Читать книгу Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch - Страница 25
Die Illusion vom kurzen Krieg
ОглавлениеDie Öffentlichkeit begegnete dem Ausbruch des Krieges im Juli 1914 mit einer Mischung aus Enthusiasmus und unguten Ahnungen. In allen größeren europäischen Städten sammelten sich erregte Bürger spontan zu Massenversammlungen. Sie lasen einander die neuesten Zeitungsmeldungen vor, marschierten mit wehenden Fahnen einher, hörten nationalistische Reden und sangen patriotische Lieder. Nachdem sie ihre Professoren zur nationalen Einheit ermahnt hatten, zogen die Studenten auf die Straßen, denn sie begrüßten die Befreiung aus einem öden Frieden als eine Chance, ihren Schneid in einer historischen Waffenprobe zu beweisen. In den Arbeitervierteln und bei den nationalen Minderheiten jedoch überwogen die Bedenken. Sozialistische Redner und Rednerinnen, darunter Rosa LuxemburgLuxemburg, Rosa, forderten gar »Massenaktionen gegen den Krieg«. Besonders die Armen fürchteten, was da kommen mochte, denn sicherlich würden sie die Hauptlast des Kampfes tragen müssen. Um ihre Nervosität zu überwinden, kritzelten frisch einberufene Rekruten »À Berlin!« oder »Nach Paris!« auf die Waggons der Züge, die sie fortbrachten; spätestens Weihnachten, das glaubten sie ganz fest, würden sie zurück sein. Weder Generäle noch Politiker konnten sich damals vorstellen, die Intensität einer modernen Kriegsführung ließe sich für länger als ein paar Monate aufrechterhalten. Folglich richteten sie ihre Entscheidungen nach der Frage aus, wie möglichst rasch ein Sieg zu erringen sei.1
Bedachte man, wie eindeutig die Entente den Mittelmächten überlegen war, was Bevölkerungsgröße und Zugang zu Ressourcen betraf, konnte man schon vermuten, dass der Krieg eher kurz ausfallen werde. Erstere verfügte über 28 Prozent der industriellen Kapazität weltweit, während den Letzteren nur 19 Prozent zu Gebote standen. Außerdem hatten die Alliierten 5,8 Millionen Soldaten unter Waffen, die Gegenseite lediglich 3,8 Millionen. Da die Royal Navy die Meere beherrschte, konnte die Entente Rohstoffe und Nahrungsmittel aus der ganzen Welt beziehen, während der Zweibund an essenzielle Materialien nicht mehr herankam, wie etwa Stickstoff für Sprengmittel und Kunstdünger, Eisen für Waffen oder Kautschuk und Öl für Motorfahrzeuge. Der einzige Vorteil der Mittelmächte bestand darin, dass sie über eine kompakte Landmasse verfügten. Daher konnten sie die Strategie der »inneren Linien« verfolgen und leichter Truppen von einer Front zur anderen verlegen. Ihre Feinde hingegen belasteten die langen Verkehrs- und Kommunikationswege zwischen Frankreich, England und Russland, die eine koordinierte Planung erschwerten. Im Falle Deutschlands kamen vielleicht noch der professionelle Drill beim Militär und die exzellente wissenschaftliche Zuarbeit als Pluspunkte hinzu.2 Aber wegen ihrer strukturellen Unterlegenheit waren die Mittelmächte gezwungen, mehr und höhere strategische Risiken einzugehen.
Es war ein verzweifeltes Wagnis, einen Zweifrontenkrieg gewinnen zu wollen, indem man erst den gefährlicheren Feind im Westen niederwarf und sich um den mutmaßlich noch nicht kampfbereiten im Osten später kümmerte. Dennoch erreichte der Schlieffen-Plan fast sein Ziel – aber fast genügte eben nicht. Im Prinzip von verführerischer Einfachheit, sah er für den ersten Teil Folgendes vor: Der rechte Flügel der deutschen Front marschiert durch Belgien in NordwestfrankreichNordwestfrankreich ein, den französischen Festungsgürtel umgehend, und schlägt danach einen weiten Bogen durch das Land, indem er zunächst Richtung Süden vorstößt, dann ostwärts schwenkt und dem Feind in den Rücken fällt; dabei wird auch ParisParis eingeschlossen – so weit das theoretische Konstrukt. In der Praxis scheiterte das Vorhaben schon daran, dass die Belgier ihre Festungen, Lüttich zum Beispiel, hartnäckig verteidigten. Hinzu kam, dass die Russen rascher mobilisierten als erwartet, was den Stabschef Helmuth von MoltkeMoltke, Helmuth von zwang, nun doch zwei Armeekorps zur Stützung der Ostfront zu entsenden. In Frankreich immerhin rückten die deutschen Streitkräfte trotz aller Widrigkeiten erfolgreich vor, überquerten Anfang September den Fluss Marne nahe Paris und bedrohten bald die Hauptstadt ganz unmittelbar. Aber wirre Kommunikation, erschöpfte Soldaten, Probleme bei Nachschub und Versorgung und eine über fünfzig Kilometer offenliegende Flanke machten sie verwundbar, als Frankreichs General Joseph JoffreJoffre, Joseph und das Britische Expeditionskorps ihre Konterattacke starteten. Am 9. September beschlossen daher die Generäle Karl von BülowBülow, Karl von und Alexander von KluckKluck, Alexander von, den Vormarsch abzubrechen. In höchster Not hatten die Franzosen sogar Pariser Taxis einsetzen müssen, um die Verteidiger zur Front zu bringen. Dieses »Wunder an der Marne« hieß für die Deutschen, dass ihr Kriegsplan im Westen gescheitert war.3
Nicht besser erging es aber seinem französischen Pendant, dem sogenannten Plan XVII, weil der deutsche Widerstand stärker ausfiel als erwartet. Die Strategie fußte auf dem damals gepflegten »Kult der Offensive« und bezweckte unter anderem, die verlorenen Provinzen im Westen zu befreien; daher sollte der Hauptstoß nach und durch Elsass-LothringenElsass-Lothringen geführt werden. Zusätzlich hoffte man, die südlichen deutschen Staaten von Preußen abzuspalten. Obwohl die Franzosen zunächst ins Oberrheintal vorrücken und MülhausenMühlhausen einnehmen konnten, zwangen erbitterte deutsche Konterattacken sie bald zu raschem Rückzug. Nun hatte jede Partei mit einem vormarschtaktischen Plan eine empfindliche Niederlage kassiert, und daraus zogen beide Seiten die Konsequenz, dass sie sich in ihren Schützengräben festsetzten, um eine Kette aus unbezwinglichen Stellungen zu etablieren. Nur im weiterhin offenen nördlichen Abschnitt der Front hatte sich noch ein »Wettlauf zum Meer« entwickeln können, bei dem jede Seite die andere auf dem Weg zur Nordsee zu überholen und zu übertrumpfen suchte. Schließlich wollte man die strategische Initiative wieder an sich reißen. Eifrig mühten sich Deutsche und Briten auf den flandrischen Feldern, einander einzukreisen, doch ihre Kräfte hielten sich die Waage, bis man sich an der Kanalküste schließlich regelrecht auf die Füße trat. Entgegen den meisten Vorhersagen endete der Bewegungskrieg im Westen im November 1914.4 Den Deutschen war es zwar gelungen, fast ganz Belgien und einen Teil NordfrankreichsNordfrankreich zu besetzen, aber den Krieg hatten sie nicht gewonnen.
Im Osten erfüllten die russischen und österreichischen Offensiven ihren Zweck ebenfalls nicht. Stattdessen steckte man entlang einer Front fest, die von der Ostsee bis zur rumänischen Grenze reichte – rund 800 Kilometer. Nachdem sie ihre Truppen rascher hatte mobilisieren können als gedacht, zog die zaristische Armee unter Paul von RennenkampfRennenkampf, Paul von und Alexander SamsonowSamsonow, Alexander in Ostpreußen ein und stieß auf KönigsbergKönigsberg (Kaliningrad) und DanzigDanzig (Gdańsk) vor. Dass ihre beiden Einheiten getrennt marschierten, gab den deutschen Verteidigern die Möglichkeiten, die Russen zunächst bei TannenbergTannenberg, dann an den Masurischen Seen einzukreisen und sie nach Polen zurückzudrängen. So erbärmlich MoltkeMoltke, Helmuth von im Westen gescheitert war, so ruhmreich siegten Paul von HindenburgHindenburg, Paul von und Erich LudendorffLudendorff, Erich im Osten. Dadurch entstand ein Mythos um die militärische Brillanz der beiden Heerführer, der noch desaströse politische Konsequenzen zeitigen sollte.5 Im Feldzug gegen Serbien unterschätzte der österreichische Stabschef Conrad von HötzendorfHötzendorf, Conrad von seinen Feind; zwar konnte er für kurze Zeit BelgradBelgrad einnehmen, aber angesichts des heftigen Widerstandes der Verteidiger nicht halten. In GalizienGalizien war die materielle Überlegenheit der russischen Angreifer so enorm, dass die Streitkräfte der Habsburger die Festungen LembergLemberg (Lwiw) und PrzemyślPrzemyśl aufgeben mussten. Erst der Winterfeldzug deutscher Verstärkungstruppen in den Karpaten brachte etwas verlorenen Boden zurück.6
Angesichts des unerwarteten Stillstands im Westen wie im Osten suchte man fieberhaft nach Verbündeten, die dabei helfen könnten, das militärische Gleichgewicht zur jeweils eigenen Seite hin zu kippen. Während der Eintritt der Türkei in den Krieg die Schlagkraft Russlands minderte, weil es nun Truppen zur kaukasischen Grenze verlegen musste, konnte die Entente Italien dafür gewinnen, auf ihrer Seite mitzuwirken. Wenn die nationalistische Agitation in RomRom die Befreiung der Italia irredenta forderte, meinte sie eher die von Österreich beherrschten Territorien TrientTrient, FriaulFriaul und IstrienIstrien als mittlerweile Frankreich eingegliederte Provinzen wie NizzaNizza oder SavoyenSavoyen. Nachdem der Westen Italien weitere Teile der dalmatinischen Küste und neue Kolonien in Aussicht gestellt hatte, entschloss sich die Kriegspartei, auf einen Sieg der Entente zu setzen; dabei befeuerte sie ein damals noch als Sozialist profilierter, erst seit kurzem kriegerisch auftretender Benito MussoliniMussolini, Benito. Eigentlich war Österreich in der Grenzregion militärisch eher schwach aufgestellt, doch seine strategische Position in der ersten Alpenkette galt als uneinnehmbar. Daher sah sich der italienische Feldmarschall Luigi CadornaCadorna, Luigi gezwungen, seine Attacke über den Isonzo-Fluss zu führen. Den habsburgischen Verteidigern kam nun zugute, dass sie eine bessere Artillerie besaßen und genügend Soldaten aus Serbien abziehen konnten, um einer Serie italienischer Offensiven standzuhalten.7 Die Eröffnung einer neuen Front in Südeuropa bewirkte letztlich nur, dass noch mehr Blut floss.
Der Bewegungskrieg, mit dem der Waffengang begann, brachte also keineswegs, wie vielfach geglaubt, eine militärische Entscheidung bis Ende 1914. Keine Seite siegte oder unterlag entschieden genug, um das Einstellen der Kampfhandlungen zwingend zu machen. Bei den Mittelmächten wurden die Vorteile der Deutschen – taktische Effizienz und soldatische Disziplin – konterkariert durch die Schwäche des multiethnischen österreichischen Verbündeten. Bei der Entente wiederum blieben hohe Kopfzahlen und materielle Überlegenheit wirkungslos, weil ihre Feldzüge schlecht koordiniert waren. All die sorgfältig entwickelten strategischen Pläne scheiterten, weil sie den Akzent auf die Offensive setzten. Von ihr versprach man sich einen raschen, eindeutigen Sieg, durch den sich ehrgeizige Kriegsziele am ehesten erreichen ließen. Von einer defensiven Haltung wollte man wenig wissen; dabei war gerade sie militärisch effektiver und politisch leichter durchzuhalten. Das Ergebnis: Alle Armeen verloren fast die Hälfte ihrer ursprünglichen Mannstärke; die nicht mehr Einsatzfähigen waren entweder tot, verwundet oder gefangen. Die Mittelmächte hatten zwar fast ganz Belgien und große Teile NordfrankreichsNordfrankreich besetzt, beim Vormarsch auf WarschauWarschau aber bremste sie der Feind, und in GalizienGalizien hielten sie sich nur mit Mühe, ebenso in Italien. Zur Überraschung aller stellte sich heraus, dass moderne Kriegsführung die Kämpfe nicht verkürzte, sondern ins Unendliche verlängerte.
Der Erste Weltkrieg in Europa 1914–1918