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Regeneration auf faschistische Art

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Der Faschismus war keine rein reaktionäre Bewegung, sondern eher ein populistischer Versuch, auf die Modernisierungskrise der italienischen Gesellschaft zu reagieren. Strukturell gesprochen ging der Faschismus aus Italiens verspätetem Übergang von einer agrarischen zu einer industriellen Ordnung hervor, der Klassenkonflikte mit tiefen Trenngräben und ein regionales Gefälle zwischen dem sich industrialisierenden Norden und dem noch agrarischen Süden verursachte. Unter dem Aspekt der praktischen Politik betrachtet, hatte der Faschismus seine Ursache in den Schwierigkeiten des Übergangs vom Krieg zum Frieden. Denn das Parlament vermochte nicht, den seit jüngstem wahlberechtigten Massen ein angemessenes Auskommen zu sichern und der Enttäuschung zu begegnen, die sich angesichts überzogener Hoffnungen auf einen für Italien günstigen Frieden unvermeidlich einstellte. Die verschüchterten liberalen und katholischen Politiker waren nicht in der Lage, die öffentliche Ordnung gegen die Gewalt zu behaupten, die von zwei Seiten kam: von den Kommunisten, die versuchten, Fabriken zu besetzen, und von der extremen Rechten, die sich bemühte, hierfür Vergeltung zu üben. Um ein kraft- und haltloses Italien zu revitalisieren, versprach die faschistische Bewegung soziale Gerechtigkeit innen und imperiale Macht außen, indem sie sich auf eine konfuse Mischung aus Futurismus, Nationalismus und Syndikalismus berief.1 Es war die Unfähigkeit der parlamentarischen Regierung, Italiens lang- und kurzfristige Probleme zu lösen, die diesem populistischen Newcomer eine Chance gab.

MussolinisMussolini, Benito entscheidender Beitrag war die Erfindung einer modernen Form rechtsextremer Politik, mit der er nicht nur eine nationale Erneuerung proklamierte, sondern auch tatsächlich die Macht ergriff und sie über mehrere Jahrzehnte behielt. Die Faschisten reagierten auf die Erosion des Respekts vor den traditionellen Autoritäten, indem sie eine neue Art von Massenbewegung erfanden, die für sich beanspruchte, die gesamte nationale Gemeinschaft zu repräsentieren. Um seine Gefolgsleute zu inspirieren, baute MussoliniMussolini, Benito systematisch einen Führerkult auf, der ihm, dem Duce, übermenschliche Eigenschaften zusprach, die ihn befähigten, den kollektiven Willen seherisch zu erahnen und in die Tat umzusetzen. Der Faschismus machte zudem geschickten und einfallsreichen Gebrauch von Medien wie Presse, Rundfunk und Wochenschauen; so ließ sich seine politische Botschaft unter erheblich mehr Menschen verbreiten als je zuvor. Gleichzeitig suchte er das ganze Land zu kontrollieren und zu indoktrinieren, indem er Organisationen ins Leben rief und so gestaltete, dass ihnen eine Massenmitgliederschaft zuwuchs. Zu guter Letzt hegte MussoliniMussolini, Benito keinerlei Skrupel, zur Unterdrückung von Feinden im Inneren Gewalt zu gebrauchen.2 Diese innovativen Strategeme, die den Faschismus kennzeichnen, gingen beträchtlich über die traditionellen Methoden der autoritären Regime hinaus, indem sie eine umfassendere Kontrolle über die Gesellschaft bezweckten.

Vieles in der praktischen Politik der Faschisten beinhaltete auch Modernisierung – wobei es ihnen freilich eher um mehr nationale Stärke denn um mehr Wohlfahrt, Bildung und Aufklärung ging. Immer wieder beschworen sie Glanz und Glorie der Vergangenheit – und doch waren Mussolini und andere faschistische Führer fasziniert von der modernen Technologie, namentlich davon, welche Geschwindigkeit und Mobilität sie ermöglichte: Man sah sie oft am Steuer eines Flugzeugs oder eines schnellen Autos sitzen, manchmal brachten sie sich in diesem Schnelligkeitsrausch gar in tödliche Gefahr. Selbst ihre Kampagne für das Landleben war nicht allein durch Nostalgie motiviert, sondern auch durch ihr Bestreben, die agrarischen Ernten zu steigern und auf diese Weise Italiens Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln sicherzustellen. Die Bemühungen um eine bessere Infrastruktur – so ließen sie neue Straßen, Eisenbahnlinien und Dämme errichten und das Stromnetz ausbauen – sollten natürlich ganz im nationalistischen Sinne das Land zusammenführen, aber eben auch materiellen Fortschritt noch in die entlegensten Gebiete bringen. Das militaristische Projekt eines unabhängigen Verteidigungssektors, das ermöglichen sollte, Schlachtschiffe und Kampfflugzeuge zu produzieren, erforderte auch eine Expansion der Schwerindustrie und eine Entfaltung des technischen Potenzials, die zivilen Nutzern ebenfalls zugutekam. Obwohl die Ziele des Faschismus oft irrational und manche seiner Maßnahmen ineffizient waren, wirkte er in seiner Praxis streckenweise wie eine Entwicklungsdiktatur.3

Im Bereich der Kultur warb der Faschismus mit einer eigenen Version der Modernität. Dieser Stil verschmolz Bezugnahmen auf eine ruhmreiche Vergangenheit mit technologischen Zukunftsvisionen. Während die Faschisten liberale Dekadenz und kommunistischen Materialismus ablehnten, strebten sie als Ersatz eine Art spiritueller Regeneration an. Zu diesem Zweck boten sie zahlreiche Kunstanstrengungen auf, bei denen verschiedene Tendenzen miteinander wetteiferten. In der Architektur war der faschistische Stil eine kuriose Mischung aus historistischen Zitaten und experimentellen Bautechniken, die zum Monumentalen neigte sowie suggestiv auf nationale Einheit und Macht hinwies. In den faschistischen Massenspektakeln vermischten sich Beschwörungen der altrömischen Größe mit dem Einsatz zeitgenössischer Technologien wie Lautsprecher und Lichtprojektionen. Zusammen mit der choreografierten Bewegung vereinte sich das Ganze zu einer Art Drama, das die Emotionen ansprach. Sogar bei Dingen des täglichen Bedarfs förderten die Faschisten weniger die Rückkehr zum Handgemachten als innovative industrielle Produkte im neuzeitlichen Design – so ließen sich, meinten sie, die Wünsche der Massen nach einem besseren Leben doch am ehesten erfüllen. Es konkurrierten also zwei Ausrichtungen, eine historisierende – Strapaese genannt – und eine futurisierende, die als Novecento firmierte. Die Balance zwischen den beiden blieb nicht immer stabil, aber alle Faschisten stimmten in dem Grundprojekt überein, einen neuen Menschen formen zu wollen, und dies müsse geschehen durch die »Ästhetisierung der Politik«.4

Der Faschismus war also nicht allein ein Rückfall, wie die Linke behauptete, sondern zumindest auch eine alternative Variante der Modernität, und zwar einer vitalistischen, die versprach, dass all die raschen Veränderungen, die sich einstellten und die Menschen desorientierten, sich kontrollieren ließen. Obwohl sie sich im Westen großer Beliebtheit erfreut, führt die Gleichsetzung der Modernisierung mit der kapitalistischen Demokratie in die Irre, denn sie verkennt, dass Kommunismus und Faschismus gerade dadurch modern sein wollten, dass sie sich bemühten, die Defekte des liberalen Systems, nämlich Ausbeutung und Degeneration, zu umgehen. Ein Teil der Verwirrung verdankt sich der Tatsache, dass der Duce und die Seinen so oft Altes idealisierten: MussoliniMussolini, Benito beschwor in seinen Reden ständig die romanità, die Faschisten benutzten antike Symbole und verwiesen auf ihre rühmliche Vergangenheit. Aber trotz all dieses Mythisierens war doch vieles an ihnen sehr modern, etwa das Ziel einer biologischen wie militärischen Stärkung der nationalen Gemeinschaft oder die Mittel der Massenmobilisierung und -propaganda. Die faschistische Vision faszinierte Intellektuelle aus aller Welt, so Ezra PoundPound, Ezra und Louis-Ferdinand CélineCéline, Louis-Ferdinand, weil sie versprach, die Krise der Moderne mit Hilfe einer dynamischen nationalen Einheit zu heilen.5 Tragischerweise brachte die Verwirklichung dieser konfusen Ideen statt Erlösung noch mehr Leiden, denn sie führte zur Unterdrückung daheim und zur Aggressivität nach außen.

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

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