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Der Schock des Krieges

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Angesichts des Ersten Weltkriegs wendete man sich umso intensiver gegen die Tradition, denn diese Erfahrung zerstörte zu viel, als dass sie noch mit den damals akzeptierten Formen hätte wiedergegeben werden können. Wenn sie da in schmutzigen Gräben kauerten, fühlten sich die Soldaten zu Automaten degradiert, die unverständliche Befehle auszuführen hatten; ihr Horizont verengte sich auf den ununterbrochenen Kampf ums Überleben, in den nur Zigaretten oder Schnaps dann und wann Erleichterung brachten. Sie nahmen teil am Massenmord und wurden Zeugen eines schändlichen Massentodes, sodass sie ihre jugendliche Unschuld und Unbefangenheit verloren – das Leben konnte nie wieder einfach schön und friedvoll sein. Der unpersönliche Charakter des Tötens und Sterbens im mechanisierten Gefecht zerstörte nach und nach die Illusionen, die das Leiden vielleicht noch zur heldenhaften Opfergabe fürs Vaterland erhöht hätten. Schließlich erweckten die jämmerlich geringen Geländegewinne, die viele der Attacken einbrachten, und die Nichtabsehbarkeit eines Endes der Kämpfe die beklemmende Frage, welcher Sinn der ganze Konflikt denn habe. Künstler wie Otto Dix rangen um Bilder, die das Grauen des »Fronterlebnisses« angemessen wiedergaben. Diese Grässlichkeiten offenbarten die destruktive Seite der Moderne, denn in ihnen manifestierte sie sich als eine Kraft, die sich individueller Kontrolle entzog.1 Sogar bei den Intellektuellen an der Heimatfront hinterließ der Krieg tiefe Wunden, die erst in Jahrzehnten heilen würden.

Der Weltkrieg trug dazu bei, Wissenschaft und Technik zu diskreditieren, schließlich erwies sich ihre Wirkung eher als tödlich denn als wohltätig. Die Lebensvernichtung auf den Schlachtfeldern des Zermürbungskriegs verlief nach dem gleichen Prinzip wie die Fließbandfertigung in der Industrie: Nicht individuelle Tapferkeit entschied über Sieg oder Niederlage, sondern die reibungslose kollektive Aktion und die Menge des verfügbaren Materials. Seit 1915 wurde Giftgas eingesetzt, das einen langsamen Tod durch Verbrennungen in der Lunge auslöste; von denen, die es einatmeten, überlebten die wenigsten, und diese waren versehrt für den Rest ihrer Tage. Auch in den Ozeanen konnte man nun Minen platzieren, die ebenso wie U-Boote, für deren Einsatz vielerorts keine einschränkenden Regeln mehr galten, Schiffe ohne Vorwarnung versenkten; ihre Mannschaften waren hilf- und wehrlos gegen diese Gefahr aus der Tiefe. Nicht besser erging es den Soldaten, wenn ein Angriff aus der Luft kam: Zum ersten Mal in der Geschichte warfen Flugzeuge Bomben ab. Ebenfalls innovativ waren die gepanzerten und auf Selbstfahrlafetten montierten Geschütze, Panzer genannt, ein wahrer Schrecken für die Infanteristen in den Gräben. Zwar gab es in den Feldhospitälern inzwischen bessere medizinische Versorgung, doch auch die ordnete sich strategischen Zwecken unter: Man flickte dort verwundete Körper nur zusammen, damit diese bald wieder ihren militärischen Pflichten genügen konnten. Auch ließ man den »Kriegsneurotikern« psychologische Therapien angedeihen, um die nunmehr faktisch Geisteskranken ins Inferno der Front zurückzuschicken. Es verwundert nicht, dass nach 1918 Maschinen in der kulturellen Vorstellungswelt zunehmend als mechanisierte Bedrohung erschienen.2

Seit dem Ersten Weltkrieg wurden Schlachten in Stil und Sprache anders geschildert als zuvor: Statt Erzählungen von heldenhaften Abenteuern gab es nun Bestandsaufnahmen von sinnlosem Leiden. Der feierlich-erhabene Ton der offiziellen Kriegsberichterstattung vermochte die quälende Erfahrung des Grabenkampfes nicht angemessen zu erfassen. Viele der Briefe, die Soldaten von der Front nach Hause sandten, vermieden es gezielt, irgendein Detail der grauenerregenden Vorgänge während der Gefechte zu erwähnen. Dadurch entfremdeten sich die Schlachtfelder und das tatsächliche Geschehen dort von der Heimatfront, während man die entstehende Kluft mit den hohlen Phrasen der Kriegspropaganda überbrückte. Während patriotische Autoren wie Walter FlexFlex, Walter oder Rupert BrookeBrooke, Rupert anfangs den Waffengang noch zu romantisieren versuchten, sahen sich andere Dichter, etwa die britischen war poets Robert GravesGraves, Robert und Wilfred OwenOwen, Wilfred, angesichts des Unbeschreiblichen, das sie in den Gräben erlebt hatten, dazu nicht länger imstande. Verse, die unter dem unmittelbaren Eindruck der Kämpfe entstanden, feierten nun immer seltener patriotische Tugenden und schockierten dafür immer häufiger mit der Ausmalung der Sinnlosigkeit des Leidens.3 Die literarischen Anstrengungen, solche Empfindungen wiederzugeben, beförderten die modernistischen Trends zur Auflösung der Einheit von Form und Sinn.

Da, wie sich zeigte, die Fotografie die Gräuel der Front besser einfing, verstärkte der Krieg die Abkehr der Künstler von den Stilen der Gegenständlichkeit. Man mochte den Krieg nicht mehr in den traditionellen großformatigen, durchkomponierten Schlachtszenen darstellen; wer die Grabengefechte der jüngsten Zeit visualisieren wollte, präsentierte verwüstete Landschaften mit wirr verstreuten Leichen. Eindringlicher noch waren George Grosz’Grosz, George porträtartige Bilder, die den entstellenden Wirkungen des Krieges auf die Menschengestalt einen dramatischen Ausdruck gaben. Die Erfahrung des Krieges verlieh der Lossagung vom Realismus, die mit Henri MatisseMatisse, Henri und den Fauvisten begonnen hatte, zusätzlichen Schub; schon sie komponierten Flächen aus intensiven Farbtönen, die keine fotografische Ähnlichkeit mehr bezweckten. Die Kampferlebnisse beschleunigten dann den Trend zur Abstraktion, dessen Pioniere der französische Maler Georges BraqueBraque, Georges und sein exilrussischer Kollege Wassily KandinskyKandinsky, Wassily waren. Letzterer erklärte Formen und Farben entschieden zu autonomen kompositorischen Elementen, denen geometrische Linien Struktur und Begrenzung gäben; die klassische Perspektivlehre wurde verworfen. Schließlich bestätigte das, was sie von den Grabengefechten mitbekamen, auch die expressionistischen Impulse vieler Künstler; sie fühlten sich, wie der deutsche Maler Emil NoldeNolde, Emil, nun ermuntert, ihren Emotionen freien Lauf zu lassen in kräftigen Farben und dynamischem Pinselduktus.4 Insgesamt bestärkte der Erste Weltkrieg also die modernistische Neigung zu Experimenten mit nicht-figurativen Stilen.

Das furchterregende Dröhnen der Front und das Getöse der durchmechanisierten Innenstädte ermutigte in Musik und Tanz einzelne Kunstschaffende, den Übergang von der Dissonanz zur Kakophonie zu wagen; bestenfalls das Unverständnis der Konzertbesucher konnte ihren Eifer bremsen. Schon 1913 schockierten der russische Komponist Igor StrawinskyStrawinsky, Igor und sein Landsmann, der Ballettmeister Sergei DjagilewDjagilew, Sergei, das Pariser Publikum mit einer ungestümen Produktion namens Le sacre du printemps (»Die Frühlingsweihe«), deren Rhythmuskaskaden und schrille Akkorde Vorstellungen eines orgiastischen Primitivismus erweckten. Der Krieg selbst inspirierte Komponisten wie Leoš JanáčekJanáček, Leoš, Béla BartókBartók, Béla und Maurice RavelRavel, Maurice zu einem gewagten Umgang mit dem nationalen musikalischen Erbe: Sie nahmen einheimische Volksweisen und transformierten sie zu unstrukturierteren und abstrakteren Klanggebilden. StrawinskyStrawinsky, Igor vertrat entschieden die Parole »Il faut absolument être moderne« (»Modernsein ist Pflicht«), und diese Attitüde dominierte die Nachkriegsszene. Entsprechend machte man Experimente aller Art, von Erik SatiesSatie, Erik subtilen Collagen bis zu Jean CocteausCocteau, Jean Anspruch, »Musik des Alltagslebens« zu komponieren. Die Begegnung mit dem Jazz erweiterte das melodische und rhythmische Vokabular, wovon so verschiedenartige Komponisten wie Darius MilhaudMilhaud, Darius und Kurt WeillWeill, Kurt profitierten. Paul HindemithHindemith, Paul postulierte: »Tonschönheit ist Nebensache«, während Arnold SchönbergSchönberg, Arnold und seine Schüler furchtlos in ein ganz neues Universum vorstießen – das Zwölftonsystem.5

Was die Literatur betraf, so beschleunigte die Kriegserfahrung die Auflösung der linearen chronologischen Erzähltechnik, bei der die Entwicklung von Charakteren im Vordergrund stand, zugunsten assoziativer Muster, die die Funktionsweise des Bewusstseins samt seinen raschen Richtungsänderungen und Sprüngen imitierten. Der hypersensible französische Romancier Marcel ProustProust, Marcel konstruierte sein gewaltiges fünfzehnbändiges Meisterwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit als eine Art introspektive Expedition: Der Protagonist erkundet seine Erfahrungen in der PariserParis Gesellschaft durch genaue Prüfung seiner Erinnerungen, die per Assoziation ausgelöst werden. Der phantasievolle Franz KafkaKafka, Franz, Tscheche mit jüdisch-deutschem Hintergrund, schilderte die Absurdität des Lebens in brillanten metaphorischen Texten, darunter Die Verwandlung, die seine Leser so verwirrt wie fasziniert zurückließen, weil eine fest umrissene Botschaft fehlte. Etwa um dieselbe Zeit saß ein anderer Avantgardist, der katholische Ire James JoyceJoyce, James, im selbst auferlegten Exil – während der Kriegsjahre ZürichZürich, danach ParisParis – an einem epischen Monumentalwerk mit dem Titel Ulysses. Darin evozierte er seine Geburtsstadt DublinDublin und benutzte eine komplexe Technik des Bewusstseinsstroms. Auch sparte er weder an Anspielungen auf die klassische Antike noch an sarkastischem Humor, was dem Roman zunächst Verbote wegen Unsittlichkeit in den USAVereinigte Staaten und dem Vereinigten Königreich einbrachte.6 Diese modernistischen Texte schockierten die Autoritäten nicht nur, weil sie sexuelle Themen ganz offen behandelten, sondern auch, weil sie Türen zu den Bereichen des zuvor Undenkbaren und Unsagbaren aufstießen.

Die Entwicklungen nach dem Krieg verwandelten bei vielen Kulturschaffenden die Utopie eines Freiheit bringenden urbanen Lebens in die Dystopie einer bedrohlichen, ausbeuterischen Megalopolis. Fritz LangsLang, Fritz Film Metropolis (1927) dreht sich um den Konflikt zwischen Kapitalisten und Proletariern in einer futuristischen Großstadt, die von einem technischen Zentralsteuerungsmoloch beherrscht wird, der »M-Maschine«. Im Vordergrund steht die Liebe zwischen dem Sohn des Ober-Ausbeuters und einer jungen Arbeiterfrau; die reichlich verschachtelte Handlung unterstreicht die Botschaft, »das Herz vermittle zwischen Hand und Hirn«. Der Film war bahnbrechend auf dem Gebiet der special effects; so präsentierte er u. a. einen »Maschinenmenschen« sowie einen dem Turm zu Babel ähnlichen Wolkenkratzer; dank des raffinierten Einsatzes von Spiegeln und kleinen Modellkonstruktionen konnten reale Schauspieler in fiktiven Räumen agieren. Obwohl der Film ein Happy End hatte, trugen gerade die Trickaufnahmen, die meist Beklemmendes zeigten, dazu bei, dass eine Metropole, in der die Maschinen dominierten, als ein Ort ohne Gnade erscheinen musste. Ähnlich verhielt es sich bei Alfred DöblinsDöblin, Alfred breit angelegtem Collageroman Berlin Alexanderplatz. Darin erlebt der Leser, wie der straffällig gewordene Arbeiter Franz Biberkopf sich vergebens bemüht, anständig zu werden, und letztlich an der Gleichgültigkeit des gnadenlosen Klassensystems zugrunde geht.7 In solchen Filmen und Romanen bewirkt die Metropole, dass die Bewohner sich selber und untereinander entfremden, und verschlingt sie am Ende. Ihre Unpersönlichkeit, die sozialen Spannungen und die Übermechanisierung, die in ihr obwalten, haben letztlich einen entmenschlichenden Effekt.

Die ganzen 1920er Jahre hindurch stritten sich die Intellektuellen auch um den Sinn des Weltkrieges, denn sie zogen grundverschiedene Lehren aus dem Gemetzel. In seinem autobiografischen Roman In Stahlgewittern schildert der hochdekorierte Offizier Ernst JüngerJünger, Ernst die Brutalität der Kämpfe als erregendes Abenteuer, das Kameradschaft stiftet und zum Heldentum begeistert; die Bewährung im Angesicht der Gefahr stählt den Mann. Ganz anders der tschechische Autor Jaroslav HašekHašek, Jaroslav, dessen Roman Der brave Soldat Schwejk einen quasi zeitlosen Charakter in das Geschehen des Weltkrieges setzt: den Einfaltspinsel, dem zwar viele Missgeschicke passieren, der aber alle Fährnisse irgendwie überlebt. Die ironische Darstellung legt satirisch die Unfähigkeit der österreichisch-ungarischen Armee bloß. Ernster ging es bei dem deutschen Schriftsteller und Journalisten Erich Maria RemarqueRemarque, Erich Maria zu. Obwohl er nur kurz gedient hatte, bevor er 1917 verwundet worden war, konnte Remarque in seinem Hauptwerk eine niederschmetternde Schilderung der Inhumanität des Krieges geben: Sein Roman Im Westen nichts Neues erzählt von den Erfahrungen eines jungen Rekruten, der erleben muss, wie nach und nach seine gesamte Kompanie ausgelöscht wird. Unter den englischen Literaten und Literatinnen kam es zwar zu einem harten Dissens darum, ob man, wie etwa Siegfried SassoonSassoon, Siegfried, die Tapferkeit der Soldaten preisen oder wie Vera BrittainBrittain, Vera den Waffengang als Schlächterei verdammen solle. Doch so unterschiedlich sie ihre Schilderungen akzentuierten – einig waren sie sich immerhin darin, dass die Moderne mehr und mehr mörderische Züge offenbarte.8

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

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