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Modernistische Revolte

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Bei Anbruch des 20. Jahrhunderts empfanden viele Intellektuelle Unzufriedenheit hinsichtlich der hierarchischen Strukturen und der konventionellen Stile, die in Europas Hauptstädten immer noch vorherrschten. Während die Eliten auf dem Lande und in der Industrie noch fest die Kontrolle innehatten, verlangten die unteren Schichten, die sich in der Gewerkschaftsbewegung organisierten, lautstark mehr politische Rechte. Bürgerliche Werte wie Sauberkeit, Selbstdisziplin und Arbeitsamkeit blieben zwar weiterhin prägend, doch rebellierten feministische Aktivistinnen schon gegen das viktorianische Patriarchat und die Doppelmoral in sexuellen Angelegenheiten. Wohl erfreuten sich die Kirchen noch einer hohen Wertschätzung, aber wissenschaftliche Innovationen wie etwa die Evolutionstheorien untergruben die Autorität der Bibel. Technische Innovationen wie das elektrische Licht veränderten das Alltagsleben und weckten Hoffnungen auf weitere Verbesserungen. Während die meisten Architekten unverdrossen auf Bauweisen der Vergangenheit wie z. B. die Neugotik setzten, strebten die Wagemutigeren unter ihnen nach originellen, nie dagewesenen Ausdrucksformen. Dieser Suche schlossen sich auch Maler und Designer an; so entstand etwa jene neue Richtung der dekorativen Kunst, die hier »Jugendstil«, dort »Art nouveau« hieß.1 Es war dieser Widerspruch zwischen einer scheinbar unveränderlichen Ordnung und dem Empfinden, dass sich etwas bewegen sollte, der die modernistische Revolte inspirierte.

Dass damals so viele überzeugt waren, die Moderne beschere den Menschen Gutes, verdankt diese wesentlich den spektakulären Fortschritten der Wissenschaft während der letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts. Die biologischen Entdeckungen des britischen Forschers Charles DarwinDarwin, Charles boten eine rationale Erklärung des Ursprungs der Arten, die dem religiösen Schöpfungsmythos widersprach. Die dem franko-polnischen Forscherpaar PierreCurie, Pierre und Marie CurieCurie, Marie zuzuschreibenden Fortschritte der Physik öffneten die Tür zum Phänomen der Radioaktivität, während der deutsche Erfinder Werner von SiemensSiemens, Werner von Möglichkeiten fand, die Kraft der Elektrizität zu nutzen und kontrolliert weiterzuleiten. Zur gleichen Zeit bestätigten die Untersuchungen des französischen Biologen Louis PasteurPasteur, Louis und des deutschen Mediziners Robert KochKoch, Robert die Existenz und Wirkungsweise von Bakterien, sodass nun Krankheiten behandelt werden konnten, die zuvor als unheilbar galten. Und die Beobachtungen des österreichischen Psychiaters Sigmund FreudFreud, Sigmund zum neurotischen Verhalten seiner Patienten gaben einen Einblick in das Reich des Unbewussten, aufgrund dessen sich psychische Störungen besser in den Griff bekommen ließen. Die Liste der Durchbrüche könnte man in viele Richtungen erweitern, etwa um die Experimente in den chemischen Labors, die uns beispielsweise das Aspirin beschert haben.2

Auch technische Erfindungen trugen zum Fortschrittsbewusstsein bei, denn sie veränderten das Alltagsleben tiefgreifend. Der Bau städtischer Kanalsysteme ließ den flüssigen Unrat aus den Straßen verschwinden, und die Versorgung der Haushalte mit sauberem Wasser verbesserte die Volksgesundheit. Stromnetze brachten Licht in Wohnungen und Läden, beendeten die Tyrannei der Nacht und änderten den Schlaf-Wach-Rhythmus in den Metropolen. Telefonverbindungen ermöglichten Kommunikation über weite Strecken, selbst wenn gewaltige Distanzen die Gesprächspartner trennten – sie konnten miteinander in persönlichen Kontakt treten und Geschäfte tätigen. Schienen wurden verlegt und Tunnel gegraben; so war man dank Straßenbahn und U-Bahn in den boomenden Städten mobil. Eisenbahnlinien verbanden immer weiter voneinander entfernte Orte und verkürzten die Reisezeiten. Die Erfindungen Fahrrad und Auto sicherten die individuelle Beweglichkeit und schufen ein neues Bewusstsein für Geschwindigkeit.3 Indem sie uralte Einschränkungen zu überwinden halfen, beschleunigten solche technischen Entwicklungen die Zeit und ließen Entfernungen schrumpfen. Diese innige Verschmelzung der Moderne mit Mobilität und Schnelligkeit verlangte geradezu nach neuen Formen kulturellen Ausdrucks jenseits des Kanons der Tradition.

Ein Zeichen der Revolte waren die »Sezessionen«, programmatische Abspaltungen einzelner Künstlergruppen vom gerade tonangebenden Kunstbetrieb. Viele Maler wollten mit der Konvention der gegenständlichen Darstellung brechen und Farben und Linien freies Spiel gewähren. Als die Jury der PariserParis Kunstakademie 1863 impressionistische Gemälde ablehnte, arrangierte Edouard ManetManet, Edouard eine unabhängige Parallelausstellung, den »Salon des Réfusés« (»Salon der Abgelehnten«), der Leinwände zeigte, auf denen sich lauter Lichtpunkte tummelten. In den Jahrzehnten danach organisierten auch der Bildhauer Auguste RodinRodin, Auguste und der Maler Pierre-Auguste RenoirRenoir, Pierre-Auguste unabhängige Ausstellungen für innovative Werke und umgingen so die Kontrolle des Kunstmarkts durch konservative Akademiemitglieder. Die Experimente der Fauvisten mit kühner Farbgebung wurden ebenso gefördert wie die der Kubisten, die sich in die abstrakte Linienführung vorwagten. Schon bald präsentierte die autonom veranstaltete Werkschaureihe Maler, die traditionelle Vorstellungen von Schönheit bewusst überschritten, etwa Henri MatisseMatisse, Henri, Paul CézanneCézanne, Paul und Paul GauguinGauguin, Paul. 1897 sezessionierten in ähnlicher Weise die WienerWien Künstler Gustav KlimtKlimt, Gustav und Otto WagnerWagner, Otto aus der österreichischen Kunstakademie und proklamierten: »Der Zeit ihre Kunst – der Kunst ihre Freiheit«. Diese Forderung vertrat auch ihr BerlinerBerlin Kollege Max LiebermannLiebermann, Max, und so griff die Rebellion der Maler auf die deutsche Hauptstadt über. Dort bahnte sie der Eruption des Expressionismus den Weg, jener Richtung, die man eine Zeitlang schlicht »Moderne Kunst« nannte.4

Dass sich die Komponisten von der Harmonie abwandten, wodurch die schrillen Dissonanzen und die hektischen Rhythmen des Großstadtlebens Eingang in die Konzertsäle fanden, war ein weiterer Indikator des Modernismus. Richard StraussBerlin, Vertreter einer überreifen Spätromantik, dehnte zwar das tonale Vokabular erheblich aus, doch der immer wieder hervorblitzende Humor und die unerwarteten harmonischen Auflösungen wussten das Publikum zu bezaubern. Ähnlich erschienen in Gustav MahlersMahler, Gustav schier endlosen Sinfonien die bedrohlichen dissonanten Crescendi ausgeglichen durch die Gefälligkeit volksliedhafter Melodik. Hingegen ließ Claude DebussyDebussy, Claude bei seinen Experimenten zur fein abgestuften musikalischen Nachzeichnung von Stimmungen und fluktuierenden Impressionen den Kanon der klassischen Formen oft hinter sich. Arnold SchönbergSchönberg, Arnold schließlich warf die Zwänge der Tonalität vollständig ab und wagte sich ins Offene vor, um »einen bunten ununterbrochenen Wechsel von Farben, Rhythmen und Stimmungen« zu erzeugen. Derlei Innovationen aber schockierten die Zuhörer, die gefälligere sinfonische Stile gewohnt waren. Durch seine mutigen Experimente mit der Atonalität lockte Schönberg zwar ergebene Schüler wie Anton WebernWebern, Anton und Alban BergBerg, Alban an, aber der intellektualistische Charakter dieser »modernen Musik« befremdete viele Konzertbesucher doch sehr; Attraktion vermochte sie nur auf einen kleinen Zirkel Eingeweihter auszuüben.5

Gegen bürgerliche Ordnung und Respektabilität rebellieren konnte man auch durch das Schreiben und Inszenieren von Dramen mit sozialer und psychologischer Thematik. In realistischen Stücken wie Nora. Ein Puppenheim und Hedda Gabler kritisierte der Norweger Henrik IbsenIbsen, Henrik die Familien der Mittelschicht, indem er die desaströsen Konsequenzen vorführte, die sich aus patriarchaler Dominanz ergeben konnten. Namentlich ging es ihm um die gesellschaftlichen Normen, die die Frau zur Häuslichkeit zwangen, dem Mann aber sexuelle Freizügigkeit gewährten. Heiterer kamen die Stücke des Iren George Bernard ShawShaw, George Bernard daher. Shaw, Schriftsteller und Mitbegründer der sozialistischen Intellektuellenbewegung Fabian Society, legte die verhängnisvollen Auswirkungen des britischen Klassensystems offen und gab es der Lächerlichkeit preis, indem er aufzeigte, wie viel Heuchelei ihm innewohnte. Er verfasste zu diesem Sujet eine ganze Reihe von Komödien, die viel Beifall ernteten, darunter Helden (original Arms and the Men) und Pygmalion. Mit ähnlicher Intention, aber in einer drastischen naturalistischen Sprache demonstrierte der deutsche Autor Gerhart HauptmannHauptmann, Gerhart die Herzlosigkeit des kapitalistischen Systems in seinem anklagenden Stück Die Weber, das den hoffnungslosen Widerstand der schlesischen Handwerker gegen die Konkurrenz der industriellen Fertigung auf die Bühne brachte.6 Während ShawsShaw, George Bernard Texte Vorurteile durch Ironie lächerlich machten, gingen IbsenIbsen, Henrik und HauptmannHauptmann, Gerhart ernster zu Werke. Sie griffen bürgerliche Empfindlichkeiten frontal an, wobei naturalistisches Drama und skandalträchtige Provokationen eine Einheit bildeten.

Etwas weniger lautstark suchten auch die Romanautoren, der Tradition zu entkommen, in diesem Fall den Erzählkonventionen. Den Bruch vollführten sie, indem sie über Tabuthemen schrieben und das subjektive Bewusstsein erkundeten. In Deutschland handelte sich der sozialkritische Schriftsteller Heinrich MannMann, Heinrich mit einer Satire auf die Arroganz des wilhelminischen Bürgertums, dem Roman Professor Unrat, Ärger mit der Zensur ein; nach dem Buch entstand später ein berühmter Film, Der blaue Engel mit Marlene DietrichDietrich, Marlene. In Frankreich mühte sich der hochproduktive André GideGide, André, gegen moralistische Zwänge vorzugehen. In Romanen wie Der Immoralist erkundete er seine eigene Homosexualität, zu der er sich wagemutig bekannte – genau jene »schwere Unzucht« hatte den britischen Dramatiker Oscar WildeWilde, Oscar in den Kerker gebracht. In Österreich experimentierte Arthur SchnitzlerSchnitzler, Arthur mit dem Erzählmodus des »Bewusstseinsstroms«; so zeichnet er in seiner Prosa psychische Störungen nach, die seinerzeit viele Wiener in den Selbstmord trieben. In England ergründete der Schriftsteller und Autodidakt D. H. LawrenceLawrence, D. H. die durch die menschliche Sexualität aufgewühlten Leidenschaften, und dies so unverhohlen und ungehemmt, dass viele Kritiker Romane wie Söhne und Liebhaber als Pornografie verrissen. In Abkehr von einem auf Äußerlichkeiten beschränkten Realismus überschritt »moderne Literatur« dieser Art die Grenzen, die das Ziel moralischer Erbauung dem Schreiben zog, legte die sozialen Probleme hinter den Erscheinungen offen und lotete die Tiefen der Psyche aus.7

Der produktive Künstler Pablo PicassoPicasso, Pablo kann als Beispiel dienen für die vielen Innovationen, welche die Kunstrevolte brachte, aber auch für einige ihrer Schattenseiten. Geboren 1881 in MálagaMálaga, wuchs das Wunderkind Pablo in BarcelonaBarcelona auf, wo er bald ein versierter Zeichner wurde. Seine frühen Gemälde der blauen und rosa Periode benutzten noch die Techniken des Gegenständlichen und übersteigerten nur Farbe und Linie, um einen eindringlicheren ästhetischen Reiz zu erzeugen. In ParisParis beteiligte Picasso sich aber dann an den Experimenten der Avantgarde, indem er sich mehr und mehr vom Figurativ-Erkennbaren entfernte, einem freieren Spiel der Formen und Töne zuliebe. In den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wurde PicassoPicasso, Pablo, der sich zunehmend der Abstraktion annäherte, einer der Pioniere des Kubismus. Er hantierte mit gedämpften Farben und komplexen Formen in einer Weise, die über die ikonische Tradition hinausging. Man feierte ihn als Vorkämpfer der Innovation, seine Bilder verkauften sich bestens und machten ihn ziemlich reich. Dennoch wurde er Kommunist und schuf ein großes Gemälde, das die Bombardierung der Stadt GuernicaGuernica durch die Nazis während des Spanischen Bürgerkriegs anprangerte. Privat führte er ein Bohème-Leben und wechselte häufig die Ehefrauen bzw. Mätressen. Als Meister der Moderne, der die künstlerischen Ausdrucksweisen modernisierte, wurde PicassoPicasso, Pablo bewundert – aber auch geschmäht.8

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

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