingen dem, der solche Rückständigkeitsstereotype verbreitete, die sich mehrenden Zeichen einer raschen Entwicklung, die jenen schlafenden Riesen bald aufwecken sollten.
Ironischerweise kam der Anstoß von der Monarchie selbst, denn ausgerechnet sie nahm sich eine Innovation, eine »Modernisierung von oben« vor: Russland sollte der Konkurrenz mit dem Westen standhalten können. Die Niederlage im Krimkrieg 1856 hatte gezeigt, dass fundamentale Veränderungen notwendig waren, um die militärische Schlagkraft des Reiches wiederherzustellen. Die ersten Schritte erfolgten bald. 1861 befreite Zar Alexander II. Alexander II.23 Millionen Bauern aus der Leibeigenschaft. Sie konnten jetzt selbst Land erwerben und bestellen, statt feudaler Dienste waren ihnen nur noch Ablösezahlungen an den Grundherrn auferlegt. Das sollte den Agrarsektor dynamisieren. Drei Jahre später schuf der ZarAlexander II. lokale Selbstverwaltungseinheiten, sogenannte semstwa. In einem solchen semstwo saßen Adelige, Stadtbewohner und Bauern, die sich gemeinsam um die Verbesserung des Volksbildungs-, Gesundheits- und Verkehrswesens sowie um die Weiterentwicklung der landwirtschaftlichen Kultur kümmerten. 1874 führte Alexander II. Alexander II.die allgemeine Wehrpflicht ein; sie war nun Voraussetzung für die Staatsbürgerschaft. All diese vielversprechenden Reformen fanden jedoch ein abruptes Ende, als Mitglieder der Terrorgruppe »Narodnaja Wolja« (›Volkswille‹) den Zaren 1881 ermordeten.2 Da sie danach Revolten fürchteten, verweigerten sein Sohn Alexander III. Alexander III.und sein Enkel Nikolaus II. Nikolaus II.entschieden jedes weitere Zugeständnis.
Fortan konzentrierte sich der Reformeifer gänzlich auf den wirtschaftlichen Bereich, in dem Russland während der nächsten Jahrzehnte bedeutsame Fortschritte gelangen. So setzte sich Finanzminister Graf Sergej WitteWitte, Sergej für die rasche Industrialisierung des Landes ein und begann den Bau der Transsibirischen Eisenbahn, die das europäische mit dem asiatischen Russland verbinden sollte. Unter WittesWitte, Sergej Ägide wurden zahlreiche Großfabriken errichtet, die für ihren Betrieb die neuesten Produktionsmethoden aus Westeuropa importierten; dies tat die Schwerindustrie ebenso wie der Maschinenbau und die Textilfertigung. Mit einer durchschnittlichen Zuwachsrate von circa 5 Prozent jährlich wurde Russland rasch die viertgrößte Industriemacht in Europa.3 Ein anderer Wirtschaftsreformer, Premierminister Pjotr StolypinStolypin, Pjotr, trieb die Kommerzialisierung der Landwirtschaft voran. Dazu löste er das System der sogenannten obschtschiny auf, in denen die Bauern gemeindeeigenes, ihnen von der Dorfgenossenschaft zugeteiltes Land bearbeiteten. Stattdessen sollten diese Bauern Privatbesitzer ihres Bodens werden und ihn hauptsächlich für den eigenen Gewinn kultivieren, nicht mehr primär für das Gemeinwohl. Weiterhin wurden Großbetriebe eingerichtet, landwirtschaftliche Kooperative geschaffen und Techniken der Melioration (Bodenverbesserung) propagiert; auch konnten die Bauern nun Kredite erhalten. Diese Maßnahmen entfachten eine überraschende Dynamik, durch die Russland die Chance bekam, den Westen einzuholen.
Diese ökonomische Entwicklung schuf jedoch enorme soziale Belastungen, weil sie einen raschen Übergang von einem spätfeudalistischen zu einem sich eben erst formierenden kapitalistischen System erzwang. Die Industrialisierung verhalf dem Großbürgertum zu gewaltigen Vermögen. Plötzlich konnte die neureiche Bourgeoisie in der Zurschaustellung von Wohlsituiertheit mit der herrschenden Aristokratie wetteifern, etwa indem auch sie elegante Stadtpaläste bauen ließ. Die Expansion des Beamtenapparats und die Arbeit der semstwa ließ eine Schicht studierter Freiberufler entstehen, die mehr Mitsprache in öffentlichen Angelegenheiten reklamierte. Immer weitere Kreise hatten Zugang zu Bildung, freilich fand nicht jeder eine seinem Abschluss entsprechende Stellung. Gleichzeitig wucherten die Printmedien, in denen man sich mitteilen konnte – all diese Faktoren brachten eine kritische Intelligenzija hervor, die energisch auf radikalere Veränderungen innerhalb der Gesellschaft hinwirken wollte. Die Kommodifizierung des Agrarbereichs verhalf manchen grundbesitzenden Bauern zu großen Geschäftserfolgen; wer sich mit ihr schwertat, der zog in die Stadt, um dort sein Glück zu suchen. Wo riesige Fabriken entstanden, brauchte man auch jede Menge neue Arbeitskräfte. Rund zwei Millionen wurden fürs Erste rekrutiert, aus denen das russische Industrieproletariat hervorging.4 Jede einzelne dieser Gruppen hatte ihre eigene Vorstellung, wie das Russland der Zukunft auszusehen habe; leider vertrugen sich die Visionen der einen ganz und gar nicht mit den Szenarien der anderen.
Diese sozialen Spannungen entzündeten eine heftige intellektuelle Debatte um die Identität Russlands: Sollte es sich als eine unabhängige Alternative zu Europa begreifen? Oder nicht vielmehr als potenziellen Teil Europas? Auf der einen Seite vertraten die Verteidiger der religiösen Orthodoxie die Theorie, Moskau sei das Dritte Rom, nämlich der Nachfolger Konstantinopels, und habe sich daher östlich zu verorten. Die aufeinanderfolgenden Bewegungen der Slawophilen, Panslawisten und Neoslawisten zogen daraus ethnozentrische Konsequenzen; sie glaubten, Russland obliege die besondere Mission, alle slawischen Brüder in Osteuropa und auf dem BalkanBalkan zu vereinen. Diese antiwestlichen Gruppen glorifizierten die Romanow-Dynastie und feierten die Heiligkeit der orthodoxen Kirche sowie die Überlegenheit des russischen Lebensstils. Auf der anderen Seite standen zahlreiche westlich orientierte ReformerPeter I., »der Große« (Russland). Sie wollten die einheimische Ignoranz und Armut so rasch wie möglich überwinden, und das, meinten sie, gehe nur, wenn man Ideen, Stile und Praktiken aus dem Westen übernehme, wie es Peter der Große einst vorgemacht hatte. Leider war die Phalanx der ›Westernisierer‹ ihrerseits gespalten: hier die auf Evolution setzenden Freiberufler und Selbständigen, die liberalen Modellen einer kapitalistischen Demokratie nacheiferten, dort die Radikalen, die eher einen revolutionären Bruch mit der Vergangenheit befürworteten. Da diese Entwürfe miteinander inkompatibel waren, bestand durchaus keine Klarheit darüber, welchem der Wege Russland letztendlich folgen würde.5
Der Marxismus kam spät nach Russland, da dort ja schon konkurrierende Oppositionsströmungen existierten. Außerdem war das russische Industrieproletariat noch nicht sehr umfangreich. Oppositionsversuche hatte es diverse gegeben, etwa sporadische Bauernrevolten – sie bildeten schon eine Art Tradition –, das linkspopulistische Projekt der Narodniki, die das Volk agitierten, schließlich die Anarchisten mit ihrer Vorliebe für Terrorismus. Erst als diese Unternehmungen gescheitert waren, bekam die sozialistische Alternative einen Fuß in die Tür. 1883 gelang es dem marxistischen Theoretiker Georgi W. PlechanowPlechanow, Georgi, im Schweizer Exil eine Gruppe »für die Befreiung der Arbeit« zu gründen. Nachdem sich sozialistische Ideen in der Intelligenzija des Zarenreiches verbreitet hatten, konstituierte sich 1898 die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (SDAPR), die sich der Zweiten Internationale anschloss. Nach der Jahrhundertwende spaltete sich diese radikale Gruppe. Der moderatere Flügel, geführt von Julius MartowMartow, Julius, wollte eine offene, demokratische Arbeiterpartei schaffen, die innerhalb der bestehenden Gesellschaft stark genug wäre, soziale Reformen voranzutreiben. Die extremere Fraktion, die Hardliner um LeninLenin, Wladimir I., folgten dagegen dessen Vorstellung, man müsse eine Kaderpartei aus engagierten Berufsrevolutionären formieren; anders sei die zaristische Repression nicht zu brechen. Als 1903 auf dem zweiten Parteitag der SDAPR die Radikalen die Majorität errangen, nannten sie sich fortan »Bolschewiki« (›Mehrheitler‹); für die Gemäßigten blieb entsprechend die Bezeichnung »Menschewiki« (›Minderheitler‹) übrig.6
Die Spannungen im Staate explodierten in der Revolution von 1905, die eine Art Generalprobe für den Sturz der zaristischen Autokratie war. Der Russisch-Japanische Krieg bescherte der Regierung empfindliche Niederlagen; sehr schadete ihrem Ruf, dass Port ArthurPort Arthur fiel und die Flotte des Monarchen die Seeschlacht bei TsushimaTsushima verlor. Nachrichten wie diese erregten die Öffentlichkeit bis zum Siedepunkt. Als eine Schar Protestler mit dem Priester Georgi GaponGapon, Georgi an der Spitze zum Winterpalast in Sankt PetersburgSankt Petersburg (Leningrad, Petrograd) zog, eröffneten die Wachen das Feuer und töteten Hunderte von Demonstranten. Dieser »Petersburger Blutsonntag« entfachte einen Flächenbrand: Bauernrevolten brachen aus, rund dreitausend adelige Landsitze wurden ein Raub der Flammen, und in vielen Städten kam es wiederholt zu Streiks. Gesteuert wurden die Unruhen von der Partei der Sozialrevolutionäre (SR genannt). Diese populistische Gruppierung hatte eine neue Institution erfunden – basisdemokratisch bestimmte revolutionäre Räte, die Sowjets (sovjeti); hier beteiligten sich auch die orthodoxen Marxisten. Die Regierung antwortete mit militärischer Gewalt und schaffte es schließlich, die Ordnung wiederherzustellen. Graf WitteWitte, Sergej jedoch und ähnlich reformgewillte Kreise der Öffentlichkeit erhöhten den Druck auf den ZarenNikolaus II. und ließen nicht locker, bis er endlich nachgab: Im Oktobermanifest dekretierte er die Einrichtung eines für ganz Russland zuständigen Parlaments, der »Staatsduma«. Diese Konzession minderte die umfassende Macht des Monarchen keineswegs, aber sie stellte ihm ein Beratergremium zur Seite, in dem über die richtige Politik diskutiert wurde und das er nicht ignorieren konnte.7
Während der letzten Vorkriegsjahre rangen drei Modernisierungsprogramme um Akzeptanz in der öffentlichen Meinung. Die Unterstützer der Autokratie – also die Aristokratie, der Beamtenapparat, die Armee und die Kirche – setzten auf ein einheimisches Konzept, das die militärische Schlagkraft des Landes verbessern sollte, ohne die traditionelle Hierarchie anzutasten. Die aufsteigende Klasse der Unternehmer und Freiberufler sowie die reformbereiten Adeligen begrüßten hingegen die Einrichtung der Duma. Mit deren Hilfe, glaubten sie, könne man die wirtschaftliche Entwicklung voranbringen, Rechtsstaatlichkeit erreichen und eine Regelung finden, wie man die Macht mit der Krone zu teilen habe. Anders als die angeschlagene Kaste der Aristokraten glaubten die meisten der neu zugelassenen Parteien optimistisch, nun sei der weitere gesellschaftliche Fortschritt gesichert, und das hieß für sie: der Weg hin zu einem liberalen System.8 Die ausgebeuteten Massen der landlosen Agrarkräfte, der Industriearbeiter und der Armen in den Städten schließlich hofften auf eine revolutionäre Erhebung, die endlich die sie knechtende Herrschaft hinwegfegen und ihnen ein besseres Leben ermöglichen würde. Während die Sozialrevolutionäre – aufs Land ausgerichtet, wie sie waren – eine Neuverteilung des Bodens forderten, schlugen die Menschewiki soziale Reformen vor, und die Bolschewiki propagierten kurzerhand eine echte Revolution.