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Internationale Kooperation

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Dauerhaften Frieden zu stiften, hieß nicht allein, für ein Ende der Kämpfe zu sorgen, sondern auch, abgebrochene Verbindungen wiederherzustellen. Nur eine moderne internationale Ordnung konnte eine Wiederkehr des Gemetzels verhindern. Die vielen einzelnen Schritte hin zur Versöhnung mussten zahlreiche Hindernisse überwinden. Die Amerikaner und Briten zogen ihre Besatzungstruppen rasch wieder ab, die der Franzosen und Belgier blieben dagegen bis 1930 im Rheinland. Auch galt es, die Propagandaapparate zu demontieren, die während des Krieges den jeweiligen Feind herabgewürdigt hatten. Zwar wurde der Kaiser nicht vor Gericht gestellt, aber die »Kriegsschuldfrage« erregte noch jahrelang mit gegenseitigen Anklagen die Gemüter. Die Kooperation in internationalen Vereinigungen und Verbänden musste erneuert werden, sodass zum Beispiel Delegierte aus Verliererländern wieder Zutritt zu wissenschaftlichen Organisationen erhielten, in denen die Sieger dominierten. Und schließlich musste die Blockade beendet und der freie Handel über die Grenzen hinweg wiederaufgenommen werden. Die ökonomische Wiederbelebung wurde aber immer wieder gehemmt: Man stritt um Patente, die der Feind für nichtig erklärt, um Betriebe, der er beschlagnahmt hatte – von dem ganzen Gezänk um die Reparationen gar nicht zu reden. Die Nachwirkungen des Krieges zu heilen und den freundschaftlichen Austausch wiederherzustellen, war also ein langfristiger Prozess, in den auch nichtpolitische Bedrohungen störend hineinwirkten, etwa die Grippeepidemie 1919.1

Mit der Lösung jener Probleme, die sich aus den Friedensregelungen ergaben, und dem Wiederbeleben internationaler Kooperation betraute man eine neue Organisation namens »Völkerbund«. Er wurde 1919 als intergouvernementales Gefüge gegründet und nahm sein Hauptquartier in GenfGenf – einer französischsprachigen Stadt in der neutralen Schweiz. An der Spitze dieser Assoziation souveräner Staaten stand der Generalsekretär; die eigentliche politische Tätigkeit verrichtete der Exekutivrat, der ein paar wenige ständige Mitglieder und rund ein Dutzend nichtständige hatte, wobei die letzten nach einem festen Turnus wechselten. Oberstes Entscheidungsorgan war aber die Generalversammlung, in der jedes Mitgliedsland eine Stimme besaß. Dem Ständigen Generalsekretariat arbeiteten mehrere Untergremien zu, welche die Kooperation in bestimmten Bereichen arrangierten, so der Ständige Internationale Gerichtshof, die Internationale Arbeitsorganisation, die Gesundheitsorganisation und die Hohe Flüchtlingskommission. Laut Satzung strebte der Völkerbund die Verhinderung eines weiteren Weltkrieges an; zu diesem Zweck sollte »internationaler Frieden und Sicherheit« durch offene Diplomatie, Abrüstung, Verhandlungen und Schlichtungen erreicht werden. Diese neue Institution, eine persönliche Kopfgeburt Präsident WilsonsWilson, Woodrow, war ein kühner Versuch, die klassische Politik des Gleichgewichts der Mächte durch die Formalisierung internationaler Kooperation auf eine höhere Ebene zu heben.2

Beim Friedensstiften hatte der Völkerbund nur begrenzten Erfolg, denn ein paar wichtige Staaten gehörten ihm nicht an, und seine Entscheidungen trugen doch sehr die Handschrift der Siegermächte. Dass die USAVereinigte Staaten nicht beitreten mochten, war für die Genfer Liga ein harter Schlag. Deutschland und Russland wiederum ließ man zunächst nicht hinein – damit fehlten aber ausgerechnet zwei der problematischsten Mächte in den Beratungen der Organisation. Gebunden an den Versailler Vertrag, garantierte sie die Unabhängigkeit DanzigsDanzig (Gdańsk), beaufsichtigte die französische Besetzung des SaargebietsSaarbecken und sicherte die Neuzuteilung der Kolonien über das Mandatssystem. Bei einigen Konflikten, etwa den deutsch-polnischen Rangeleien um OberschlesienOberschlesien, gelang es dem Völkerbund, Plebiszite zu organisieren, nach deren Ergebnissen er schließlich die Teilung der Provinz zwischen den beiden Staaten bestimmte. In geringfügigeren Angelegenheiten wie den Grenzstreitigkeiten zwischen Griechenland und Bulgarien 1925 konnte die Liga erfolgreich vermitteln. Ging es jedoch um die nationalen Interessen großer Länder, erwies sich der Völkerbund als weitgehend hilflos. Denn widerspenstige Mitglieder konnten sich erlauben, seine Beschlüsse zu ignorieren, vertrauten sie doch darauf, dass er nicht in der Lage war, diese militärisch durchzusetzen.3

Um sich aus der Isolation ihrer Verbannung zu befreien, schlossen die outcasts Deutschland und Russland April 1922 im italienischen Badeort RapalloRapallo einen Freundschaftsvertrag. Das Agreement, das die Außenminister der beiden Staaten Walther RathenauRathenau, Walther und Georgi TschitscherinTschitscherin, Georgi ausgehandelt hatten, verstörte die Siegermächte des Krieges, denn es zeigte, dass die Weimarer Republik und Sowjetrussland nicht allein von ihrem guten Willen abhängig waren. Der Text des Vertrages kam recht harmlos daher, denn er legte nur fest, was die Partner einander erlassen wollten: Beide Länder, hieß es, »verzichten auf den gegenseitigen Ersatz ihrer Kriegskosten sowie auf den Ersatz der Kriegsschäden«. Praktisch bedeutete dies, dass das Reich keine Reparationen mehr für während der Oktoberrevolution verstaatlichtes ehemals deutsches Eigentum verlangte. Auch die Sowjets forderten keine Wiedergutmachung dessen mehr, was die Berliner Okkupanten auf russischem Boden angerichtet hatten. Der Vertrag versprach ferner, dass man künftig wieder normale diplomatische Beziehungen unterhalten und die wirtschaftliche Kooperation wiederaufnehmen werde; und das hatten beide Länder bitter nötig, weil sie aufgrund von Krieg und Revolution darniederlagen. Zusätzlich gab es in dem Text noch eine geheime Klausel, hinter der sich Brisanteres verbarg, nämlich die beiderseitige Bereitschaft zur militärischen Zusammenarbeit. Dadurch konnte die Reichswehr die Versailler Entwaffnungsbestimmungen umgehen, und die Sowjets erhielten Zugang zu deutscher Flugzeug-, Panzer- und U-Boot-Technik.4

Der strittigste unter den Punkten, die nun die internationale Kooperation behinderten, war die Frage der Reparationen. Als die Reparationskommission den zu entrichtenden Betrag auf 269 Milliarden Goldmark festsetzte, war die deutsche Öffentlichkeit schockiert; und selbst einige ausländische Ökonomen hielten die Summe für zu hoch. Vielleicht hätte BerlinBerlin tatsächlich zahlen können, wenn es die Steuern erhöht und den Lebensstandard des deutschen Volkes gesenkt hätte. Dies wagte die Regierung jedoch nicht, da sie sich bereits zu sehr in der Defensive befand. Also spielte sie auf Zeit und begann erst einmal schleppend, Sachlieferungen zu leisten. Die anschließende RuhrbesetzungRuhrgebiet entfachte nationalistische Leidenschaften, zumal sie die ohnehin galoppierende Inflation beschleunigte. Darunter litt vor allem die Reichsmark, die Okkupation strapazierte aber auch die französischen Ressourcen. In diese festgefahrene Situation konnten nur amerikanische Vermittler wieder Bewegung bringen. Unter der Verhandlungsführung des republikanischen Bankiers und späteren US-Vizepräsidenten Charles G. DawesDawes, Charles G. wurde ein Kompromiss gefunden mittels der Kürzung des Gesamtbetrages um die Hälfte sowie der Reduktion der jährlichen Zahlung auf vorläufig 1 Milliarde Mark. Spätestens nach fünf Jahren musste die jährliche Rate aber auf 2,5 Milliarden steigen. Finanziert werden sollte die Summe durch neue Steuern und amerikanische Anleihen. Unter dem Vorsitz Ramsay MacDonaldsMacDonald, Ramsay ratifizierte die Londoner Konferenz von 1924 diese Vereinbarung und hob auch die Pattsituation auf, die durch die Ruhrbesetzung verursacht worden war.5

Diese Lösung verbesserte das internationale Klima hinreichend, um weitere Schritte in Richtung Kooperation zu tun. Dazu gehörten auch die Verträge, die der deutsche Außenminister Gustav StresemannStresemann, Gustav, sein britischer Amtskollege Austen ChamberlainChamberlain, Austen und Frankreichs Premierminister Aristide BriandBriand, Aristide 1925 in Locarno schlossen. Es handelte sich um Nichtangriffsvereinbarungen, mit denen die drei Länder die neuen Westgrenzen des Deutschen Reiches ratifizierten, wie sie in Versailles gezogen worden waren. Des Weiteren gab es in LocarnoLocarno Schiedsabkommen mit Polen und der Tschechoslowakei, die freilich nur festlegten, dass man künftig Streifragen gewaltfrei regeln wolle. So eröffnete sich für Deutschland die Chance auf eine friedliche Revision jenes Teils des Versailler Vertrages, der die Ostgrenzen betraf. Dieser Kompromiss verschaffte den Westmächten die Gewissheit, dass ihre Besitztümer sich außer Gefahr befanden. Zugleich vergalt er den Deutschen ihre »Erfüllungspolitik« mit der Hoffnung, dass die Verluste im Osten vielleicht nicht unbedingt dauerhaft seien – eine Hoffnung, die allerdings in Polen für Unruhe sorgte. Der versöhnliche »Geist von LocarnoLocarno« zeitigte eine Phase der Kooperation zwischen Deutschland und Frankreich, die nicht nur möglich machte, dass BerlinBerlin 1926 dem Völkerbund beitrat, sondern auch, dass die französischen und belgischen Truppen schon 1930, also fünf Jahre früher als ursprünglich vorgesehen, das RheinlandRheinland räumten.6 Obwohl sich der dabei demonstrierte good will als flüchtig erwies, zeigte LocarnoLocarno doch, was die zwischen den Kriegen versuchte Versöhnungspolitik hätte erreichen können, wäre sie nur mit mehr Ernsthaftigkeit betrieben worden.

Mit dem Nachlassen der Spannungen in Europa wurde es denkbar, dem dornigen Problem der Reparationen dadurch zu Leibe zu rücken, dass man die Ansprüche der Sieger noch weiter hinunterschraubte. Zwischen den meisten unparteiischen Beobachtern bestand mittlerweile Einigkeit, dass die Bürde für die deutsche Regierung zu schwer war. Erzwänge man die volle Begleichung, hätten die Rechten leichtes Spiel damit, die Weimarer Republik des Ausverkaufs zu zeihen. 1929 präsentierte deshalb eine internationale Kommission unter Leitung des US-Industriellen Owen D. YoungYoung, Owen D. folgenden Plan: Der Gesamtbetrag solle auf 115 Milliarden Mark reduziert werden, zahlbar in 59 Jahren, nur ein Drittel der Zwei-Millionen-Rate würde jährlich fällig, den Rest könne Deutschland später nachreichen.7 Freilich wurde mit dem Zusammenbruch der Wall-Street-Börse auch diese Summe illusorisch. Präsident Herbert HooverHoover, Herbert sah sich veranlasst, 1930 ein einjähriges Moratorium zu verkünden – in der Hoffnung, später würden die Zahlungen wieder aufgenommen. Doch die Große Depression wirkte so verheerend, dass man 1932 auf einer Konferenz in LausanneLausanne den Betrag um weitere 90 Prozent senkte, und als selbst diese Summe ein Ding der Unmöglichkeit schien, durfte Deutschland sich für zahlungsunfähig erklären. Nur ein Achtel des Totums wurde je gezahlt; die Bundesrepublik überwies den letzten Abschlag 2010!

Obwohl die Emotionen der Bevölkerung die Versöhnung schwierig machten, bewies die in der zweiten Hälfte der 1920er schrittweise erfolgende Annäherung doch, dass Kooperation möglich war, wenn man sich nur ernsthaft genug darum bemühte. Aber das Erinnern an die Millionen toter und verstümmelter Soldaten, die Kriegerdenkmäler, die dafür errichtet wurden, und das Veranstalten von Veteranenparaden hielten den Hass gegen die ehemaligen Feinde lebendig. Viele Probleme, wie die neuen Grenzen und ethnische Minderheiten, waren unausräumbar, da konnten die Rahmenbedingungen noch so gut sein. Dennoch bot der Völkerbund ein vielversprechendes Forum für internationale Debatten und Konfliktlösungen – sofern die streitenden Parteien Bereitschaft zeigten, sich seinen Entscheidungen auch zu fügen. Die Sieger bemerkten zunehmend, dass ein Entgegenkommen bei bestimmten Punkten die Verlierer dazu bringen konnte, die übrigen zu beherzigen, während es den Niedergeworfenen langsam dämmerte, dass sie vielleicht ein paar der Bestimmungen würden modifizieren können, wenn sie den Rest des Vertrages akzeptierten. Damit sich der Abgrund des Misstrauens ein Stück weit schloss, bedurfte es eines langwierigen diplomatischen Prozesses, unterstützt durch eine freundliche Berichterstattung in den Medien. Nach LocarnoLocarno schien solch ein Fortschritt gar nicht mehr fern, doch als neue Unruhen den guten Willen auf die Probe stellten, erwies sich seine mangelnde Belastbarkeit.8

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

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