Читать книгу Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch - Страница 47
Die Nachkriegskrise
ОглавлениеDer Faschismus war ein Produkt der Krise, die der parlamentarischen Regierung nach dem Krieg zusetzte; Modernisierungsprobleme der geschilderten Art erleichterten ihm sein Wirken. Zwar erhielt Italien die meisten der Territorien, die ihm der Vertrag von LondonLondon zugesagt hatte, darunter TrientTrient, doch waren viele Veteranen enttäuscht, dass nicht auch die dalmatische Küste und die neuen Kolonien zur Kampfesbeute gehörten. Dass sich nicht all ihre Hoffnungen erfüllt hatten, machte die Nationalisten zornig, die von einer vittoria mutilata, einem ›verstümmelten Sieg‹ sprachen. Um den Verlauf der neuen Grenze zu Jugoslawien entbrannten heftige Kontroversen, denn in vielen Städten IstriensIstrien und DalmatiensDalmatien wohnten vorwiegend Italiener, während im Land ringsum meist mehrheitlich Slowenen und Kroaten lebten. Um RomRom unter Druck zu setzen, stellte der Dichter Gabriele d’Annunziod’Annunzio, Gabriele, ein Nationalist von kleiner Statur, eine Legion aus rund 2000 Ex-Soldaten, Deserteuren und Desperados zusammen und besetzte die Hafenstadt FiumeFiume (Rijeka), heute bekannt als Rijeka. Dort errichtete er ein Operettenregime mit reichlich Proklamationen und Paraden. Der Dichterd’Annunzio, Gabriele machte sich auch Gedanken über das äußere Erscheinungsbild und die Organisationsform der Bewegung, weshalb er einiges von dem erfand, womit die Faschisten später bekannt wurden, etwa einen spezifischen Gruß – damals die erhobene Faust – oder die »korporative Ordnung«. Schließlich musste die Marine d’Annunziod’Annunzio, Gabriele vertreiben, aber FiumeFiume (Rijeka) blieb eine italienische Stadt, was immerhin zeigte, wozu eine entschlossene rechte Miliz in der Lage war.1
Die Kabinette NittiNitti, Francesco Saverio und GiolittiGiolitti, Giovanni erwiesen sich als unfähig, den ökonomischen Übergang zur Friedenszeit zu regeln, sodass sich ein Gefühl der Panik in der Mittelklasse ausbreitete. Da nach Gewehren, Kanonen, Munition und Schlachtschiffen keine Nachfrage mehr bestand, traf nicht wenige Firmen, die Kriegsmaterial hergestellt hatten, der Kollaps. Nach der Demobilisierung der Veteranen waren rund zwei Millionen arbeitslos, während die Inflation in die Höhe schnellte: Die Preise kletterten auf 600 Prozent des Standes von 1914. Angeregt durch das revolutionäre Beispiel der Bolschewiki, reagierten die Arbeiter auf die sich stetig verschärfende Rezession mit wachsender Militanz. Eine Reihe von Streiks legte die Produktion lahm, Hungerrevolten brachen aus, Fabriken wurden monatelang besetzt. In den agrarischen Gebieten bemächtigten sich die Bauern des Landes und plünderten die reichen Lagerbestände der Großgrundbesitzer. Als die Regierung versuchte, der Unzufriedenheit des Volkes zu begegnen, indem sie ihm ein paar Konzessionen machte – sie führte etwa den Achtstundentag und eine erweiterte Sozialversicherung ein –, fürchteten die Begüterten, man wolle ihnen ihren Besitz abnehmen oder wegbesteuern. Seit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts waren Urnengänge kein gemütliches Spiel innerhalb der Eliten mehr, sondern ein Wettkampf unter Beteiligung der Volksmassen, mit ungewissem Ausgang.2 Die Politik zeigte sich der Aufgabe, einen Weg aus dem Nachkriegschaos zu finden und Stabilität wiederherzustellen, nicht gewachsen.
Diese Wirrnis bot Chancen für populistische Newcomer wie den Journalisten Benito MussoliniMussolini, Benito. Er wurde 1883 in PredappioPredappio geboren, einer kleinen Stadt der RomagnaRomagna, und war bescheidener Herkunft. Sein Vater, Schmied von Beruf und antiklerikaler Republikaner sowie Sozialist von Gesinnung, nannte seinen Sohn nach dem mexikanischen Revolutionär Benito JuárezJuárez, Benito. Der Knabe war widerspenstig, doch zeigte er vielversprechende geistige Fähigkeiten, weshalb man ihn auf ein katholisches Internat schickte. Nach mancherlei Schwierigkeiten – ausgelöst durch Handgreiflichkeiten mit Kameraden – erlangte BenitoMussolini, Benito schließlich ein Diplom, das ihn zum Unterricht an Elementarschulen berechtigte. Dem Ruhelosen sagte die biedere Routine eines Volksschullehrerdaseins allerdings nicht zu, und so ging er in die Schweiz, wo er bald mit radikalen Ideen in Berührung kam. Nach Italien zurückgekehrt, leistete er seinen Militärdienst ab und wurde Journalist. Er trat der Sozialistischen Partei bei und schrieb für deren Organ Avanti (›Vorwärts‹); dank seiner feurigen Rhetorik stieg er bald zum Chefredakteur auf. Nach Ausbruch des Weltkriegs brach er jedoch mit der PSI, denn diese plädierte für die Neutralität Italiens, er hingegen leidenschaftlich für dessen Beteiligung am Waffengang. MussoliniMussolini, Benito gründete eine neue, eigene Zeitung und gab ihr den Namen Popolo d’Italia (›Volk Italiens‹). Ein Polizeibericht aus den Nachkriegsjahren beschreibt ihn als »emotionale und impulsive Person«, »guten Redner«, als »sehr intelligent, gewitzt, umsichtig, bedachtsam« und »mit guter Menschenkenntnis« begabt.3
MussoliniMussolini, Benito war kein systematischer Denker, sondern eher ein weitgehend autodidaktischer Intellektueller, der sich leicht von starken Worten beeindrucken ließ und populäre Parolen mit emotionaler Rhetorik dramatisierte. In seiner Autobiografie gibt er an, er glaube nicht, dass man aus Büchern lernen könne; lehrreich sei für ihn nur eines gewesen: »Das Buch des Lebens – das ich gelebt habe«. Geprägt hatten ihn die Armut seiner Herkunft, der Antiklerikalismus seiner Jugend, die frühen Konflikte mit Autoritäten und das erregende Abenteuer des Krieges im Mannesalter. Trotzdem bezog er sich in seinen Reden immer wieder auf die Konzepte anderer Denker, die er sich zu eigen machte: So übernahm er den Protest gegen die Ausbeutung von Karl MarxMarx, Karl, die Strategie der direkten Aktion von Georges SorelSorel, Georges, die Forderung nach einer Elite von dem Soziologen und Ökonomen Vilfredo ParetoPareto, Vilfredo, den Willen zur Macht von Friedrich NietzscheNietzsche, Friedrich und die Thesen über die Formbarkeit der Massen vom Psychologen Gustave Le BonLe Bon, Gustave. All diese Vorstellungen, eher halb verdaut als gründlich reflektiert, flößten ihm einen tiefen Hass auf die politische Klasse Italiens ein, sei sie nun liberal, katholisch oder sozialistisch. Sich selbst betrachtete er als »Kämpfer im Redaktionsbüro«; er feierte den »Geist der nationalen Solidarität«, der zum ruhmreichen »Sieg der gesamten italienischen Rasse« führen werde. 1919 war MussoliniMussolini, Benito also ein Ex-Sozialist und ein Nationalist durch und durch, der sich selbst als »verzweifelt italienisch« bezeichnete.4
Die faschistische Bewegung, die sich im Frühling des Jahres gründete, vereinte bisher konkurrierende Gruppen jener italienischen Linken, die interventionistisch dachte. »Faschisten« nannte man damals verschiedene nationalistische Fraktionen, beispielsweise die Gefolgsleute d’Annunziosd’Annunzio, Gabriele, von Sergio PanunziPanunzi, Sergio inspirierte Syndikalisten, die von MarinettiMarinetti, Filippo Tommaso geführten Futuristen, daneben ausgemusterte Stoßtruppler. MussolinisMussolini, Benito eigenwillige Kombination von Egalitarismus und Nationalismus fand besonders bei Studenten und Offizieren Anklang, denen der Frieden nur Enttäuschungen gebracht hatte und die oft keine Arbeit fanden. Aus Furcht vor geschäftlichen Einbußen, die ihnen der Übergang zum Frieden bescheren könnte, finanzierten bestimmte industrielle Kreise MussolinisMussolini, Benito Leute. Entsprechend attackierte Popolo d’Italia die Sozialisten scharf und präsentierte eine so produktivistische wie hierarchische Agenda, mit der sich nach Meinung ihrer Urheber am ehesten eine nationale Wiedergeburt erreichen ließ. Um ihre zahlreichen Feinde einzuschüchtern, bildeten die Faschisten paramilitärische Kommandos, squadre genannt, die dann politische Gegner verprügelten oder die Redaktionsräume von PSI-Zeitungen verwüsteten. Dank seiner revolutionären Rhetorik, seinem persönlichen Magnetismus und seinem Organisationstalent gelang es MussoliniMussolini, Benito nach und nach, verschiedene linke und nationalistische Gruppen zusammenzuführen. So schuf er eine Massenbewegung aus Unzufriedenen, die sich fest entschlossen zeigte, das parlamentarische Regime zu stürzen.5
Die ganze faschistische Attitüde durchzog eine Art Männerbündelei. Es schien, als sei die Erneuerung Italiens ein Abenteuer, in dem sich Mannhaftigkeit zu bewähren habe. Die squadristi trugen schwarze Uniformen, weiße Schlagstöcke und Revolver; sie ahmten das Militär nach – in Struktur, Erscheinungsform und Gebaren. Viele waren heimgekehrte Veteranen, andere waren Jugendliche, die den Krieg, in dem sie vornehmlich eine spannende Sache sahen, nicht hatten erleben dürfen. Beide besaßen damit ihren jeweils eigenen Grund, sich nach der Kameradschaft der Schützengräben und der Geschlossenheit eines kämpfenden Verbunds zu sehnen. Ihre Phantasie gaukelte ihnen überall liberale und sozialistische Bedrohungen vor; nur eine heroische Aktion, glaubten sie, könne Italien noch vor dem Zerfall retten. Eine solche Aufgabe erforderte in ihren Augen nicht etwa Überzeugungskraft, sondern physische Aggression, die sie als »Gewalt der Gerechten« verstanden. So legitimierten sie ihre Straßenschlachten gegen kommunistische Arbeiter, durch die sie auch die Herrschaft über den öffentlichen Raum erobern wollten. Die Faschisten sahen sich als politische Elite, die, frei von den abgenutzten Dogmen ihrer Gegner, den Schlüssel zur Zukunft besaß. Was jeweils zu tun sei, werde von Tag zu Tag entschieden, mit der »Kraft des Willens« als Leitprinzip. In diesem manichäischen Universum war kein Platz für Frauen oder zärtliche Gefühle. Wie ihr duce (›Führer‹)Mussolini, Benito es vorgab, erhoben viele Faschisten männliche Härte in den Rang einer Ideologie.6
Dass der Faschismus im Chaos der Nachkriegsjahre solche Popularität erlangen konnte, lag zum großen Teil an seinem Kampf gegen die Sozialisten, der ihm die Sympathie einer verängstigten Mittelschicht eintrug. Im Gefolge des Sieges der PSI bei der 1919er Wahl und der Gründung einer Kommunistischen Partei kam es zu einer ganzen Reihe lokaler Erhebungen, die das Gespenst einer umfassenden Revolution ins Leben riefen. Als rebellische Bauernbanden Ländereien besetzten, gewannen die Faschisten die Gunst der Grundbesitzer, indem ihre Kommandos mit Macht anrückten, die sozialistischen Leitaktivisten verprügelten und den Boden den vorherigen Eigentümern zurückgaben. Analog verfuhren die faschistischen Milizionäre – die wegen ihrer Uniform auch camicie nere, also ›Schwarzhemden‹, hießen –, wenn kommunistische Arbeiter einen Streik organisierten: Handstreichartig stießen sie in die betreffende Stadt vor, setzten die Rädelsführer fest und ließen die Produktion quasi unter syndikalistischer Aufsicht weitergehen. Zwar verlangten sie für solche Aktionen Schutzgeld, aber das zahlte ihnen die dankbare Bourgeoisie ohne Murren, erschienen ihr doch die schwarzbehemdeten Straßenkämpfer als das kleinere Übel. Polizei und Militär vor Ort neigten dazu, wegzuschauen, wenn faschistische Vergeltungsmaßnahmen aus dem Ruder liefen; schließlich behaupteten deren Urheber, sie dienten der Wiederherstellung von Recht und Ordnung.7 Indem er sich dergestalt zur Schutzmacht der Besitzenden wandelte und sich mit den Eliten einließ, rückte der Faschismus nach rechts.
MussoliniMussolini, Benito hatte den Eindruck – und da lag er nicht falsch –, dass die Schwäche des liberalen Parlamentarismus den Faschisten eine Gelegenheit bot, bei deren Nutzung sie sich auch konventionellerer Mittel bedienen konnten. Nachdem MussoliniMussolini, Benito in der ersten Nachkriegswahl jämmerlich gescheitert war, verdoppelte er seine journalistischen Anstrengungen und schrieb flammende Artikel in seinem Blatt Popolo d’Italia. Später sagte er über seine damalige Einschätzung der politischen Gesamtsituation: »Unsere Demokratie von gestern war gestorben, und was in ihrem Testament stand, wussten wir auch: Sie hatte uns nichts hinterlassen als das Chaos.« Bei wilden Massenkundgebungen fühlte sich der DuceMussolini, Benito so richtig in seinem Element. Dort schrie er seine Gegner nieder, mobilisierte seine Gefolgsleute mit heftigen Parolen und dramatisierte seine Reden zusätzlich durch übertriebene Gestik. Die beständige Litanei seiner antiliberalen und antisozialistischen Artikel sowie seine unablässigen revisionistischen Predigten gegen die Ungerechtigkeit des Friedensvertrags gewannen ihm allmählich die Anhängerschaft junger, sogar feinsinnigerer Geister, zu denen Italo BalboBalbo, Italo und Dino GrandiGrandi, Dino zählten, die später wichtige Rollen spielen sollten. Da Italien immer mehr in Chaos versank, konnte sich die faschistische Bewegung jeden Monat über Tausende neuer Mitglieder freuen; entsprechend wuchs ihr Selbstvertrauen. Die Doppelstrategie – Einflussnahme durch Straßengewalt einerseits, durch politische Organisation andererseits – trug vor allem deshalb Früchte, weil die Verteidiger der Demokratie sich als überaus unfähig erwiesen.8