Читать книгу Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch - Страница 44
Liberale Neugestaltung
ОглавлениеWilsonsWilson, Woodrow Programm war ein innovativer Versuch, eine liberale Ordnung für die Politik nach dem Kriege zu schaffen, der aber infolge unzureichender Umsetzung und immanenter Widersprüche scheiterte. Das Prinzip der Selbstverwaltung entsprach dem in vielen Völkern spürbaren Streben nach mehr Partizipation, um dessentwillen demokratische Verfassungen erstellt werden sollten. Das Versprechen der Selbstbestimmung ging ein auf die da und dort hochflammende nationalistische Agitation; den ethnischen Gruppen wurde nahegelegt, Nationalstaaten zu bilden. Der Vorschlag, internationale Kooperation zu organisieren, war motiviert durch den Wunsch, das Kriegerische aus der Politik des Mächtegleichgewichts herauszunehmen, indem man eine Institution kreierte, die Kriege überflüssig machte. WilsonsWilson, Woodrow fortschrittlichen Initiativen mangelte es nicht an Attraktivität, doch führten sie zu vielen neuen Problemen. Das kulturelle Erbe des Autoritarismus besaß noch subversives Potenzial genug, um demokratische Selbstverwaltung zu blockieren. Ethnisch gemischte Besiedlungen lösten Konflikte um Minderheiten und Grenzstreitigkeiten aus. Unwillig, sich ihre neue Souveränität schon wieder schmälern zu lassen, kooperierten unabhängige Staaten oft nur, wenn es in ihre Interessen passte. WilsonsWilson, Woodrow Vision betraf Kernprobleme der Moderne, nur verkannte er das destruktive Potenzial, das in ihr steckte.1
Die Verbreitung der Demokratie in Mittel- und Osteuropa bot den ehemaligen Untertanen der Landimperien die nie dagewesene Chance, ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände zu nehmen. Der Sturz der zaristischen, der Habsburger und der Osmanischen Monarchie brachte die nationalen Bewegungen ihrem Ziel endlich näher. Inspiriert von den Idealen der Französischen Revolution, hatten jene Kämpfer sich gegen ihre tyrannischen Oberherren gestellt, waren jedoch durch das Scheitern der 1848er-Revolutionen empfindlich zurückgeworfen worden. Die Hartnäckigkeit, mit der die alte Ordnung ihr Regiment verteidigte, um sich ihre Privilegien zu erhalten, hatte nur stückweise Fortschritte in Richtung Selbstverwaltung zugelassen.2 Die autoritären Regime mussten erst niedergeworfen werden, bevor sich eine Gelegenheit eröffnete, politische Teilhabe zu umfassender Repräsentation auszuweiten. In den grimmigen ideologischen Zwisten nach dem Krieg gewann die demokratische Alternative anfangs überall die Oberhand – außer im autoritären Ungarn und in der radikalen Sowjetunion. Viele befreite Bürger waren aber noch nicht imstande, die frisch gewonnenen Rechte auch wahrzunehmen, denn sie hatten keinerlei Erfahrung mit Selbstverwaltung und Selbstbestimmung. Die Härten des Bürgerkrieges, ökonomische Einbußen und populistischer Nationalismus sorgten dafür, dass sich die neuen Demokratien gar zu bald in kleine Diktaturen verwandelten.3
Durch die PariserParis Friedensverträge entstanden ein Dutzend neuer Nationalstaaten, die das Prinzip der Selbstbestimmung in Europa beträchtlich voranbrachten: verschiedene Ethnien konnten sich nun jeweils selbst regieren. Von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer durften ehemalige Untertanen russischer, deutscher und ungarischer Herrscher ihre eigenen Nationalstaaten bilden, in denen sie dann die Möglichkeit hatten, ihre Unabhängigkeitsträume zu realisieren. Die Befreiung von den früheren Herren bedeutete für die nunmehr Souveränen, dass sie in öffentlichen Angelegenheiten ihre eigene Sprache benutzen, ihre Kinder in den Schulen das gemeinsame kulturelle Erbe lehren und internationalen Respekt beanspruchen konnten wie ältere, bereits etablierte Nationen. Aber der Minderheitenschutz, den der Völkerbund verfügte, erwies sich als unzureichend für bestimmte Gebiete in Ostmitteleuropa, die eine starke ethnische Durchmischung aufwiesen. Denn in vielen Städten lebten mehrere Völkerschaften nebeneinander, beispielsweise Deutsche, Juden und Slawen in PragPrag. Volkszählungen, die ja auch nationale Zugehörigkeiten ermittelten, bargen Zündstoff, denn der Anspruch auf Macht oder Grenzverläufe hing ab von der Identifikation der Bürger mit einer bestimmten Sprache. Die Einführung der Selbstbestimmung von oben herab, mit der der Völkerbund die Mittelmächte zu schwächen und Sowjetrussland draußen zu halten hoffte, sorgte für heftige Konflikte, die sich später zu ethnischen Säuberungen auswachsen sollten.4
Eine internationale Organisation einzurichten, die in Konfliktfällen vermittelte und einem zweiten Weltkrieg vorbeugte, schien ebenfalls eine exzellente Idee. Eigentlich trat der Völkerbund das Erbe der Kongresssysteme um ein Jahrhundert versetzt an. Auf dem neu geschaffenen internationalen Forum sollten die Öffentlichkeiten verschiedener Länder ihre Meinungen austauschen, die Probleme der Welt diskutieren, rechtliche Leitlinien für den Umgang der Nationen miteinander festlegen, sich um lebenswichtige Einzelmaßnahmen wie den Arbeitsschutz kümmern – alles ehrenwerte Ziele, und was die Gremien erreichten, tat sicherlich einiges, um Spannungen zwischen Ländern zu mindern. Doch die Verteidiger nationaler Souveränität schafften es immer wieder, die Initiative zu sabotieren. Sie beharrten darauf, dass den Großmächten ein Vetorecht zustehe und dass die besiegten Feindnationen ausgeschlossen, die Sowjetunion gar nicht erst hereingelassen und die Vereinigten StaatenVereinigte Staaten am Beitritt gehindert werden müssten. Auch nötigten sie den Völkerbund, die Bestimmungen der umstrittenen Friedensverträge mit Härte durchzusetzen. Zwar gelang es der Genfer Liga, mehrere Grenzdispute durch Plebiszite beizulegen und ganz allgemein die internationalen Debatten zu zivilisieren; hingegen versagte sie katastrophal, als es darum ging, jene Streitigkeiten zwischen den Großmächten zu regeln, die später einen neuen Weltkrieg entzündeten.5
Die Bemühungen um demokratische Modernisierung, die am Ende des Ersten Weltkrieges begannen, wirken in der Rückschau gleichzeitig bestechend und enttäuschend. Die Niederlage der Mittelmächte schuf eine historische Chance, einen Frieden zu errichten auf den Prinzipien der Demokratie, der Selbstbestimmung und der Einbindung in eine internationale Organisation. Dank jener attraktiven Ideen fanden die meisten Bürger Mittel- und Osteuropas WilsonsWilson, Woodrow liberales Reformprogramm sympathischer als LeninsLenin, Wladimir I. kommunistische Revolutionsverheißungen. Aber nationales Eiferertum und konservative Widerspenstigkeit seitens der siegreichen Alliierten machten die Implementierung dieser Ideale durch die Pariser Friedensverträge zu einer recht einseitigen Angelegenheit. Dass die Triumphanten in fast allen umstrittenen Fällen als die Begünstigten erschienen, fachte unter den Geschlagenen verbliebene Ressentiments neu an. Hinzu kamen inhaltliche Ungereimtheiten – etwa, dass man Selbstbestimmung in Ländern installierte, die dafür noch nicht reif waren; dass man Nationalstaaten in ethnisch durchmischten Regionen errichtete; dass man eine internationale Organisation gründete, ohne sicherzustellen, dass die Mitglieder Teile ihrer Souveränität abgaben. Infolge solcher Fehler blieb die liberale Moderne auf den Westen beschränkt. WilsonsWilson, Woodrow Vision hat auch noch später Demokraten inspiriert, doch bedurfte es einiger Überarbeitung und Weiterentwicklung, um zu gewährleisten, dass sie sich am Ende durchsetzte.6