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Deutschland kollabiert

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Damit die Demokratie sich verbreiten konnte, musste zunächst einmal die autoritäre Variante der Modernisierung, die die Mittelmächte repräsentierten, auf dem Schlachtfeld besiegt werden. Die Alliierten kämpften, zumindest vorgeblich, für die universellen Werte der westlichen Zivilisation, zu denen nach ihrem Verständnis individuelle Freiheit, parlamentarische Regierungsform und Marktwettbewerb gehörten. In ihrer Praxis allerdings trübten Imperialismus, Rassismus und Ausbeutung das positive Bild. Im Gegensatz dazu behauptete die deutschlandgeführte Koalition, eine ernsthaftere »Kultur« zu verkörpern; sie war charakterisiert durch einen Autorität ausstrahlenden Beamtenapparat, militärische Effizienz und soziale Wohlfahrt. Schon 1915 hatte der amerikanische Soziologe norwegischer Herkunft Thorstein VeblenVeblen, Thorstein auf eine spezifische Diskrepanz innerhalb des imperialen Deutschlands hingewiesen: Er sah einerseits eine beachtliche wissenschaftliche und technische Modernität, andererseits eine unterentwickelte, dem Fortschritt hinterherhinkende Selbstverwaltung, in der die höchste Entscheidungsmacht dem Kaiser vorbehalten bleibe und das Militär mehr Mitspracherecht habe als in den Demokratien. Anstatt aber den Westen zum Standardmaßstab zu nehmen und zu befinden, dass in Deutschland nur eine »partielle Modernisierung« vollzogen wurde, fand VeblenVeblen, Thorstein es erhellender, das deutsche Modell als alternativen, eigenen Weg innerhalb der vielfältigen westlichen Tradition zu verstehen.1 Da die liberale Variante der Modernität indes flexibler auf die strategischen Herausforderungen, die soziale Nivellierung und die Erosion der alten Herrschaft zu reagieren vermochte, erwies sie sich letztendlich als der autoritären überlegen.

Während die alliierten Führer auf ihren Materialvorteil vertrauen und abwarten konnten, wagte die deutsche Oberste Heeresleitung einen verzweifelten Versuch, doch noch die drohende Niederlage abzuwenden. Haudegen Erich LudendorffLudendorff, Erich hatte geplant, die antidemokratischen Kräfte daheim durch Eroberungen im Osten zu stärken. Nun war Russland kollabiert. Dies sah der OHL-Chef als Chance für den Kampf im Westen; also entsandte er flugs fünfzig Divisionen nach Frankreich, bevor amerikanische Verstärkung eintraf und die Moral der eigenen Truppen bröckelte. Es müsse nun schnell gehen, glaubte LudendorffLudendorff, Erich: »Die Lage bei unseren Bundesgenossen und bei uns sowie die Verhältnisse des Heeres«, schrieb Ludendorff später rückblickend, »erheischten einen Angriff, der eine baldige Entscheidung brachte.« Ab dem 21. März 1918 lancierte die deutsche Armee eine Reihe von Attacken, vier insgesamt, gegen die Westfront, in der Hoffnung, Briten und Franzosen zu trennen sowie Paris einzunehmen. Mit neuen Taktiken wie Stoßtrupps und rollendem Artilleriefeuer überrannten die Angreifer die alliierten Gräben und machten beeindruckende Geländegewinne, was beim kaiserlichen Heer die Illusion erweckte, es lasse sich der initiale Vormarsch von 1914 wiederholen. Die finale Offensive am 15. Juli jedoch verfehlte ihr Ziel, da sie die alliierten Linien zwar hier und da eindellte, aber nirgends komplett durchbrach. Indem sie auf Sieg setzten, verloren die Deutschen, denn nun hatten sie ihre letzten Reserven verbraucht.2

Das Scheitern der LudendorffschenLudendorff, Erich Offensive beschleunigte das Ende des Krieges, denn es spielte die strategische Initiative zurück in die Hände der Alliierten. Zwar erlitten beide Seiten ungefähr gleich hohe Verluste, aber die Mittelmächte hatten größere Schwierigkeiten als die Entente, verlorene Männer und Waffen zu ersetzen. Auf lange Sicht zeigte sich, dass die alliierten Ressourcen an Wehrmaterial und Personal doch der entscheidende Faktor waren, den BerlinBerlin auch mit hervorragender Ausbildung nicht mehr wettmachen konnte. Während die deutschen U-Boote dank des Konvoisystems ihre Bedrohlichkeit einbüßten, erreichten auf der Gegenseite mehr und mehr Granaten, Gewehre, Kanonen, LKWs und anderes Gerät die Westfront. Außerdem transportierten umfunktionierte Passagierdampfer soeben ausgebildete und kampfhungrige Soldaten aus den Vereinigten Staaten in wachsender Zahl auf die europäischen Schlachtfelder. Anders als die entmutigten französischen und britischen Veteranen, denen es nur noch ums bloße Überleben ging, parierten frisch aus IowaIowa hergebrachte Bauernjungen aufs Wort, sobald sie den Befehl hörten, »rauszugehen« und die deutschen Linien zu attackieren, koste es, was es wolle. Schließlich trugen auch bestimmte Fortschritte in der Militärtechnik – die alliierten Truppen hatten rund achthundert neue Panzer zur Verfügung, einsetzbar als effektive Unterstützungsplattform für die Infanterie – das Ihre dazu bei, das Blatt zu wenden.3

Die Hundert-Tage-Offensive der Alliierten im Sommer und Herbst 1918 erwies sich als die entscheidende Wende, die den Krieg überraschend schnell beenden sollte. Zwar hatte schon Mitte Juli der französische General FochFoch, Ferdinand nahe ReimsReims einen Angriff durchgeführt, bei dem er einigen verlorenen Boden zurückgewann. Aber erst als fünfhundert britische Panzer bei Amiens vorpreschten, die geschwächten deutschen Divisionen überrannten und sie zum hastigen Rückzug zwangen, kam die endgültige Wende: Der 8. August 1918 ging – nach einem Ausspruch des OHL-Chefs – als »schwarzer Tag des deutschen Heeres« in die Geschichte ein. Diese unerwartete Niederlage brachte LudendorffLudendorff, Erich zu der Einsicht, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen sei. Seine Divisionen waren dezimiert, und seine verbliebenen Soldaten hatten nun ein offenes Ohr für die Friedenspropaganda der radikalen Linken; immer weniger wollten noch kämpfen. Mit frischem Elan kassierten die attackierenden Alliierten die Frontausbuchtungen wieder ein, die den Deutschen im Frühjahr gelungen waren, und zwangen die kaum noch leistungsfähigen feindlichen Streitkräfte, hinter der befestigten »Siegfriedstellung« Deckung zu nehmen. Obwohl sie heftige Verluste erlitten, durchbrachen die gemeinsamen Sturmläufe der Alliierten schließlich auch dieses verzweifelt verteidigte Grabensystem. Ende September musste sich die Oberste Heeresleitung angesichts des unaufhaltsamen Vormarsches der Entente und der Abwendung der Verbündeten BerlinsBerlin eingestehen: Der Krieg war verloren.4

Angesichts der bevorstehenden Niederlage, die sich so lange hinter schönfärbenden Militärbulletins hatte verbergen lassen, blieb der Führung des Deutschen Reiches nichts übrig, als Friedensverhandlungen einzuleiten. Schon im Juli 1917 hatte eine kritische Mehrheit im Reichstag für eine Resolution gestimmt, die einen Frieden »ohne Annexionen und Reparationen« verlangte. Aufgrund ihres militärischen Versagens konnten die Quasi-Diktatoren HindenburgHindenburg, Paul von und LudendorffLudendorff, Erich nicht mehr verhindern, dass Forderungen laut wurden, es müsse »ein vollständiger Systemwechsel eintreten« und eine parlamentarische Regierung gebildet werden mit einem reformwilligen Kanzler, Prinz Max von BadenBaden, Max von. Die OHL selbst sah ein, dass »die Fortsetzung des Krieges als aussichtslos aufzugeben« war, sodass die Zivilregierung »an den Präsidenten WilsonWilson, Woodrow mit dem Ersuchen um Waffenstillstand und Frieden« herantrat. Da sie sich von ihren Offizieren verraten fühlten, ließen vielerorts deutsche Soldaten zu Lande und zur See Disziplin Disziplin sein und drängten außerdem auf die sofortige Einstellung der Feindseligkeiten.5 Folglich musste die deutsche Armee, obwohl sie immer noch Teile NordfrankreichsNordfrankreich und Belgiens besetzt hielt, kapitulieren, denn weiterzukämpfen war sie nicht mehr fähig. Da man sich Hilfe von WilsonWilson, Woodrow erhoffte und revolutionäre Propaganda von unten fürchtete, bat BerlinBerlin tatsächlich um einen Waffenstillstand.

Die entsprechende Vereinbarung wurde am 11. Oktober 1918 in einem Salonwagen der französischen Eisenbahn bei CompiègneCompiègne unterzeichnet. Sie beendete aber nur die offiziellen Feindseligkeiten, keineswegs alle Gewalt zwischen einzelnen Staaten oder in diesen. Die strikten Bestimmungen des Vertrages – Rückzug aller deutschen Truppen in ihre Heimatbasen, Internierung aller Kriegsschiffe, Herausgabe allen schweren Wehrmaterials – sollten dem Deutschen Reich die Möglichkeit nehmen, weiterhin bewaffneten Widerstand zu leisten.6 Der Verlauf mehrerer Grenzen in Mitteleuropa und auf dem BalkanBalkan blieb jedoch ungeklärt. Entsprechende Streitigkeiten gab es namentlich in Gebieten mit ethnisch gemischter Besiedelung; dort kämpften dann Freikorps bzw. Einheiten lokaler Milizen darum, der eigenen Volksgruppe Territorien zu sichern. Außerdem führten diverse Konflikte in Osteuropa – der Russische Bürgerkrieg, die alliierte Intervention in Russland und der Russisch-Polnische Krieg – noch einige Jahre lang zu Waffengängen größeren Umfanges. Manche Regionen, etwa die UkraineUkraine, die unabhängig zu sein wünschten, verloren nicht nur schon bald ihre Freiheit, sondern sie wurden auch zwischen verschiedenen Mächten hin- und hergereicht. Gleichzeitig erlebten mehrere Länder innere Streitigkeiten, die gewaltsam eskalierten; so gab es kommunistische Erhebungen in BudapestBudapest und MünchenMünchen, aber auch rechte Militärcoups wie den Kapp-Putsch in BerlinBerlin. Anders als der Mythos behauptet, der bis heute an den Feiertagen, die des Waffenstillstands gedenken, dargeboten wird, dauerte es noch fast ein halbes Jahrzehnt, bis wirklich überall in Europa die Waffen schwiegen.7

Nachdem der Alptraum namens Krieg endlich vorbei war, sahen sich Sieger und Verlierer gleichermaßen vor der enormen Aufgabe, die Staatsmaschinerie aus dem Kriegs- wieder in den Friedensmodus zu schalten. Laut Schätzungen waren rund 10 Millionen Soldaten im Kampf gefallen und 23 Millionen verwundet worden, während 7,5 Millionen Zivilisten zu Tode gekommen waren – ein irreparabler demografischer Aderlass.8 Schwere Zeiten für Regierende wie Regierte. Erstere mussten die Demobilisierung organisieren, denn die Soldaten heimzubringen und ihrer Uniformen zu entledigen, erforderte eine komplizierte Logistik. Trainierte Killer zu gewaltabstinenten Zivilisten zu machen, erwies sich ebenfalls als recht schwierig. Damit genügend Arbeitsplätze für Veteranen zur Verfügung standen, musste der Staat die Wirtschaft dazu anhalten, umzudisponieren: Sie stellte nun kein Kriegsgerät mehr her, sondern wieder Konsumgüter, weshalb z. B. Stahlhelme zu Kochtöpfen konvertiert wurden. Was die Regierten betraf, so hegten die Untertanen in den Siegerländern eine gewaltige Hoffnung auf eine Friedensdividende; die in den Verliererstaaten mussten schlicht zusehen, wie sie mit den erlittenen Verlusten umgingen. Zurückgekehrte Soldaten, aber auch Frauen, die an der Heimatfront gedient hatten, verwiesen auf die physischen und mentalen Opfer, die sie hatten bringen müssen, und verlangten deutlichere Anerkennung – die sie teilweise in Gestalt von mehr politischen Rechten und einer besseren sozialen Versorgung auch erhielten. Dieser Übergang zum Frieden wurde dadurch erschwert, dass die Eliten die gesellschaftlichen Hierarchien so wiederhaben wollten, wie sie vor dem Kriege waren. Derweil riefen die leidenden Massen nach demokratischen Reformen, wenn nicht gar nach einer sozialistischen Revolution.9

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

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