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Stillstand durch Grabenkampf

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Das ungefähre Gleichgewicht der Kräfte hatte zur Folge, dass die Kriegssituation für eine ganze Weile stagnierte. Längs der Front rannten die kämpfenden Armeen nicht mehr primär in offener Schlacht gegeneinander an, sondern verschanzten sich, getrennt durch einen Streifen Niemandsland, in komplexen Feldbefestigungen, die es den Verteidigern ermöglichten, noch den mörderischsten Sturmversuchen standzuhalten. Jede dieser Konstruktionen war ein kompliziertes Labyrinth, zu dem Beobachtungsposten, Deckungsgräben für die Infanterie, Verbindungsstollen, Rückzugsbereiche, Artillerieplattformen und Bereitstellungsräume gehörten. Gewöhnlich lagen drei parallele Grabenlinien hintereinander. Einen solchen Schanzbau konnte der Gegner wohl eindellen, aber kaum je komplett erobern, und gelang ihm dies doch einmal, wurde das Ganze eben weiter hinten neu errichtet. Das System musste sich ständig bewähren gegen lokale Überfälle, taktische Attacken und Massenoffensiven. Letztlich war es das Ergebnis eines Lernprozesses, in dem erkundet wurde, wie eine Truppe durch elaborierte Maßnahmen todbringende Artillerieangriffe überleben konnte, ohne dass ihre militärische Schlagkraft nachließ. Nur dort, wo man die Stellungen in Stein gehauen hatte, etwa im ElsassElsass, blieb die Front weitgehend statisch. Anderenorts verschob sie sich schon einmal, wenn das Schlachtenglück sich einer Seite hold zeigte; dabei entstand ein wahres Gewirr von Schutzgräben, die man direkt in den Erdboden wühlte. Nur im Osten gab es dann wieder Bewegung, als die Mittelmächte Teile Polens okkupierten. Im Westen jedoch charakterisierte die Auseinandersetzungen, die die meisten Soldaten durchmachen mussten und von denen sie erzählten, wenn sie sich später an den »Großen Krieg« erinnerten, wesentlich ebenjener Grabenkrieg.1

Dabei entsprang die Stagnation gar keiner strategischen Überlegung, sondern ergab sich aus der extrem erhöhten Defensivpotenz bestimmter moderner Waffen. Zwar pries die Militärdoktrin immer noch den Geist der Offensive, doch tatsächlich erforderte das Wagnis, ein effizient organisiertes Grabensystem anzugreifen, ungeheure Opfer: Viele Tote, Vermisste und Verwundete waren in Kauf zu nehmen. Sturmtrupps mussten sich erst einmal durch gerollten Stacheldraht schneiden und durch Minenfelder laufen, während ihnen aus der Feindstellung schon mörderischer Repetier- und Maschinengewehrbeschuss entgegenknallte. Die Angreifer versuchten zunächst, mit massivem Sperrfeuer den Widerstand zu brechen; dann schleuderten sie Handgranaten in die Gräben oder setzten Flammenwerfer ein, um die Verteidiger auszuräuchern. Oft war schon die Hälfte der Angreifer kampfunfähig, bevor ihre Einheit an einen feindlichen Graben auch nur herankam. Nun folgten Kämpfe Mann gegen Mann mit Handwaffen und Bajonetten. Das Töten fand also überwiegend auf Distanz statt – durch Artilleriebombardement, Maschinengewehrfeuer oder Scharfschützen. Ob der Gegner erfolgreich vernichtet wurde, hing daher mehr von einem hinreichenden Vorrat an Munition ab als von individueller Tapferkeit. In diesem unpersönlichen, industrialisierten Kriegsmodus hatte man bessere Chancen zu überleben, wenn man sich innerhalb eines effizient gebauten Schützengrabens verbergen konnte, als wenn man den Mut zum »Rausgehen« besaß.2

Im Verlauf des Jahres 1915 entwickelte sich der Stillstand in den Gräben zu einem Abnutzungskrieg, gekennzeichnet durch sogenannte Materialschlachten: Jede Seite versuchte die jeweils andere durch massive Feuerkraft zu erschöpfen. Die Entente wollte NordfrankreichNordfrankreich und Belgien befreien, weshalb sie gezwungen war, Angriffe zu führen. Die Deutschen hingegen konnten sich in ihre Defensivstellungen niederducken und ihre Geländegewinne festhalten. England sandte immer mehr Truppen auf den Kontinent, die unter dem Kommando des wenig einfallsreichen Douglas HaigHaig, Douglas ihr Glück in FlandernFlandern versuchten. Die Franzosen wiederum hielten immer noch an der Kampfmethode der percée fest – einer äußerst aggressiven Durchstoßtaktik, konzipiert von ihrem General Robert NivelleNivelle, Robert – und lancierten einschlägige Operationen in der Champagne. Diese wiederholten Offensiven erbrachten indes dank der wohlkonstruierten Verteidigungsanlagen nur minimale Bodengewinne: Eigentlich trat man auf der Stelle, aber unter enormen Verlusten. Ähnlich erfolgreich wehrten die Österreicher an der Isonzo-Front die Attacken der Italiener ab, allerdings fielen auch dort zahlreiche Soldaten auf beiden Seiten. Freilich missrieten nicht alle Offensiven: Vereinten Streitkräften aus Deutschland und Österreich gelang bei Görlitz-TarnauGörlitz-Tarna der Durchbruch nach Osten. Die Verbündeten besetzten Warschau und warfen die immer noch stattlichen Armeen des Zaren hinter die Grenze zwischen Russland und seiner bisherigen Provinz Russisch-PolenRussisch-Polen zurück; schließlich blieb aber auch dieser Vormarsch buchstäblich im Schlamm stecken.3 Insgesamt jedoch konnten die Mittelmächte auf dem Kontinent während des ganzen ersten Kriegsjahres allen Sturmversuchen der Entente standhalten.

Auch die Ergebnisse der Kämpfe an Europas Peripherie begünstigten zunächst die Mittelmächte. Der türkische Sultan Mehmed V. Mehmed V.hatte gar einen »heiligen Krieg« gegen die Entente proklamiert, zu dem sein Land anfangs freilich wenig beitragen konnte. Denn das Osmanische Reich sah sich gerade anderen Feinden ausgesetzt: den von den Briten unterstützten Arabern im Nahen Osten und russischen Streitkräften im KaukasusKaukasus. Größere strategische Bedeutung hatte da schon der Umstand, dass ein Versuch der Alliierten scheiterte, sich die Durchfahrt durch die DardanellenDardanellen zu erzwingen – wer über diese enge Passage gebot, kontrollierte den Seeweg zum Schwarzen Meer. Briten und Franzosen lieferten sich auf der Halbinsel GallipoliGallipoli mit den Osmanen heftige Gefechte, bei denen sich ein australisches und ein neuseeländisches Expeditionskorps besonders hervortaten. Dennoch gelang es der türkischen Armee, die Angreifer zurückzuschlagen und der Entente diese wichtige maritime Versorgungslinie abzuschneiden. Als sich im Herbst 1915 auch Bulgarien, das seine im Zweiten Balkankrieg erlittenen Gebietsverluste noch längst nicht verwunden hatte, ins Getümmel stürzte, konnte eine gemeinsame Offensive der Österreicher, Deutschen und Bulgaren die unverändert widerständigen Serben bezwingen. Eine Gegenlandung britischer und französischer Streitkräfte im griechischen SalonikiSaloniki (Thessaloniki) kam zu spät. Indem sie ihre Stärke zu Lande nutzten, gelang es den Mittelmächten, die Kontrolle über den BalkanBalkan zu erlangen und eine direkte Verbindung zu ihrem türkischen Verbündeten herzustellen.4

Nur zur See und in den Kolonien behielten die westlichen Alliierten die Oberhand, weil die Royal Navy größer und erfahrener war als die deutsche Flotte. Zwar versenkten die Schlachtschiffe des Kaisers ein paar britische Kreuzer, in der Schlacht bei den Falkland-InselnFalkland-Inseln aber erlitten sie eine Niederlage, und die deutschen Handelsstörkräfte, die englische Kauffahrer auf Grund gesetzt hatten, wurden schließlich ebenfalls gestellt. Dass sie den Ärmelkanal und den oberen Ausgang der NordseeNordsee beherrschte, nutzte die Royal Navy dazu, eine dichte Blockade gegen den kontinentalen Feind zu errichten. So hoffte England, die weitere Zufuhr von Grundnahrungsmitteln und Rohstoffen dorthin zu unterbinden. Dank jener Kontrolle über die maritimen Versorgungslinien konnten die englisch-französischen Kolonialarmeen die kleineren deutschen Kontingente in den Kolonien rasch bezwingen – mit alleiniger Ausnahme der »Schutztruppe für Deutsch-OstafrikaDeutsch-Ostafrika«, die General Paul von Lettow-VorbeckLettow-Vorbeck, Paul von im Südosten des Schwarzen Kontinents befehligte. Denn diese bediente sich einer Guerillataktik, die es den alliierten Verbänden schwermachte, ihren Gegner zu fassen. Zur See vermochten die Deutschen weniger zu punkten. Ihre aktive Heimatflotte wollten sie nicht unnötig aufs Spiel setzen, also blieben ihnen, wenn Gegenschläge geführt werden sollten, nur U-Boot-Attacken auf alliierte Schlacht- und Handelsschiffe. Aber als der britische Verkehrsdampfer Lusitania – den man beschoss, weil man vermutete, er transportiere auch Munition – vor Irland versank und mit ihm über 1200 Passagiere, musste die deutsche Marine auf amerikanischen Protest hin ihre willkürlichen, da militärische und zivile Seefahrzeuge nicht unterscheidenden Torpedierungen einstellen.5

1916, im dritten Kriegsjahr, verstärkten beide Koalitionen den Zermürbungskrieg, um endlich einen klaren Sieg zu erreichen. Der deutsche Stabschef Erich von FalkenhaynFalkenhayn, Erich von setzte auf den industriellen Faktor der modernen Kriegsführung und trachtete, den Kampfeswillen des Feindes zu brechen, indem er ihn durch Materialschlachten »ausbluten« ließ. Er wollte die Franzosen zwingen, ihre Soldaten an einem bestimmten Ort zu sammeln. Dazu hatte er die Festung von Verdun ausersehen, den strategischen Angelpunkt an der Westfront, der nach drei Seiten hin für Angriffe offen lag. Deutsche Artillerie schlug auf die Forts rings um die Stadt ein, während die Infanterie das Fort DouaumontDouaumont stürmte und den Verteidigern empfindliche Verluste beibrachte. Doch da tönte von der Gegenseite die Parole »Sie sollen nicht durchkommen« des französischen Frontkommandeurs, General Philippe PétainPétain, Philippe, der alles tat, um sie zu realisieren. Er organisierte eine entschiedene Abwehr, stellte Versorgung sowie Nachschub sicher und zog Soldaten aus den Kolonien heran. Als FalkenhaynFalkenhayn, Erich von sich vergegenwärtigte, dass die Deutschen die Verluste, die sie dem Feind zufügten, mit etwa der gleich hohen Zahl an Opfern auf der eigenen Seite bezahlten und so der Widerstand der Franzosen bestimmt nicht zu brechen war, sah er von weiteren Attacken ab. Zur selben Zeit begannen bestens ausgerüstete britische Truppen, deren Mannstärke beständig wuchs und die ihre Schlagkraft durch eine neue Waffengattung – Panzer – gestärkt wussten, eine gewaltige Offensive an der Somme. Doch gleich am ersten Tag kostete die Aktion sie rund 19 000 Tote, einen Blutzoll, so hoch wie keiner zuvor, und das für einen minimalen Geländegewinn.6 Auf beiden Seiten scheiterten die großangelegten Angriffe, sodass im Westen wieder Stillstand eintrat.

Im Osten setzten die Russen unter Alexej BrussilowBrussilow, Alexej Sommer 1916 eine letzte große Offensive in Bewegung, die fast den Ausgang des Krieges verändert hätte. Immerhin konnten sie einen schier unerschöpflichen Vorrat an Personal nutzen, und eine rapide expandierende Industrie belieferte sie hinreichend mit Waffen. Und so attackierten russische Einheiten die deutschen Linien bei WilnaWilna (Vilnius), wurden allerdings nach einer Weile doch zurückgeschlagen. Im Juni aber verblüfften die Zarenarmeen die Österreicher mit einem Überraschungsangriff in GalizienGalizien, durch den sie allerhand zuvor verlorenen Boden wiedereroberten. Dieser scheinbare Umschwung veranlasste die rumänische Regierung, die auf Erweiterung ihres Staatsgebiets um Teile Siebenbürgens hoffte, dazu, im August den Mittelmächten den Krieg zu erklären. Eine gemeinsame Militäraktion der Deutschen, Österreicher, Bulgaren und Türken warf diesen neuen Feind jedoch rasch nieder, und bis Ende des Jahres war das Land praktisch komplett besetzt. Die Ausbeutung der reichen Getreide- und Erdölvorräte Rumäniens trug dazu bei, dass die Mittelmächte den Krieg noch zwei Jahre weiterführen konnten. Und nachdem die Entente-Truppen schon einmal da waren, meinte auch AthenAthen sich am Konflikt beteiligen zu müssen, denn es hätte gern Territorien wiedererlangt, die mittlerweile zu Bulgarien gehörten. Ironischerweise hat der Eintritt von immer mehr Ländern in den Krieg den Konflikt nur ausgeweitet, an seinem Ausgang aber nichts Wesentliches geändert.7

Auch auf hoher See ging der Kampf weiter, doch ließ der Verlauf das militärische Gleichgewicht ebenfalls unberührt. Die Royal Navy setzte ihre Blockade der Nordseeausgänge fort, und in Gewässern mit solch ungünstigen Bedingungen wagte die Kaiserliche Marine keine Gefechte zu provozieren. Zur einzigen größeren Seeschlacht, der im Skagerrak vor JütlandJütland, kam es gewissermaßen durch ein Versehen: Die beiden Flotten rannten ineinander, weil dichter Nebel herrschte. Deutsche Schiffe versenkten zwar mehr britische Tonnage als umgekehrt, aber die Royal Navy behielt ihre Vorherrschaft zur See, blieb also strategischer Sieger. Der U-Boot-Krieg erwies sich allerdings sehr wohl als Bedrohung für die britischen Versorgungslinien – jedenfalls sofern die submarinen Angreifer ihre Torpedos, sobald die Sichtverhältnisse es zuließen, aus getauchter Position auf die feindlichen Schiffe feuerten. Zeigten sie sich, wie das traditionelle Reglement verlangte, an der Wasseroberfläche, setzten die verwundbaren U-Boote sich dem Feuer oder Rammen der Gegenseite aus. Doch die Amerikaner bestanden auf ihren Handels- und Reiserouten, auch auf solchen, die durch umkämpfte Gewässer führten. Man warnte BerlinBerlin davor, Linien- und Personenverkehrsschiffe zu versenken, die keinerlei Kriegszwecken dienten, wie es etwa der Arabic oder der Sussex geschehen war. Um die Vereinigten Staaten aus dem Krieg herauszuhalten, versuchte die deutsche Flotte, ihre Aktionen fortzusetzen, ohne dass Passagierschiffe Schaden nahmen. Das verschlechterte freilich ihre Abwehr, weil ihr auch echte Kampfschiffe entgingen.8 Wegen der tödlichen Effizienz der modernen Waffentechnik setzte gerade die beschriebene Pattsituation grauenhafte Gewalt frei, die Millionen Leben kostete.

Für die Soldaten auf beiden Seiten war die Fronterfahrung eine Hölle besonderer Art, die sich tief in die Erinnerung der Überlebenden brannte. Dabei gehörten zum Alltag in den Schützengräben immer wieder auch ausgedehnte Phasen der Langeweile während der Kampfpausen, in denen die Männer ihre Schutzstände ausbauten, Karten spielten, Zigaretten rauchten oder ihre entzündeten Füße versorgten. Wenn es dann losging, herrschte eine rauschhafte Erregung der Sinne, ein höherer, schärferer Bewusstseinszustand, der etwas Beglückendes haben konnte. Der Lärm war überwältigend; es mischten sich darin das Befehlsgebrüll der Kommandeure, das Tack-Tack-Tack der Maschinengewehre, das Pfeifen der Minenwerfer, die dumpfen Aufschläge explodierender Geschosse und die Schreie verwundeter Menschen und Pferde. Der Anblick des Ganzen war entsetzlich: Verschwommene Fotos zeigen Soldaten, die in gebückter Haltung vorwärtsstürmen, Leiber, die von Granaten zerrissen werden, schmutzige Gestalten, die in Krater kriechen, um Deckung zu suchen. Nachts erhellten Leuchtkugeln den Himmel und illuminierten eine gespenstische Szenerie aus Tod und Zerstörung. Der Gestank der verwesenden Leichen war kaum auszuhalten. Viele Soldaten erlebten ein Wechselbad der Gefühle, empfanden bald Angst, bald Gleichgültigkeit. Diesen Emotionswirrwarr konnten sie nur durch eiserne Disziplin, großzügige Alkoholzufuhr und Bordellbesuche ertragen. Die Gefechte in den Gräben schmiedeten die enge Kameradschaft eines Männerbundes, der nun als Überlebensgemeinschaft fungierte.9

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

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