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Die Rückständigkeit Italiens

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Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war Italien, einem sarkastischen Ausspruch Fürst MetternichsMetternich, Klemens Wenzel Lothar von zufolge, kein Staat, sondern ein geografischer Begriff. Von Europa durch die Alpen abgeschnitten und vom Mittelmeer umgeben, erfreute Italien sich eines milden Klimas, aber sein fruchtbarer Boden litt unter Übernutzung, und es besaß wenige natürliche Ressourcen wie Kohle oder Eisen. Die große römische Vergangenheit war nur noch eine ferne Erinnerung, am Leben gehalten durch die physische Präsenz von Ruinen; die einst gemeinsame Sprache hatte sich in mehrere rivalisierende Dialekte aufgelöst. Zwar blieb der Stadt RomRom der Sitz des Papsttums, aber die katholische Kirche mochte sich nicht damit begnügen, eine spirituelle Kraft zu sein, und mischte sich in die weltliche Politik ein. Nach den Barbareninvasionen während der Völkerwanderung zerfiel das Land in Fürstentümer, die bald unter spanische, bald unter französische, bald unter habsburgische Oberherrschaft kamen. Während Stadtstaaten wie VenedigVenedig, FlorenzFlorenz und MailandMailand wegen ihres Wohlstands und ihrer hohen Kultur großen Ruhm genossen, blieb die italienische Halbinsel politisch zerklüftet, mit auch ökonomisch negativen Folgen. Zwischen dem industriellen Norden und dem agrarischen Süden bestanden enorme soziale Unterschiede, und die Überbevölkerung zwang zahllose Generationen zur Emigration in alle Welt.1

Italien wurde erst 1861 zum Nationalstaat, und dass es dazu kam, verdankte das Land einem zufälligen Zusammenwirken von Ideologie, Rebellion und Diplomatie. Die napoleonische Besatzung hatte ein paar liberalisierende Reformen angestoßen und ein geistiges Wiederaufleben (risorgimento) inspiriert, das dem italienischen Stolz neuen Auftrieb gab und die Vereinigung zu einem Traum der Intellektuellen machte. Der republikanische Schriftsteller Giuseppe MazziniMazzini, Giuseppe verfasste poetische Aufrufe zum politischen Handeln, denen namentlich Studenten folgten, aber die einzelnen lokalen Erhebungen, einschließlich jener während der Revolutionen von 1848, scheiterten am Ende, und Mazzini musste nach England ins Exil. Erfolgreicher war der romantische Revolutionär Giuseppe GaribaldiGaribaldi, Giuseppe, der die bourbonische Dynastie in Neapel mit einer zusammengewürfelten Armee aus Bauern, Unzufriedenen und Abenteuern stürzte und so zu einer nationalen Legende wurde. Vollendet hat die Einheit Italiens jedoch der Reformer und Diplomat Graf Camillo di CavourCavour, Camillo di, Ministerpräsident von Piemont-SardinienPiemont-Sardinien. Mit Hilfe französischer Truppen und unter BismarcksBismarck, Otto von stiller Duldung verjagte er 1861 die österreichischen Fürsten, eroberte 1866 VenedigVenedig und besetzte 1870 RomRom. Alle befreiten Provinzen integrierte er in ein erweitertes PiemontPiemont, nur TrientTrient und TriestTriest waren nicht dabei.2

Der so entstandene neue italienische Staat war eine konstitutionelle Monarchie, die sich dann schrittweise zu einer parlamentarischen Regierung entwickelte. Zwar galt jetzt wieder die Verfassung von 1848, das sogenannte Statuto, dem zufolge der König die allerhöchste Autorität innehatte, aber Vittorio Emmanuele II. Vittorio Emmanuele II.war keine starke Herrscherpersönlichkeit, sodass die Macht nach und nach auf die Minister und die Deputierten überging. Allerdings besaßen damals nur Männer und selbst von diesen nur zwei Prozent das Wahlrecht, dessen Ausweitung nun zum dauerhaften Zankapfel wurde. Da über zwei Drittel der Bevölkerung immer noch in der Landwirtschaft tätig und Analphabeten waren, blieb Politik vorerst ein Spiel unter Männern mit Besitz und Bildung, da die nicht mehr sehr einflussreichen Adeligen sich weitgehend damit begnügten, zu verzehren, was ihr Grundeigentum an Renten abwarf. Das Parlament zeigte sich in zwei Lager geteilt: hier eine konservativ-liberale Fraktion, welche die Privilegien ihrer Klientel verteidigte und nur wenige Zugeständnisse machen mochte; dort eine demokratisch-radikale Gruppe, die heftig mehr Rechte für das Volk einklagte, der es aber oft an Unterstützung durch die Wähler mangelte. Die herrschende Elite nun bediente sich einer Taktik, die als transformismo in die Geschichte einging: sie suchte ihre Kritiker zu vereinnahmen, indem sie ihnen ein Stück Macht abgab – in der Erwartung, diese würden dann schweigen.3 Entsprechend spielte die Politik sich in weiter Entfernung vom Leben der meisten Italiener ab, die tagtäglich ums Überleben kämpften, nicht selten in erbärmlicher Armut.

Die katholische Kirche lehnte den entstehenden Nationalstaat ab, weil er vom Liberalismus inspiriert war. Immerhin hatte er sie schon um politische Macht und weltlichen Besitz gebracht. Über beides erzürnt, erklärte Papst Pius IX. Pius IX.sich zum »Gefangenen im Vatikan« und verweigerte jede Einigung mit der neuen nationalen Regierung, die sich in Rom einrichtete. Es trug nicht eben zur Entspannung bei, dass CavourCavour, Camillo di und die anderen liberalen Staatsbegründer kirchliches Eigentum konfiszierten und die Oberhoheit des Staates über den Unterricht in den Primarschulen sowie über die Eheschließungen beanspruchten; Letztere mussten nun auch zivil erfolgen. PapstPius IX. und Kurie reagierten, indem sie ihren »antimodernistischen« Kurs verhärteten und extrem rigide Doktrinen verkündeten, etwa das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit oder der unbefleckten Empfängnis Mariens. Zusätzlich publizierte man eine Schrift namens Syllabus errorum (›Verzeichnis der Irrtümer‹), die progressive säkulare Denk- und Politikrichtungen attackierte. Obwohl religiöse Rituale nach wie vor den Rhythmus des Alltagslebens der Pfarrkinder bestimmten, verbot der Vatikan seinen Schäfchen, an nationalen Wahlen teilzunehmen! Zwar bewahrte sich die Geistlichkeit im lokalen Bereich einiges ihrer alten Stärke, doch verhinderte die Weigerung der Kurie, den Nationalstaat anzuerkennen, eine ganze Weile die Formierung einer klerikal-konservativen Partei. Dies änderte sich erst kurz nach dem Weltkrieg 1919, als die Partito Popolare Italiano gegründet wurde, um den Katholiken im Felde der Politik eine Stimme zu verschaffen.4

Eine weitere Hürde für den neuen Staat war die Langsamkeit der ökonomischen Entwicklung. Obwohl die meisten Italiener nach wie vor Ackerbau trieben, blieben die Erträge an Korn, Wein oder Oliven bescheiden, außer in einigen ergiebigen Gegenden, etwa der ToskanaToskana. Anderswo reichten die Ernten bestenfalls für den Eigenbedarf oder für die Belieferung der lokalen Märkte. In Mittel-Mittelitalien und SüditalienSüditalien dominierten Latifundien, auf denen Pächter leichtverkäufliches Getreide anbauten; oft jedoch bewirtschaftete man erschöpften Boden mit uralten, nicht besonders produktiven Methoden. Zwar besaß Italien zahlreiche hervorragende Handwerker, die Industrialisierung jedoch kam spät, denn es gab nur wenige natürliche Ressourcen, darunter Wasserkraft und Schwefel. Und gar zu viel von dem verfügbaren Kapital wurde wiederum in Land investiert. In der LombardeiLombardei und anderen nördlichen Provinzen benutzten Fabriken aber zunehmend Maschinen für die Herstellung von Textilien aus Schurwolle, Baumwolle oder Seide. Um das Land zusammenzuführen, trieb die Regierung den Bau von Eisenbahnlinien voran, der Ingenieurwesen und Technik Beträchtliches abverlangte, da zahllose geografische Hindernisse überwunden werden mussten.5 Behindert durch eingefleischten Konservatismus, beschleunigte Italien seine Industrialisierung erst ab 1896 und entwickelte seine eigene Stahl-, Schiffsbau- und Autoindustrie.

Immer wieder kam es auf dem Land wie in den Städten zu sozialen Protesten gegen missliche Lebensbedingungen. Den Süden plagte eine Mischung aus rebellischem Banditentum, Mafia-Verbrechen und ländlicher Kriminalität. In den 1870ern stieß der exilierte russische Revolutionär Michail BakuninBakunin, Michail eine anarchistische Bewegung an, die lokale Erhebungen versuchte und schließlich politische Anschläge verübte. Mit dem Wachsen der industriellen Arbeiterklasse im Norden begann sich während der 1880er Jahre auch der marxistische Sozialismus zu entwickeln, der sich bald in zwei Richtungen spaltete: einen »legalistischen« Zweig (POI) und einen revolutionären Flügel (PSRI). Unter der Leitung des Mailänder Soziologen Filippo TuratiTurati, Filippo schlossen sich 1892 mehrere linke Gruppierungen zusammen und gründeten die Sozialistische Partei Italiens (PSI), dergestalt dem erfolgreichen Beispiel der deutschen Sozialdemokratischen Partei folgend. Dank der Rückendeckung durch die camere del lavoro (syndikalistische Arbeiterräte) und einer rasch expandierenden Riege von Gewerkschaften überlebte diese neue Partei mehrere Repressionswellen seitens der Regierung. Während der Jahre bis 1900 wurde die PSI so erfolgreich bei den Wahlen, dass das bürgerliche Kabinett auf Anregung des Ministerpräsidenten Giovanni GiolittiGiolitti, Giovanni Versuche unternahm, sozialistische Abgeordnete in die Regierungsverantwortung einzubinden, um jene Partei mit dem Staat zu versöhnen. Dennoch blieb in dieser Phase der Konflikt zwischen Reformern und Revolutionären ungelöst.6

In der Hoffnung, auch eine Großmacht zu werden, erlag Italien den Verlockungen des Imperialismus. Freilich hatte es wenig Geschick bei der Wahl seiner Objekte, die es viel kosten sollten. 1890 erklärte die Regierung in RomRom EritreaEritrea am Horn von Afrika, wo Händler einen Stützpunkt etabliert hatten, zur italienischen Kolonie. Beflügelt vom Traum, Ruhm und Ehre des alten Rom wiederzubeleben, annektierte man 1905 noch SomaliaSomalia. Aber diese neuen Besitzungen verwickelten die unerfahrenen Imperialisten in einen Konflikt mit dem Kaiser von AbessinienAbessinien (Äthiopien) (heute Äthiopien), dessen Leute 1887 die italienischen Truppen besiegten. Diesen Rückschlag mochte man in RomRom nicht hinnehmen, und so drängte Premierminister Francesco CapriCapri, Francesco, Italien müsse seine Kontrolle auf das gesamte Äthiopische Reich ausdehnen. Aber das Kriegsglück war RomRom auch diesmal nicht hold: In der Schlacht von AduaAdua töteten die Abessinier rund 5000 italienische Soldaten und nahmen 2000 gefangen. Diese Niederlage war ein deutliches Warnsignal, doch CaprisCapri, Francesco Nachfolger GiolittiGiolitti, Giovanni ließ sich nicht beirren und attackierte 1911 das Osmanische Reich. Immerhin konnte man LibyenLibyen nach blutigen Auseinandersetzungen unterwerfen. Diese Prestigepolitik riss ein gewaltiges Defizit ins Staatsbudget, und die Überbevölkerung Italiens konnte sie auch nicht lindern, denn wenn emigriert wurde, dann nicht in die neu eroberten Gebiete, sondern anderswohin, etwa nach AmerikaVereinigte Staaten.7 Der imperialistische Kurs erwies sich als desaströs, denn er verschlang Ressourcen und nährte die chauvinistische Arroganz.

Eine Welle nationalistischer Euphorie trug Italien zur Teilnahme am Ersten Weltkrieg, doch traten gerade dadurch die strukturellen Schwächen eines Landes zutage, das sich immer noch mit der Aufholjagd hin zur Moderne abmühte. Die anfängliche Entscheidung, neutral zu bleiben, war ein Kompromiss zwischen den Anhängern des Dreibunds und den Befürwortern der Befreiung des Italia irredenta, des ›unerlösten Italiens‹, gewesen. Mit dem Begriff bezeichneten die einheimischen Nationalisten ehemals italienische Territorien, die sich derzeit unter dem »habsburgischen Joch« befänden. Um solche Begehrlichkeiten genau wissend, versprach die Entente den Italienern, dass sie, wenn sie mitwirkten und man gemeinsam siegte, IstrienIstrien, TrientTrient und DalmatienDalmatien zurückbekommen und Kolonien hinzugewinnen würden. Daraufhin unterzeichnete Premierminister Sidney SonninoSonnino, Sydney getreu der Maxime des sacro egoismo den Vertrag von LondonLondon, und im Mai 1915 trat Italien in den Großen Krieg ein. Aber die Hoffnungen auf einen raschen Sieg über die multiethnischen österreichischen Streitkräfte zerstoben bald in den Schützengräben des FriaulFriaul, und in der Zwölften Isonzoschlacht – auch: ›Schlacht von KarfreitCaporetto (Karfreit)‹ – wurde Italiens Armee zerschlagen. Zwar expandierten Industriekonzerne wie FIAT während des Krieges rapide, aber die Moral in der Truppe war erbärmlich, weil die Soldaten kaum eine richtige Ausbildung erfahren hatten und außerdem nicht recht verstanden, für welche Sache sie eigentlich sterben sollten. Erschwerend hinzu kam die Unfähigkeit ihrer Führung. Erst im Oktober 1918 gelangen der italienischen Armee Siege über Österreich. Der Krieg kostete das Land 600 000 Tote und noch mehr Verwundete. Die sinnlosen Leiden vertieften den Graben zwischen der skeptischen Mehrheit und der interventionistischen Minderheit.8

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

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